Hilfe für Geflüchtete an der Balkanroute: “Nicht nur humanitäre Erstversorgung”

Interview mit Lina vom Blindspots e.V.

Die Balkanroute führt Menschen, die vor Krieg, Verfolgung oder Elend flüchten, über die Türkei und Griechenland in mittel- und westeuropäische Länder. Ihr genauer Verlauf ändert sich immer wieder, denn die Europäische Union sichert ihre Außengrenzen mit Zäunen und Kontrollen. Viele der Flüchtenden erleben Gewalt und Pushbacks und harren nahe der Grenzen aus, oft unter widrigen Bedingungen.

Der Verein “Blindspots” will etwas an diesen Bedingungen ändern. Die Aktivist*innen aus Berlin und Leipzig sind unter anderem in Serbien und Bosnien-Herzegowina aktiv. Sie bauen Türen und Öfen in Häuser, liefern Feuerholz und dokumentieren Pushbacks. Eine der Aktivist*innen ist Lina. Sie möchte nicht, dass ihr voller Name genannt wird, weil sie Kriminalisierung fürchtet. Im Interview berichtet Lina von der Situation an Europas Außengrenzen – und warum die Arbeit von Blindspots auch politisch ist.

Upstream: Lina, was bedeutet euer Name: “Blindspots”?

Lina: Unsere Idee ist, Orte sichtbar zu machen, die nur wenig öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Wir wollen Aufmerksamkeit darauf ziehen und Kritik an den Umständen dort üben.

Wo sind diese Orte?

Lina: Wir supporten an mehreren Stellen: Im Winter in Bosnien-Herzegowina und Serbien, seit dem erneuten Kriegsbeginn auch in der Ukraine, zusammen mit Kollektiven vor Ort. Und wir haben ein Projekt im Kosovo.

Bosnien und Serbien, also an den EU-Außengrenzen. Wie ist die Situation dort?

Lina: Bosnien uns Herzegowina ist der westlichste und nördlichste Punkt der sogenannten Balkanroute. Vor 2018 war der Weg gar nicht so beliebt. Viele Menschen sind direkt über Serbien nach Ungarn gekommen. Nach dem “Sommer der Migration” 2015 gab es aber Verschärfungen. So hat sich die Route Richtung Bosnien-Herzegowina verschoben, vor allem in den nördlichsten Kanton Una-Sana. Dort ist die Strecke durch Kroatien nach Slowenien am kürzesten. Weil Kroatien aber Pushbacks durchführt, ist Una-Sana eine Art Flaschenhals geworden.

Landschaftsaufnahme aus dem Auto. Es sind kleine Dörfer zu sehen.
Blindspots ist unter anderem im Norden von Bosnien-Herzegowina aktiv. Foto: Maximilian Gödecke

Was meinst du damit?

Lina: Die Menschen überqueren die Grenze nach Kroatien, treffen auf Behörden und fragen nach Asyl. Das wird illegalerweise ignoriert, abgelehnt und die Menschen mit physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt und Folter zurück über die Grenze gedrängt. Manche von ihnen haben es in mehreren Jahren 60, 70 oder 80 Mal probiert, bis sie die Grenze überqueren konnten.

Wo leben die Menschen in all dieser Zeit?

Lina: Einige leben in staatlichen Camp-Strukturen. In Bosnien-Herzegowina gibt es derzeit ein Lager, das sogenannte Lipa Camp. Es ist 25 Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. Es gibt keinerlei Anbindung und die Versorgung ist prekär. Deswegen entscheiden sich viele Menschen, in leerstehenden Häusern zu wohnen, sogenannten Squats, statt in Camps ohne Selbstbestimmung und weit weg von der Grenze.

Ihr seid auch an der serbisch-ungarischen Grenze aktiv. Was ist dort anders?

Lina: In Bosnien-Herzegowina und Kroatien ist das Gelände uneben, es gibt Minen und Flüsse, aber Menschen können zu Fuß über die Grenze gehen. An der serbisch-ungarischen Grenze ist die Natur nicht so krass. Es ist flaches Land. Aber es gibt einen Zaun, der die ganze Grenze entlang geht, ungefähr 175 Kilometer, zwischen vier und sechs Meter hoch, zweirangig und mit Stacheldraht.

