Datum: 14.12.2023
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Betreff: Armut, Asyl und Klima. Was 2024 wichtig wird

Armut, Asyl und Klima: Was 2024 wichtig wird

Hallo,

nach langer “Sommerpause” melden wir uns zurück mit Upstream und blicken, bevor für viele die festlichen Tage starten, auf das Jahr zurück. Dabei schauen wir besonders auf zwei Themen, die wir 2023 und für das kommende Jahr besonders wichtig finden: Armut und Asyl.

Nicht nur für uns war der Sommer 2023 lang: Hitze und Extremwetterereignisse haben weltweit Höchstwerte erreicht. Auch darauf werfen wir einen Blick. Darüber hinaus haben wir wie gewohnt Tipps, was aktuell rund um das Thema Sozialmedizin wichtig ist.

Auch, wenn der Jahresrückblick wenig fröhlich stimmt, wünschen wir dir schöne Feiertage und einen hoffnungsvollen Start ins Jahr 2024. Ende Januar melden wir uns dann wieder!

Herzliche Grüße
Sören und Maren

Takeaways

In dieser Ausgabe findest du

  • Sozialpolitischer Jahresrückblick: Zum 1. Januar steigt das Bürgergeld. Die aktuelle Armut und Ungleichheit kann es wohl nicht ausgleichen.
  • EU-Asylsystem: Die Europäische Union reformiert ihr Asylsystem. Wird es 2023 noch einen Kompromiss geben? – Und wen betrifft “GEAS” überhaupt?
  • Grafik des Monats: Wenn die Erde sich in den kommenden Jahrzehnten um 2 °C erwärmt, hat das fatale Folgen.
  • Medientipps: Was tun, wenn der Katastrophenschutz versagt? Hält die “Abnehmspritze” Ozempic ihr Versprechen? Und welchen Einfluss hat Weihnachten auf unsere Gesundheit?
Sozialpolitischer Jahresrückblick
Armut, Obdachlosigkeit und soziale Ungleichheit in “besorgniserregendem Ausmaß” — EU-Kommissarin Dunja Mijatovic nach ihrem Besuch in Deutschland. Im Hintergrund ist ein umgekippter Einkaufswagen zu sehen.

Trotz “Fortschrittskoalition”: Immer noch nicht gerecht

Was in Deutschland in diesem Jahr unter den Weihnachtsbäumen liegt, wird vermutlich ernüchternd unterschiedlich sein. Armut und Wohlstand sind 2023 weiterhin ungleich verteilt – so ungleich, dass die bosnische EU-Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatovic nach ihrem Deutschlandbesuch Anfang Dezember von einem “besorgniserregenden Ausmaß” von Armut, Obdachlosigkeit und sozialer Ungleichheit sprach. Deutschland hat für diesen Zustand eine Mahnung vom Europarat kassiert.

Soziale Ansprüche seien keine Charity-Empfehlungen, betonte Mijatovic. Deutschland brauche mehr Maßnahmen, um für einen angemessenen Lebensstandard aller zu sorgen, und das schnell. Die Haushaltsdebatten sollten nicht dazu führen, dass Sozialleistungen gesenkt werden.

Nicht armutsfest: Wohlfahrtsverband kritisiert Bürgergeld-Erhöhung

Die Sozialleistungen zu senken, stand zuletzt tatsächlich zur Debatte: FDP und CDU forderten, das Bürgergeld nicht wie geplant anzuheben. Für den Januar sei das nicht mehr möglich, erklärte die Bundesagentur für Arbeit. Wer Bürgergeld bekommt, erhält im Januar im Schnitt rund zwölf Prozent mehr. Bundeskanzler Olaf Scholz versprach beim SPD-Parteitag im Dezember, der Sozialstaat werde trotz Haushaltskrise nicht abgebaut.

Alleinstehende Bürgergeldempfänger*innen werden ab 1. Januar 2024 also einen Regelsatz von 563 Euro erhalten – viel weniger als nötig wäre, kritisiert der Paritätische Gesamtverband. Ein Regelsatz, der die Inflation ausgleicht und wirksam vor Armut schützt, würde demnach mindestens 813 Euro betragen.

Armut macht krank, Krankheit macht arm

Armut bedeutet längst nicht nur, keine großen Geschenke unterm Weihnachtsbaum zu finden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes konnten im vergangenen Winter 5,5 Millionen Menschen in Deutschland ihre Wohnung nicht angemessen heizen, weil sie zu wenig Geld hatten.

