Datum: 01.02.2024
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Betreff: Nicht barrierefrei: Wie das Gesundheitswesen Millionen Menschen benachteiligt

Nicht barrierefrei: Wie das Gesundheitswesen Millionen Menschen benachteiligt

Hallo!

Stell dir vor, du musst zum Arzt, aber obwohl die Praxis offen ist, kommst du nicht rein. Stell dir vor, du bist krank, aber niemand erklärt dir, was das für eine Krankheit ist und wie man sie behandeln kann. Stell dir vor, du fährst für einen Zahnarztbesuch etliche Kilometer, obwohl du dich bei deiner Zahnärztin unwohl fühlst, denn nur diese Praxis ist für dich zugänglich.

Die meisten Arztpraxen und Therapieräume haben Barrieren für Menschen mit Behinderung. Wir schauen auf die Lage der Betroffenen, die Situation in den Praxen, den Streit um gesetzliche Vorgaben und einen Aktionsplan, der beim Bundesgesundheitsministerium lange nur in der Schublade lag.

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Herzliche Grüße
Maren und Sören

Takeaways

Darum geht es in dieser Ausgabe

  • Nicht barrierefrei: Weil die meisten Arztpraxen in Deutschland nicht barrierefrei sind, werden Millionen Menschen nicht optimal versorgt.
  • Grafik des Monats: Seit wann dürfen Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland mitbestimmen?
  • Was du außerdem wissen solltest: Diesmal mit den Fragen, wann medizinische Normen lebensbedrohlich werden und warum sich Politik in deine Mittagspause einmischen sollte.
Daten

Die Fakten

  • Fast 8 Millionen Menschen in Deutschland sind schwerbehindert. Laut Statistischem Bundesamt sind das 9,4 Prozent der Bevölkerung (Stand: Jahresende 2021). Die meisten Behinderungen entstehen im Laufe des Lebens, vor allem im Alter.
  • Weniger als die Hälfte der Praxen in Deutschland hat Vorkehrungen für Barrierefreiheit. Nach Angaben der Stiftung Gesundheit verfügen in Deutschland nur 87.000 von rund 179.000 ambulanten Praxen über mindestens eine.
  • Unter den Kassensitzen sind es offenbar noch weniger: Laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung haben rund 35 Prozent der Praxen im Arztregister mindestens ein Merkmal der Barrierefreiheit angegeben – also etwa ein Drittel.
  • Als barrierefrei kann dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung zufolge maximal ein Viertel der Praxen eingestuft werden.
Thema des Monats

Nicht barrierefrei: Der verbaute Weg zur Gesundheitsversorgung

Warum es ein Problem ist, wenn Arztpraxen nicht barrierefrei sind, weiß Marcus Graubner aus mehreren Perspektiven: Er verwendet selbst eine Gehstütze, ist Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbands in Deutschland (ABiD) und arbeitet im Norden Sachsen-Anhalts in einer gynäkologischen Praxis, die auch mit Rollstuhl oder Gehhilfe zugänglich ist.

Ein wichtiges Thema ist laut Graubner die Gesundheitsvorsorge: “Wenn ich selbst als Mensch mit Behinderung zwar den Willen habe, aber ich finde keine Praxis, die mich nimmt, die ich betreten kann, oder ich habe Angst davor zu fallen oder die Tür nicht auf zu kriegen – dann mache ich vielleicht wichtige Untersuchungen nicht.”

Menschen mit Behinderung sind bei der Arztwahl eingeschränkt

Gerade in der Gynäkologie, bei intimen Problemen und Untersuchungen könne es zudem einschränken, auf Assistenzen angewiesen zu sein. “Die Assistenzen brauche ich nicht, wenn ich eine barrierefreie Praxis habe”, sagt Graubner. Weil es von diesen aber so wenige gibt, sei die freie Arztwahl eingeschränkt.

Auch der Behindertenbeauftragte des Bundes, Jürgen Dusel, hatte zuletzt mehrfach betont, die fehlende Barrierefreiheit führe dazu, dass Menschen mit Behinderung oft schlechter versorgt und letztlich im Gesundheitswesen nicht gleichberechtigt seien.