Die Grenze ist also dicht?

Lina: Nein. Dass die Grenze so geschützt ist, hat nicht den Effekt, dass weniger Menschen rüber kommen. Es treibt die Menschen einfach nur in gewalttätige und bezahlte Strukturen. Man kommt nicht mehr über den Grenzzaun, ohne Schmuggelstrukturen bezahlen zu müssen.

Wie leben die Menschen in den Squats nahe der Grenze?

Lina: Oft sind es leerstehende Orte außerhalb von Städten: halbfertig gebaute Häuser, Häuser, die zurückgelassen wurden, als der Krieg ausgebrochen ist, Baracken oder Garagen, die mal abgebrannt und eigentlich nicht mehr bewohnbar sind. In Serbien sind es häufig große, alte Bauernhöfe oder Fabrikgebäude. Ich habe mal ein Gelände gesehen, auf dem bis zu 600 Menschen gelebt haben. In Bosnien und Herzegowina sind es eher kleinere Häuser, mit 30 bis 50 Menschen.

Verlassenes Haus im Norden von Bosnien und Herzegowina
In den Squats in Bosnien-Herzegowina wohnen Lina zufolge oft etwa 30 bis 50 Menschen. Foto: Maximilian Gödecke
Es ist ein Plastikhocker in einem baufälligen Haus zu sehen. Im Hintergrund brennt ein Feuer an der Hauswand.
Die Squats, in denen die Menschen auf der Flucht Unterschlupf finden, sind oft baufällig. Foto aus Serbien: David Pirchler

Und wie sieht es in diesen Häusern aus?

Lina: Sie sind extrem baufällig. Das Dach ist undicht, es gibt keine Fenster, keine Türen, keinen Strom, kein fließendes Wasser, keine sanitären Anlagen. Viele Menschen ziehen mit Zelten ein, um einen Unterschlupf zu haben. Aber letztlich sind sie allen Wetterbedingungen ausgeliefert und haben sehr wenig Privatsphäre.

Das ist der Punkt, an dem Blindspots ansetzt?

Lina: Im Winter wird es in Una-Sana bis zu -20 Grad kalt. In den Squats gibt es keine Öfen und kein Feuerholz. Da haben wir eine Lücke im Support gesehen. Und dann damit angefangen.

Wer ist bei Blindspots aktiv?

Lina: Der Verein hat sich in der Corona-Zeit gegründet, als Initiative von Kunst- und Kulturschaffenden, die auf einmal keine Jobs mehr hatten, aber viel Kapazität und Zeit. Viele sind beim Club- und Festivalaufbau unterwegs, also handwerklich begabt. Ich bin 2021 dazu gekommen, da lief das Projekt schon eine Zeit lang. Mittlerweile sind noch mehr Leute aus unterschiedlichen politischen Bereichen dabei.

Wie sieht euer “Arbeitsalltag” an den EU-Grenzen aus?

Lina: Wir sind vor allem im Winter vor Ort. Morgens trifft sich ein Team aus fünf bis zehn Leuten und überlegt, wer zum Bauen in welchen Squat geht. Wir packen Holzsäcke. Meistens treffen wir uns abends wieder. Dann liefern wir das Feuerholz aus, damit nicht ganz so sichtbar ist, mit wie viel Holz wir durch den Ort fahren. Allerdings ist die Arbeit flexibel: Wir können jetzt nicht sagen, wie der nächste Winter wird. Auch die Tage unterscheiden sich. Manchmal ist es entspannt, man trifft Menschen, trinkt Tee, baut gemeinsam eine Tür ein. Und manchmal, wenn es eine Räumung durch die lokale Polizei gab, bei der viel zerstört wurde, kann es sein, dass man an einem Tag 15 Öfen einbaut.