Nicht nur eine zu kalte Wohnung kann krank machen. In diesem Interview aus unserem Archiv erklärt der Arzt Gerhard Trabert, wie Armut krank macht – und wie Krankheit wiederum das Risiko für Armut erhöht. Kinder, die in Armut aufwachsen, haben Trabert zufolge ein höheres Risiko zu erkranken als Kinder, die in wohlhabenden Familien leben. Aktuell betrifft das laut Statistischem Bundesamt bereits etwa jedes siebte Kind in Deutschland – wobei jedes vierte von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht ist.

Mehr zum Thema Armut und Gesundheit

Gemeinsames Europäisches Asylsystem

EU-Asylsystem: So verändert die Asyl-Kehrt­wende das Leben von hundert­tausenden Menschen

Noch hängt kein Plakat an den Laternenmasten für die Europawahl 2024. Doch die Wahl im kommenden Juni spielt eine entscheidende Rolle bei den Entwicklungen des “Gemeinsamen Europäischen Asylsystems”, kurz GEAS. Sollte es nicht vorher einen Kompromiss geben, droht sich der europäische Weg in der sogenannten Asylkrise als Sackgasse zu erweisen und um Jahre zu verzögern. Nichtregierungsorganisationen, wie “Pro Asyl”, kritisieren, dass wegen des hohen Drucks “Kompromisse auf Kosten der Menschenrechte” von Schutzsuchenden geschlossen werden könnten.

In Kürze: Die “GEAS”-Timeline

  • Im April 2023 hatte das Europäische Parlament in Straßburg ausstehende Gesetze für den neuen Europäischen Migrationspakt beschlossen.
  • Im Juni folgte der Beschluss des Ministerrats der Europäischen Union, im Oktober die Einigung zur EU-Krisenverordnung. Damit konnte der Trilog starten, also die Gespräche zwischen dem Rat der Europäischen Union und dem Europaparlament, unter Vermittlung der Europäischen Kommission.
  • Am 7. Dezember fand ein sogenannter Jumbo-Trilog statt. Statt alle Verordnungen wie üblich einzeln zu diskutieren, wurden sie gemeinsam verhandelt. Die nächste Verhandlungsrunde ist für den 18. Dezember angesetzt. Der spanische EU-Vorsitz hofft demnach auf einen Durchbruch noch in diesem Jahr.

Darum geht es: Menschen

Zwischen Januar und Oktober diesen Jahres hatte die EU-Asylagentur (EUAA) rund 800.000 Asylanträge in der EU, Norwegen und der Schweiz gemeldet. Die Agentur geht davon aus, dass die Zahl der Anträge bis zum Jahresende die Millionenmarke übersteigt. In Deutschland haben zwischen Januar und Ende November rund 304.581 Menschen einen Antrag auf Asyl gestellt. Die meisten Anträge stellten demnach Menschen aus Syrien, der Türkei und Afghanistan.

Laut Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind im Jahr 2023 bisher 2.510 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer nach Europa gestorben oder wurden als vermisst gemeldet. Auf der Flucht über den Landweg, zum Beispiel über die Balkanroute, wurden dieses Jahr bislang 149 Menschen als tot oder vermisst gemeldet. Soweit die offiziellen Daten, die auf Angaben von Medienberichten, Nichtregierungsorganisationen und Befragungen basieren.

Doch neben der Trauer um die Toten belastet auch die Ungewissheit viele Hinterbliebene. Mehr als 1.000 Menschen wurden nach Recherchen des Guardian in der EU im letzten Jahrzehnt begraben, bevor sie identifiziert wurden. Und das, obwohl das Europäische Parlament 2021 in einer Resolution forderte, die Menschen zu identifizieren, die auf den Migrationsrouten sterben.

Wir haben im Mai mit der Aktivistin Lina vom Verein Blindspots gesprochen. Der Verein ist an den EU-Außengrenzen aktiv und unterstützt Menschen auf der sogenannten Balkanroute in Serbien und Bosnien-Herzegowina. Lina kritisiert: “Es gibt die Tendenz, die Grenze zu externalisieren und Lager außerhalb der EU-Grenzen einzurichten. Das sehen wir extrem kritisch.”

