Teaser für das Interview mit Lisa Kamphaus und Richard Bůžek über die Verbindung von Recht auf Stadt und Recht auf Gesundheit. Oben rechts: Im Interview. AG Kritische Stadtgeographie. Unten rechts: Lisa Kamphaus & Richard Bůžek. Links: Portrait von den beiden

Gesundheit gehört auf jeden Stadtplan

Interview mit der AG Kritische Stadtgeographie

Nicht alle Menschen haben den Zugang zu der Gesundheitsversorgung, die sie benötigen und viele leben in einer Umgebung, die krank macht. Was das Recht auf Stadt mit dem Recht auf Gesundheit verbindet und wie Menschen sich Räume (zurück-)erobern können, das erforschen Lisa Kamphaus und Richard Bůžek mit ihren Kolleg*innen in der AG Kritische Stadtgeographie an der Universität Münster. Wir haben mit ihnen über die dahinterliegenden Konzepte und den Ansatz der Kritischen Sozialepidemiologie gesprochen.

Was bedeutet “Recht auf Stadt”?

Richard Bůžek: Wir kennen “Recht auf Stadt” als Slogan, unter dem sich verschiedene Bündnisse im Kampf für soziale Gerechtigkeit in der Stadt vereinigen. Das können Kämpfe um bezahlbares Wohnen sein, für Bleiberecht, faire Arbeitsbedingungen oder gegen rassistische Diskriminierung. Daneben hat das Recht auf Stadt allerdings auch eine wissenschaftliche Verortung.

Wie wird Recht auf Stadt wissenschaftlich begriffen?

RB: Das Konzept wurde vor allem von Denker*innen wie dem französischen Philosophen und Stadtforscher Henri Lefebvre geprägt. Für ihn ist das Recht auf Stadt nicht lediglich als ein Besuchsrecht der Stadt zu verstehen, sondern als Recht auf ein sozial gerechtes städtisches Leben für alle. Dahinter steckt die Idee, dass unsere Städte reich sind an Ressourcen, an Infrastrukturen und Räumen. Durch eine kollektive Transformation könnten wir sie so verändern und uns neu aneignen, dass wir als Gesellschaft unsere Bedürfnisse decken könnten, ohne dabei bestimmte Gruppen zu benachteiligen oder auszuschließen.

In der Realität sieht das doch aber anders aus?

RB: Unsere Gesellschaft und besonders die Städte sind von enormer Ungleichheit geprägt, die aus gesellschaftlichen Verhältnissen wie Kapitalismus, Rassismus, Sexismus und kolonialen Kontinuitäten hervorgeht. Diese vermeintlich festen Strukturen sind aber eigentlich menschengemacht. Die Idee von Recht auf Stadt liegt darin, dass, wenn wir als Menschen diese Strukturen schaffen, es auch möglich ist sie zu verändern. Recht auf Stadt ist gewissermaßen eine Utopie, die durch gesellschaftliche Bewegungen erkämpft werden kann und dadurch real wird.

Wer kann denn vom Recht auf Stadt Gebrauch machen?

Lisa Kamphaus: Recht auf Stadt ist kein juristisch einklagbares Recht, aber ein Recht, das jede Person für sich einfordern kann. Prinzipiell kann es also von allen eingefordert werden. Es ist eine gesamtgesellschaftliche, solidarische Perspektive. Vor allem Menschen, die sonst aus der Stadtgestaltung und der Repräsentation der Stadt ausgeschlossen sind, können sich dazu befähigen, ihre Bedürfnisse an Städte zu artikulieren und Städte auch für sich zu nutzen und zu gestalten. So lassen sich Städte für alle verwirklichen.

Wie fordern Menschen ihr Recht ein?

RB: Recht auf Stadt wird nicht individuell eingefordert. Es kann zwar individuelle Rechte umfassen, zum Beispiel den Zugang zu bestimmten Ressourcen wie Gesundheitsversorgung, aber letztendlich ist es grundlegendes Bürger*innenrecht für alle Menschen, das eigene Leben in der Stadt so entfalten zu können, dass es ihren Bedürfnissen entspricht. Daher wird das Recht auf Stadt kollektiv erkämpft.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Recht auf Stadt und Gesundheit?