Kassenärztliche Bundesvereinigung: Barrierefreiheit ist kaum möglich

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat für die Barrierefreiheit im Gesundheitswesen nach eigenen Angaben eine Liste von 83 Kriterien aus den Bereichen Mobilität, Hören, Sehen und Kognition. “Selbst großen Einrichtungen wie Kliniken oder öffentlichen Verwaltungsgebäuden ist es oft nicht möglich, all diese Kriterien der Barrierefreiheit zu erfüllen”, erklärt KBV-Sprecher Roland Stahl. Das Wort “Barrierearmut” sei deshalb treffender.

Ein Grund dafür, dass laut Arztregister der KBV fast zwei Drittel der Arztpraxen keines der 83 Kriterien erfüllen, ist Stahl zufolge, dass in manchen bestehenden Praxen keine großen Umbauten möglich sind: “Ein rollstuhlgerechter Zugang im dritten Stock im Altbau etwa kann schwierig sein.” Oder es stünden Brand- und Denkmalschutz im Weg. Zudem gebe es keine Pflicht für den Umbau – und keine finanzielle Unterstützung bei den Kosten.

Um Barrieren abzubauen, ist nicht immer ein großer Umbau nötig

Diese Hindernisse sieht auch Alexandra Köhler, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Gesundheit Fördergemeinschaft. In Städten seien neben dem großen Altbaubestand vor allem fehlende Parkplätze ein Problem. Allerdings gebe es Bereiche, auf die Ärzt*innen leichter Einfluss nehmen könnten: “seien es Untersuchungsmöbel, die höhenverstellbar sind, taktile Bodenindikatoren oder darauf zu achten: Sind die Schilder wirklich gut lesbar, auch für Menschen mit Sehbehinderung? Und gibt es die Praxis-Website in Leichter Sprache?”

Die Stiftung Gesundheit Fördergemeinschaft erhebt laut Köhler seit 2009 Daten über die Barrierefreiheit in Arztpraxen in Deutschland. Seitdem habe sich die Situation zwar verbessert, “aber da ist auf jeden Fall Luft nach oben.” Die Daten zeigen außerdem, dass die Praxen regional stark unterschiedlich ausgestattet sind: Während in manchen Landkreisen gut zwei Drittel mindestens ein Kriterium der Barrierefreiheit erfüllen, ist es in anderen nur ein Drittel. Inwiefern die regionalen Unterschiede mit bestimmten strukturellen Faktoren zusammenhängen, wurde laut Köhler allerdings nicht analysiert.

Mehr Daten findest du in dieser interaktiven Grafik.

Behindertenbeauftragter: Freiwillige Barrierefreiheit kann man gleich lassen

Damit sich an der Situation etwas ändert, gibt es aktuell vor allem Appelle und Kriterien – und Streit, ob Barrierefreiheit gesetzlich festgeschrieben werden soll. Das fordert unter anderem der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel. “Bleibt es weiter freiwillig, kann man es auch lassen”, sagte Dusel laut Bericht des Ärzteblattes im Dezember. Zusammen mit den Behindertenbeauftragten der Länder hatte Dusel im vergangenen Sommer die “Bad Nauheimer Erklärung” verfasst. Darin fordern sie unter anderem, dass Arztpraxen bei Neugründungen, Übernahmen oder Umbauten gesetzlich zu barrierefreiem Bauen verpflichtet werden. Bund und Länder sollen dafür Förderungen bereitstellen.

Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, reagierte auf die Forderung nach Gesetzen mit den Worten, sie sei “realitätsfern und atmet den Hauch des Populismus”. Dieser Standpunkt gelte weiterhin, erklärt KBV-Sprecher Stahl auf Upstream-Anfrage. Nicht der Zwang, sondern das Machbare sollte im Vordergrund stehen: “Wenn rigide Vorgaben, die nicht einzuhalten sind, dazu führen, dass Praxen schließen, ist niemandem geholfen.” Die KBV würde allerdings bundesweite Fördermittelprogramme begrüßen, um Praxen beim Umbau zu unterstützen.