Gemeinsames Europäisches Asylsystem:
Das wird verhandelt

  • Schnelle Verfahren an den EU-Außengrenzen sollen für Asylbewerber*innen mit geringer Chance auf Anerkennung Standard werden. Für die Menschen bedeutet das voraussichtlich lagerähnliche Zustände und eingeschränkte rechtsanwaltliche Betreuung. Offen ist, ab welcher Anerkennungsquote diese Regel greifen soll: Ab 20 Prozent, wie es der Rat fordert, oder ab zehn Prozent, wie das Parlament es gerne hätte.
  • Während der Rat nur unbegleitete Minderjährige davon ausnehmen möchte, fordert das Europäische Parlament Ausnahmen auch für Familien mit Kindern unter 12 Jahren. Ein möglicher Kompromiss könnte das Alter auf 6 Jahre festlegen.
  • Auch sogenannte sichere Drittstaaten spielen in den Verhandlungen eine wichtige Rolle. Dorthin sollen Asylbewerber*innen abgeschoben werden können. Rat und Parlament streiten sich noch über die Definition eines solchen sicheren Drittstaates.
  • Bei der Länge des Grenzverfahrens scheint es eine Einigung zu geben: Im Krisenfall soll das Verfahren von 12 auf 16 Wochen verlängert werden. Auch abgelehnte Bewerber*innen sollen unter den Voraussetzungen vor einer Abschiebung länger in Haft bleiben können.

Wahlkampfmodus auch in der Innenpolitik

2024 finden in Sachsen, Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen statt. Bundeskanzler Olaf Scholz forderte im Interview mit dem Spiegel: “Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben” und bediente damit Rhetorik von NPD und AFD (“Konsequent abschieben”, “Sozialkassen entlasten! Endlich konsequent abschieben!”).

Nachdem die Bundesregierung keine Bezahlkarte für Asylbewerber*innen einführen wollte, einigte sich im Oktober die Ministerpräsidentenkonferenz auf die Einführung eines einheitlichen Systems. Bis die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, starten Kommunen derweil Pilotprojekte für Bezahlkarten.

Ihr Ziel: die Attraktivität des Sozialstaates einschränken und mögliche Überweisungen von Sozialleistungen ins Ausland verhindern. Doch gescheiterte Projekte in der Vergangenheit zeigen, dass mit den Karten hoher bürokratischer Aufwand einhergeht. Kommunen wie Eichsfeld erwarten “keine Spareffekte”. Flüchtlingshelfer*innen kritisieren, ein Leben ohne Bargeld sei diskriminierend und stark einschränkend.

Grafik des Monats

Schlechte Aussichten fürs Klima

Das passiert laut Lancet Countdown Report 2023, wenn die Erde sich bis Mitte des Jahrhunderts um 2 °C erwärmt: Die Zahl der Hitzetoten steigt um 370 Prozent. Mehr als eine halbe Million Menschen mehr als heute sind von Nahrungsunsicherheit betroffen. Das Übertragungs-Potential von Dengue-Fieber steigt um bis zu 37 Prozent.

Das 1,5 Grad-Klimaziel zu erreichen, wird immer schwieriger. Das zeigen aktuelle Berechnungen einer Forschungsgruppe des Imperial College London. Schwierig heißt nicht unmöglich – doch auf der Weltklimakonferenz in Dubai schienen sich einige Vertreter*innen darauf einzustellen, dass es in den kommenden Jahrzehnten noch wärmer wird.

Was würde es bedeuten, auf einer Erde zu leben, die sich schon bis Mitte des Jahrhunderts um mehr als 2 °C erwärmt? Das zeigen Wissenschaftler*innen im aktuellen Lancet Countdown Report, dem jährlichen Bericht der Fachzeitschrift The Lancet über die weltweite Entwicklung von Gesundheit und Klimawandel. Spoiler: Schön wird’s nicht – und das hier ist nur eine Auswahl der Folgen.

Medientipps

Mehr zum Lesen, Hören und Ansehen

Die COP28-Gesundheitserklärung

Auf der Weltklimakonferenz COP28 wurde erstmals eine Gesundheitserklärung beschlossen. Die drei wichtigsten Punkte darin analysiert Silke Jäger für RiffReporter: ein milliardenschwerer Fonds für Projekte, die Klimaschutz und Gesundheitsschutz verbinden, die Stärkung der Resilienz von Gesundheitssystemen, also eine bessere Anpassung an die Folgen der Klimakrise und die Maximierung sogenannter Co-Benefits von Klimaschutzmaßnahmen, über verschiedene Bereiche hinweg.