Funken sprühen beim zurechtsägen eines Ofenrohres.
Die Aktivist*innen von Blindspots unterstützen Geflüchtete in den Grenzgebieten unter anderem mit Öfen und Feuerholz. Foto: Maximilian Gödecke

Wie häufig werden Squats geräumt?

Lina: In Bosnien-Herzegowina kommt es immer wieder zu Wellen. In Serbien wird regelmäßig geräumt. In diesem Winter haben dort Menschen gar nicht mehr in den Squats geschlafen, sondern in den Wäldern rundherum, weil die Polizei jede Nacht gekommen ist. Die Menschen sind nur noch tagsüber in die Squats gekommen, um zu kochen und sich aufzuwärmen.

Wie gefährlich ist das Leben an den Grenzen?

Lina: Wenn man an die EU-Außengrenzen denkt, denkt man oft an direkte Grenzgewalt, die einen Einfluss auf die Gesundheit hat. Hat sie auch. Woran man weniger denkt, sind die Umstände: Es hat einen großen Einfluss, wenn man wochen- oder monatelang in der Kälte schläft. Oder wenn man Wunden hat, die nicht richtig versorgt werden können, weil es kein sauberes Wasser gibt. Selbst kleinere Verletzungen entzünden sich viel häufiger. Menschen haben Krätze, aber keine Möglichkeit, sie loszuwerden. Dazu kommen offene Feuer und Rauch. Wenn es kein Feuerholz gibt, wird Plastik und alles Mögliche verbrannt. Gleichzeitig ist Feuer total wichtig, damit man sich etwas kochen kann. Es kommt zu Überdosierungen, weil Menschen psychisch instabil sein. Wir begegnen immer wieder auch Menschen, die sterben.

Inwiefern gibt es medizinische Hilfe?

Lina: Es gibt Organisationen, die ähnlich arbeiten wie wir, zum Beispiel Medical Volunteers International. Sie kümmern sich viel um Verletzungen durch Grenzgewalt oder durch prekäre Lebensumstände. Aber es ist nur eine Notversorgung.

Was ist, wenn jemand ins Krankenhaus muss?

Lina: Viele Krankenhäuser weisen People on the Move ab oder die Behandlung ist extrem teuer. Eigentlich sollte es in Camp-Strukturen medizinische Versorgung geben, aber häufig machen sie auch keine größeren Behandlungen. Als ich im Februar in Serbien war, haben wir von vielen Menschen gehört, die im Camp eine Ibuprofen bekommen haben. Ihnen wurde gesagt: Für den Rest musst du ins Krankenhaus. Das können sie sich aber nicht leisten. Dadurch verschleppen sie Krankheiten, die dann chronisch werden.

Warum Lina und der Verein Blindspots von “People on the Move” sprechen

Für Menschen, die migrieren oder auf der Flucht sind, gibt es unterschiedliche Bezeichnungen, erklärt Lina. “Refugees”, “Geflüchtete” oder “Asylsuchende” würden immer mit einem Status zusammenhängen und oft vor allem Kriegsgeflüchtete meinen, während auch wirtschaftliche Gründe Menschen zur Flucht zwingen. “People on the Move” oder “Menschen auf der Flucht” enthalte weniger Wertung und stelle die Menschen in den Vordergrund.

Was berichten die Menschen aus den Camps?

Lina: Sie erzählen von prekären Umständen: Viel zu viele Leute in einem Raum, sodass Menschen sich Betten teilen müssen oder auf dem Boden schlafen, hygienische Zustände, die unaushaltbar sind, schlechtes Essen und Gewalt. Sie müssen im Camp arbeiten, um überhaupt Essen oder einen Schlafplatz zu bekommen. Es gibt Essenszeiten, Arbeitszeiten, Schließzeiten. Viele Dinge, die für ein selbstbestimmtes Leben sorgen, sind nicht möglich.

Ihr dokumentiert Gewalt, die die Menschen erleben. Wie macht ihr das?

Lina: Wir sind Teil des Border Violence Monitoring Network. Auf dessen Website gibt es eine Datenbank, auf der über 25.000 Pushbacks gesammelt sind. Die Idee ist, dass viele unterschiedliche Organisationen Menschenrechtsverletzungen zusammentragen. Wir machen Interviews mit Menschen, die gepushbackt wurden. Es gibt einen detaillierten Fragebogen: Wie, wo, welche Polizei war dabei, was ist passiert? Das wird dann in die Datenbank eingespeist.