Behindertenverband: Bislang keine erlebbare Veränderung

Der ABiD-Vorsitzende Marcus Graubner meint, grundsätzlich sei es besser, miteinander zu gestalten – aber wenn es gar nicht anders geht, brauche es Gesetze, die für alle gelten und Sanktionen, wenn sie nicht eingehalten werden. Beim Bauen müsse es Programme geben, die die Barrierefreiheit nicht nur vorschreiben, sondern auch fördern, erklärt Graubner, beispielsweise mit zinsgünstigen Krediten. Es sei wichtig, dass Praxen Barrieren nicht nur abbauen, weil das Gesetz es ihnen vorschreibt, sondern weil sie allen Menschen Gesundheit und Vorsorge anbieten wollen. Barrierefreiheit sei “kein Geschenk speziell für Menschen mit Behinderung”.

“Barrierefreiheit ist Bauen in die Zukunft”, sagt Graubner. Allerdings werde darüber schon seit 1990 gesprochen. “Forderungen aufstellen, Gehör finden, Gesprächsrunden, dann Aufschreiben, konkrete Planungen einreichen, dann umsetzen – dieser Prozess ist zu lang.” Papiere seien schon viele geschrieben worden. “Was wir immer noch nicht haben, ist eine für uns als Menschen mit Behinderung erlebbare Umsetzung.”

Aktionsplan für inklusives Gesundheitswesen ist in Arbeit

Ein Prozess, der länger dauert, ist die Arbeit am “Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen”, den die Bundesregierung 2021 im Koalitionsvertrag beschlossen hat. Eigentlich sollte er Ende 2022 fertig sein, der Auftakt war jedoch erst im Oktober 2023. Das lag laut Bundesgesundheitsministerium an der Pandemie und anderen wichtigen Themen, wie der Krankenhausreform.

Jetzt sei der Aktionsplan tatsächlich in Arbeit, erklärte das Ministerium. Am ersten Beteiligungsverfahren beteiligten sich demnach mehr als 100 Personen, Verbände und Organisationen mit insgesamt rund 3.000 Vorschlägen. Als nächstes seien Fachgespräche geplant. Fertig werden soll der Aktionsplan im Sommer. Dann soll er die Grundlage für konkrete Maßnahmen sein, um Ärzt*innen beim Abbau von Barrieren zu unterstützen.

Für den ABiD-Vorsitzenden Marcus Graubner sind die Pläne des Gesundheitsministeriums grundsätzlich positiv – sofern sie am Ende nicht nur auf dem Papier bleiben, sondern wirklich umgesetzt werden.

Wie barrierefrei sind Arztpraxen in deiner Stadt?

Mit der Arzt-Auskunft der Stiftung Gesundheit kannst du nach einer Arztpraxis in deiner Nähe suchen, die bestimmte Kriterien der Barrierefreiheit erfüllt. Wir haben uns probeweise die Daten für Leipzig angeschaut: Von 1.552 gelisteten Praxen hat nur etwas mehr als die Hälfte mindestens eine Vorkehrung für Barrierefreiheit.

So (wenig) barrierefrei sind Arztpraxen in Leipzig: Bei 628.718 Einwohner*innen gibt es insgesamt 1.552 Praxen. Davon haben 803 mindestens eine Vorkehrung für Barrierefreiheit. Mindestens eine Vorkehrung für einen der Bereiche haben folgende Praxen: eingeschränkte Mobilität: 677, Sehbehinderungen: 400, Hörbehinderungen: 584, kognitive Einschränkungen: 21. Quelle: Stadt Leipzig und Stiftung Gesundheit, Stand 2023.
Grafik des Monats

Seit wann dürfen Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland mitbestimmen?

Groß die Jahreszahl 2021. Darunter in klein und in rot: Jahr der ersten Bundestagswahl, an der Menschen mit geistiger Behinderung teilnehmen konnten

Die Freiheit, über die eigene Freiheit mitzuentscheiden, beispielsweise bei gesundheitspolitischen Gesetzen, scheitert nicht nur immer wieder an physischen Barrieren, sondern auch an rechtlichen. Milan Šveřepa vom Aktionsbündnis “Inclusion Europe” sagte Euractiv, auch dieses Jahr würden bei der Europawahl Menschen mit geistiger Behinderung in Bulgarien, Dänemark, Estland, Litauen, Portugal, Slowenien und Ungarn rechtlich an der Wahl gehindert. In weiteren Ländern dürfen sie sich nicht zur Wahl stellen.