Diagnose: Weihnachten

Stressiges Geschenke-Shopping, tagelanges Rumsitzen, wenig ausgewogenes Essen, aber davon viel, und während die Nummern auf den Adventskalendertürchen steigen, steigen auch die Corona-Infektionszahlen: Weihnachten trägt nicht unbedingt zur Gesundheit bei. Welche Risiken das Fest hat, haben Wissenschaftler*innen 2022 in einem Review untersucht. Beruhigend ist dagegen ein Artikel aus der Vorweihnachtszeit 2020: Warum der Weihnachtsmann höchstwahrscheinlich kein Corona-Superspreader ist.

“Rette sich, wer kann”

Der Katastrophenschutz versagt, wenn es darum geht, Menschen mit Behinderung zu schützen. Zu diesem Schluss kommen die österreichischen Journalist*innen von andererseits in ihrem Film “Rette sich, wer kann”, in dem sie der Frage nachgehen, warum bei der Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021 zwölf Menschen mit Behinderung in einem Heim ums Leben gekommen sind. Die Redaktion von andererseits ist ein Vorbild für inklusiven Journalismus und für starke Storys. Wenn du ihre Arbeit noch nicht kennst, schau sie dir unbedingt an. Oder noch besser: Lass ein Abo da, damit das Team genauso weitermachen kann.

Krankes Schulsystem

Zu viel Stress, zu hoher Druck, zu wenige Lehrer und ein starres System, das individuelle Bedürfnisse vernachlässigt: In diesem Film von STRG_F erklären Expert*innen, wie Schule krank macht. Vor allem aber kommen Schüler*innen selbst zu Wort und erklären, warum es sie belastet, zur Schule zu gehen – und welche Veränderungen sie fordern.

Die “Abnehmspritze”: Ein gefährliches Versprechen

Eigentlich ist Ozempic ein Medikament für Diabetes-Patient*innen. In den vergangenen Monaten ist es als “Abnehmspritze” zum Lifestyle-Produkt geworden. Das hat Folgen: Diabetiker*innen kommen immer schwerer an lebenswichtige Medikamente. Wer sich Ozempic privat kauft, muss dafür nicht nur immer mehr Geld ausgeben, sondern läuft auch Gefahr, an eine gefälschte Spritze zu geraten. Das kann tödlich enden. Mehr dazu siehst du in diesem Film von Panorama.
Dazu, wie die gesellschaftliche Vorstellung von einem idealen Körpergewicht die Gesundheit beeinflusst, haben wir im vergangenen Jahr eine ganze Newsletter-Reihe geschrieben. Hier findest du die Abschluss-Ausgabe.

Transparenz

Quellen

  • Berchet, C., Dedet, G., Klazinga, N., Colombo, F. (2023): Inequalities in cancer prevention and care across Europe. Lancet Oncology. 2023, Jan; 24(1):10-11. DOI: https://doi.org/10.1016/S1470-2045(22)00746-X
  • Kirsi Pauliina Kallio, Isabel Meier & Jouni Häkli (2021) Radical Hope in asylum seeking: political agency beyond linear temporality, Journal of Ethnic and Migration Studies, 47:17, 4006-4022, DOI: 10.1080/1369183X.2020.1764344
  • Regazzi, L., Lontano, A., Cadeddu, C., Di Padova, P., Rosano, A. (2023): Conspiracy beliefs, COVID-19 vaccine uptake and adherence to public health interventions during the pandemic in Europe. European Journal of Public Health, 2023. DOI: https://doi.org/10.1093/eurpub/ckad089
  • Warren, G. W., Lofstedt, R. (2022): Risk communication and COVID-19 in Europe: lessons for future public health crises, Journal of Risk Research, 25:10, 1161-1175, DOI: https://doi.org/10.1080/13669877.2021.1947874
  • Zorn, J. (2021): The Case of Ahmad Shamieh’s Campaign against Dublin Deportation: Embodiment of Political Violence and Community Care. Social Sciences, 10(5), 154. MDPI AG. DOI: http://dx.doi.org/10.3390/socsci10050154

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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