Was wird euch von den Pushbacks in Kroatien berichtet?

Lina: Der Grenzübertritt wird auch “Game” genannt. Es ist wie ein Glücksspiel. Die Menschen probieren es in kurzer Zeit sehr, sehr häufig und hoffen, dass es irgendwann klappt. Wenn sie das Spiel verlieren, werden sie wieder zurückgeschickt: Sie treffen auf Behörden und müssen ihre Papiere zeigen. Was dann passiert, ist unterschiedlich. Einige Menschen erleben krasse Foltermethoden. Oft werden ihnen alle Wertgegenstände abgenommen, sie müssen sich ausziehen und unbekleidet durch Flüsse, Wälder und Schnee zurück. Sie werden geschlagen, es gibt sexualisierte und psychische Gewalt. Muslimische Personen müssen den Koran verbrennen oder zerreißen oder ihnen werden Kreuze auf die Schädel gemalt. Menschen werden in Vans gesteckt, dann wird stundenlang die Klimaanlage auf- und wieder zugedreht. Oder sie werden durch das Gebirge gefahren, bis ihnen schlecht wird und 20 Leute in einem Van sitzen und alle erbrechen. Irgendwann, früh am Morgen, werden sie zurück an die Grenze gebracht. Sie müssen sie selber überqueren und wieder in die Squats oder Lager kommen.

Durchnässtes und verlassenes Haus von innen
“Die Vorstellung, dass unsere EU-Außengrenzen schlimmer sind als Bürgerkriegsgebiete, ist pervers und menschenunwürdig”, sagt Lina. Foto aus Serbien: David Pirchler

Wie bewertet ihr bei Blindspots das Vorgehen der EU an ihren Außengrenzen?

Es gibt die Tendenz, die Grenze zu externalisieren und Lager außerhalb der EU-Grenzen einzurichten. Das sehen wir extrem kritisch. Innerhalb der EU gibt es schon die Ungleichheit, dass die Länder an den Außengrenzen für den “Grenzschutz” verantwortlich sind und durch das Dublin-Verfahren eigentlich auch für alle Registrierungen und Asylverfahren. Die Verantwortung liegt bei Staaten, die prekärer aufgestellt sind als beispielsweise Deutschland. Der Trend geht dahin, das noch weiter nach außen in Drittstaaten zu schieben. Wenn man an den EU-Außengrenzen ist, wird einem klar, dass die Zustände dort so schlimm sein sollen, dass die Menschen sich gar nicht mehr auf den Weg machen. Die Vorstellung, dass unsere EU-Außengrenzen schlimmer sind als Bürgerkriegsgebiete, ist pervers und menschenunwürdig.

Wie geht ihr damit um?

Wir sind eine ehrenamtliche Organisation mit begrenzten Kapazitäten, aber wir versuchen, uns in die Interessenvertretung einzubringen. Wir haben auf jeden Fall einen politischen Anspruch. Es geht uns nicht nur um eine humanitäre Erstversorgung mit Öfen und Feuerholz, sondern auch darum, auf die Zustände aufmerksam zu machen und sie zu verändern.

Was würde die Zustände ändern?

Bewegungsfreiheit für alle: Es bräuchte so etwas wie humanitäre Visa und, wenn man noch weiter geht, andere Visaregelungen. Aber es ist ein Kampf gegen Windmühlen, in dem es nur kleine Lichtblicke gibt.

Wie sehen die Lichtblicke aus?

Zum Beispiel, dass Kettenabschiebungen aus Italien mittlerweile verboten sind. Wenn es nichts gäbe, das mir Hoffnung macht, würde ich wohl nicht weitermachen. Aber es gibt viele Widerstandsbewegungen und Kämpfe. Und es gibt die Momente, in denen ich Menschen in Berlin begegne, die ich zuletzt im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet gesehen habe.

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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