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht erst 2019 entschieden, dass es verfassungswidrig ist, Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung generell von der Wahl auszuschließen. Während bei der Europawahl im selben Jahr Menschen mit geistiger Behinderung noch einen Antrag stellen mussten, um zu wählen, war die Bundestagswahl 2021 schließlich die erste überregionale Wahl in Deutschland, an der Menschen mit geistiger Behinderung regulär teilnehmen konnten. Manuela Heim hat für die taz Klaus Winkel begleitet, der über zehn Jahre dafür kämpfen musste, dass er mitbestimmen darf.

Medientipps

Was du außerdem wissen solltest

Im fünften und letzten Medientipp auf dieser Liste geht es um Suizid. Wenn du darüber lieber nichts lesen möchtest, überspringe ihn.

Lebensbedrohlich - Haben wir gefährliche Standards?

31.01.2024, ZDF, 28 Minuten

Wer als krank gilt oder gesund, entscheiden medizinisch festgelegte Standards. Dass dieses “normal” für Menschen gefährlich werden kann, deren Symptome anders ausfallen, zeigt der Fall von Shanna Moscatello aus Münster. Als Schwarze Frau entspricht sie doppelt nicht der medizinischen Normvorstellung. Wegen atypischer Symptome wäre Shanna fast an einem Herzinfarkt gestorben. Wie erlerntes Verhalten zu unterschiedlicher Symptomwahrnehmung bei Frauen und Männern beitragen kann, erklärt die Pionierin der Gendermedizin, Vera Regitz-Zagrosek. Warum das erst der Anfang einer genaueren Medizin ist, siehst du im Beitrag bei Terra Xplore.

“Pech mit Scheiße”

20.01.2024, TAZ, 4 Minuten

Sarah Lorenz leidet an PMS. Damit ist sie längst nicht die einzige. Trotzdem wird das Prämenstruelle Syndrom oft kleingeredet und viele Betroffene können gar nicht alle Symptome einordnen, die ihnen das Leben schwer machen. In ihrer taz-Kolumne “PMS-Ultras” klärt Lorenz darüber auf. Dazu gibt es jede Menge Wut und Mitleid.

Ernährungsstrategie der Ampel: Lecker Obst und Gemüse

18.01.2024, Frankfurter Rundschau, 7 Minuten

„Bis 2050 ist es für alle Menschen in Deutschland möglich und einfach, sich gut zu ernähren.“ So lautet die Vision der Bundesregierung in der Nationalen Ernährungsstrategie. Das seien ja noch ein paar Jahre, kommentiert Martin Rücker für die Frankfurter Rundschau das im Januar veröffentlichte Papier. Der ursprünglich geplante Fokus auf Ernährungsarmut kommt kaum noch vor. Warum sich die Politik überhaupt damit auseinandersetzen sollte, was wir essen, untersucht die Politikwissenschaftlerin Silvia Monetti für das Onlinemagazin Jacobin: Wer entscheidet, was wir essen? (06.11.2023, 15 Minuten)

Wie geht besser wohnen? fragt Tan Caglar

18.01.2024, MDR, 30 Minuten

Barrierefreiheit beginnt nicht erst in der Praxis, sondern mit den eigenen vier Wänden. Menschen, die nicht der Norm entsprechen, weil sie beispielsweise einen für Vermietende fremd klingenden Namen haben oder weil sie auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen sind, haben es bei der Wohnungssuche ungleich schwerer. Im Beitrag für den MDR begleitet Tan Caglar die Erfurterin Sabrina Kliesch bei ihrer Suche nach einer Wohnung und besucht das “Wohnen Inklusiv”-Haus in Regensburg.

Suizid-Content in sozialen Medien

24.01.2024, NDR, 22 Minuten

Wie sprechen wir über Suizide? Viele Medienhäuser haben in den letzten Jahren dazugelernt und berichten so, dass es Suizidalität möglichst entgegenwirkt oder sie zumindest nicht verstärkt. In sozialen Medien sieht das anders aus. Vor allem auf TikTok finden User*innen, die in einer psychischen Krise Unterstützung und Community suchen, Inhalte, die triggern können. ZAPP hat recherchiert, wie gefährlich dieser Content sein kann – und wie man damit umgehen kann.

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Fotocredits: John T und Kiwihug auf Unsplash.com

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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