RB: Dass Zusammenhänge zwischen menschengemachten Lebensbedingungen und der Gesundheit bestehen, ist nichts Neues. Aber wir können uns ja nicht damit zufriedengeben, die sozialen Determinanten zu kennen, die uns krank machen. Wir müssen die Strukturen dahinter bearbeiten und das sind eben gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse. In Städten kommen diese krankmachenden Verhältnisse zusammen und manifestieren sich deutlich sichtbar in Ungleichheiten. Krankmachende Verhältnisse können sehr nah sein wie der Schimmel in der Wohnung oder auch ferner auf anderen Ebenen wie etwa die Regulierung von Arbeitsrechten. Die Verbindung von Gesundheit und Recht auf Stadt sehen wir darin, dass Stadtteile bereits die Orte, Begegnungsräume und Netzwerke bieten, in denen gesellschaftliche Verhältnisse von unten verändert werden, zum Beispiel in anti-rassistischen Kämpfen oder in Forderungen nach bezahlbarem und adäquatem Wohnraum für alle. Hier setzt die Kritische Sozialepidemiologie sowohl aktivistisch als auch wissenschaftlich an.

Wie sieht dieser aktivistische wissenschaftliche Ansatz aus?

RB: Die individuell erfahrenen krankmachenden Verhältnisse sollen kollektiv verändert werden, indem städtische Ressourcen und Räume von Wohnen, Arbeit oder Fürsorge sozial-gerecht für alle organisiert werden. Diese Kämpfe für ein Recht auf Stadt für alle können noch stärker mit denen für Gesundheit für alle vernetzt werden.

LK: Unsere Arbeitsgruppe untersucht Initiativen, die sich auch mit gesundheitlichen Problemlagen auseinandersetzen. Das sind zum Beispiel krankmachende Strukturen, der Ausschluss aus dem medizinischen Versorgungssystem oder die Marginalisierung bestimmter Krankheiten und Körper. Die Initiativen verhandeln die unterschiedlichen Arten der Ausgrenzung, Marginalisierung und Unsichtbarmachung, insbesondere in Bezug auf deren gesellschaftliche Ursachen. Sie geben den Menschen eine Möglichkeit, diese oftmals individuell erfahrenen Probleme und Leiden zu bewältigen. Damit machen sie diese gesellschaftlichen Problemlagen auch politisch sichtbar, um sie zu verändern.

Was ist ein praktischer Ansatz, der Recht auf Stadt und Gesundheit verbindet?

LK: Ein Beispiel, wie Menschen unterstützt und das Recht auf Stadt und Gesundheit umgesetzt werden können, sind Medinetze. Da wenden sich Menschen hin, die aus dem medizinischen Versorgungssystem ausgeschlossen sind, zum Beispiel weil sie papierlos oder aus anderen Gründen nicht krankenversichert sind. Durch diesen Ausschluss haben sie nicht die gleichen Chancen zur vollständigen Entfaltung ihres Gesundheitspotentials. Einige Medinetze haben sich politisch dafür eingesetzt, dass es einen anonymen Krankenschein gibt, durch den sich alle Menschen medizinisch versorgen lassen können.

Ihr habt schon vom Ansatz der Kritischen Sozialepidemiologie gesprochen. Was steckt dahinter?

LK: Die Kritische Sozialepidemiologie ist ein Forschungsansatz, der ursprünglich aus Lateinamerika kommt. Sie betrachtet die gesellschaftlichen und strukturellen Entstehungsbedingungen von Krankheit und möchte sie verändern. Gesundheit lässt sich nicht nur allein auf biologische Ursachen zurückführen, sondern vielmehr sind es soziale, gesellschaftliche Gegebenheiten und Gewordenheiten, die krank machen. Genau hier setzt die Kritische Sozialepidemiologie an, indem sie sich aus ethnografischer, qualitativer Perspektive und vor allem nah an den Menschen mit Gesundheit auseinandersetzt. Sie erforscht auch die komplexen Verschränkungen von ethnischer, rassistischer und sexistischer Diskriminierung und versucht, Gesundheit intersektional zu adressieren, zu kritisieren und zu ändern. Außerdem kritisiert sie die kapitalistischen Strukturen des Gesundheitswesens. Im globalen Norden ist dieser Forschungsansatz bisher allerdings kaum bis gar nicht präsent.

Was kann die Kritische Sozialepidemiologie leisten, das die Medizin allein nicht kann?

LK: Sie ist eine Betrachtungsweise von Gesundheit, die nicht nur, wie es auch die Public Health Forschung macht, an den sozialen Determinanten von Gesundheit ansetzt. Sie setzt sich außerdem mit den Prozessen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die die sozialen Determinanten bedingen und hervorbringen, auseinander.

RB: Michael Marmot hat es auf den Punkt gebracht mit der Frage: Warum die Menschen nur behandeln und sie dann wieder in die Verhältnisse zurückschicken, die sie krank machen? Genau das ist der Anspruch der Kritischen Sozialepidemiologie: Es nicht bei Symptombehandlung zu belassen, sondern die krank machenden Verhältnisse adressieren und kollektiv zu verändern.

Wo seht ihr Lücken, die von anderen Disziplinen ergänzt werden?

LK: Die klassische Medizin ist natürlich trotzdem relevant. Und natürlich ist es wichtig, Menschen mit Krankheitssymptomen zu behandeln und aus individuell präventiv zu handeln. Das wollen wir nicht kleinreden, sondern mit den Ansätzen der Kritischen Sozialepidemiologie und Gesundheit als Recht auf Stadt zeigen, welche Strukturen die Gesundheit beeinflussen, die in der klassischen Medizin nicht repräsentiert sind.

Wie können unterschiedliche Disziplinen kooperieren?

RB: Die unterschiedlichen Bereiche unseres Gesundheitssystems sind hierarchisch organisiert und dürfen zum Teil gar nicht zusammenarbeiten. Die Polikliniken haben mit ihren Stadtteilgesundheitszentren zum Beispiel das Problem, dass interprofessionelle Arbeit, die über fachärztliche Überweisungen hinausgeht, schwer ist. Das liegt am sogenannten Kooperationsverbot. Solche rechtlichen Hürden wären eigentlich einfach zu überbrücken.

LK: Vor allem für Patient*innen ist es relevant, unterschiedliche Anlaufstellen unter einem Dach zu versammeln. Es ist ein erster Schritt, einen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen, um über eine Krankheit zu sprechen. Wenn es dann aber darum geht, dass Patient*innen weitergeleitet werden, zum Beispiel an eine psychologische Beratungsstelle oder eine Fachärztin, dann können oder wollen sie oft nicht die Wege auf sich nehmen. Ihnen fehlen die zeitlichen oder finanziellen Ressourcen. Es würde Hürden senken, wenn sich die nächste Anlaufstelle in direkter Nachbarschaft, oder in einem Stadtteilgesundheitszentrum sogar im gleichen Haus befindet.

Und wie funktionieren Kooperation und Vernetzung in der Forschung?

RB: Wir haben mit einigen Gesundheitsinitiativen gesprochen, in denen sich unter anderem Medizinstudierende engagieren. Sie wünschen sich explizit, dass in ihrer Ausbildung gelehrt wird, was die gesellschaftlichen Ursachen für Krankheiten sind.

LK: Viele Ansätze aus Public Health, Sozialmedizin und Kritischer Sozialepidemiologie sind in der Medizin und vor allem in der medizinischen Lehre nicht so präsent. Wir als Geograph*innen können da nochmal eine andere Perspektive auf strukturelle Ursachen von Krankheit in der Stadt mitbringen. In Münster wurde beispielsweise vor einigen Monaten ein Kooperationsprojekt mit der Stadt Münster und dem Institut für Geographie ins Leben gerufen. Es soll gesundheitliche Chancengleichheit in unterschiedlichen Stadtteilen in Münster stärken und Gesundheit präventiv verbessern. Verschiedene Akteure und Initiativen analysieren gemeinsam mit Bürger*innen die strukturellen Problemlagen in den Vierteln. Anschließend entwickeln sie gemeinsam Maßnahmen. Dieses Projekt ist ein Beispiel, wie Gesundheit solidarisch und kooperativ in der Stadt gestaltet werden kann.

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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