In 2025 müssen wir Sozialpolitik neu denken | Upstream
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Hallo!

Für gewöhnlich blicken wir bei Upstream im Dezember auf das Jahr zurück. Bei deutschlandweiten Protesten gegen rassistische Pläne der AfD, dem Zusammenbruch der Ampelkoalition, einem Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten wegen des Vorwurfs von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder der Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten mangelt es nicht an Themen, die 2024 wichtig waren und die uns nächstes Jahr weiter umtreiben werden. 

Bei der Diskussion zu dieser Ausgabe haben wir festgestellt, dass in den vergangenen Jahren für uns neben den Themen Klima, Migration und Corona eines konstant präsent war: Armut. So schauen wir auch diesmal in der Grafik des Monats darauf wie ungleiche Einkommen die Gesundheit beeinflussen.

Zu Weihnachten streiten wir über Politik

Der Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, wie Armut auf das Leben von immer mehr Menschen wirkt. Für Freizeitbeschäftigungen fehlt demnach mehr als jedem*r sechsten Menschen in Armut das Geld, für Kleidung fast jedem*r Zehnten.

Demgegenüber stehen eine FDP, die in ihrem koalitionssprengenden “Wirtschaftswende”-Papier forderte, die “über dem Bedarf” liegenden Bürgergeldsätze zu senken. Friedrich Merz bezeichnete das Bürgergeld kürzlich als eine Art bedingungsloses Grundeinkommen – und plant, es abzuschaffen. Stattdessen fordert er eine “Neue Grundsicherung”, die dem Konzept der CDU zufolge nicht allen einfach zustehen soll. SPD und die Grünen teilen diese Position nicht, aber der namensgebende Fortschritt in der Sozialpolitik der “Fortschrittskoalition” ist auch unter ihnen ausgeblieben. 

Währenddessen versuchen zehntausende Freiwillige im Rahmen der “neuen Mitleidsökonomie”, also den maßgeblich ehrenamtlich betriebenen Tafeln und Sozialkaufhäusern, den sozialen Frieden zu wahren. Dabei bekämpfen sie in erster Linie die Symptome eines Systems, was sie im Rahmen ihres Engagements aufrechterhalten.

Wir meinen: Wenn fast jede*r Fünfte in der armen Einkommensgruppe 2023 angab, bei der nächsten Bundestagswahl nicht wählen zu wollen und der Bundestag immer akademischer wird, müssen wir uns nicht nur fragen, wie wir Sozialpolitik im kommenden Jahr denken wollen – sondern auch, wer an dieser Diskussion teil hat.

Viel Spaß beim Lesen wünschen dir
Maren und Sören

P.S.: Im Dezember schicken wir euch noch eine Ausgabe, die Hoffnung macht. Maren hat recherchiert, wie sich Gesundheitskollektive dafür einsetzen, Gesundheit besser zu organisieren – und ob ihnen das auch gelingt. Wenn ihr unsere Arbeit auch im neuen Jahr unterstützen wollt, könnt ihr uns mit einer Mitgliedschaft supporten. Wir würden uns freuen.

Grafik des Monats

So ungleich ist Gesundheit in Deutschland

Im November ist der Sozialbericht 2024 erschienen, ein gemeinsamer Bericht des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, des Wissenschaftzentrums Berlin für Sozialforschung und des Statistischen Bundesamtes. Darin stellen Wissenschaftler*innen anhand von Daten aus der Studie “Gesundheit in Deutschland aktuell” den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Gesundheit dar.

Dabei wurden die Teilnehmenden fünf Einkommensgruppen zugeordnet: Die niedrigste Einkommensgruppe hatte ein Einkommen unter 60 Prozent des Medianeinkommens, die höchste Einkommensgruppe mehr als 150 Prozent des Medianeinkommens.

Die Daten zeigen, dass Männer in der niedrigsten Einkommensgruppe durchschnittlich eine achteinhalb Jahre geringere Lebenserwartung haben als Männer in der höchsten Einkommensgruppe. Oder dass Frauen in der niedrigsten Einkommensgruppe innerhalb von 12 Monaten eine 3,2 fach höhere Wahrscheinlichkeit haben, an Diabetes mellitus zu erkranken, als Frauen in der höchsten Einkommensgruppe.

Die Daten sind teils schon einige Jahre alt und den Forschenden zufolge in Deutschland spärlicher erfasst als in vergleichbaren Ländern. Doch schon die vorliegenden Daten zeigen, wie eng Armut, Ungleichheit und Gesundheit in zusammenhängen:

Daten aus dem Sozialbericht 2024. Sie zeigen die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen und Männern in unterschiedlichen Einkommensgruppen. Die Frauen der höchsten Einkommensgruppe (mehr als 150 % des Medianeinkommens) haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 82,8 Jahren, im Vergleich zur niedrigsten Einkommensgruppe (weniger als 60 % des Medianeinkommens) mit 78,4 Jahren. Die Männer der höchsten Einkommensgruppe haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von  79,6 Jahren, im Vergleich zu den Männern aus der niedrigsten Einkommensgruppe mit 71 Jahren.
Die Grafik zeigt die Wahrscheinlichkeit der niedrigsten Einkommensgruppe an bestimmten Krankheiten zu erkranken im Vergleich zur höchsten Einkommensgruppe. Bei der koronaren Herzkrankheit ist die Wahrscheinlichkeit innerhalb von 12 Monaten daran zu erkranken 2,3 fach höher bei der niedrigsten Einkommensgruppe, unabhängig vom Geschlecht. Bei Diabetes mellitus ist es bei den Frauen der niedrigsten Einkommensgruppe ein 3,2 faches Risiko und bei den Männern 1,9 fach erhöht. Bei Depression ist das Risiko der Frauen aus der niedrigsten Gruppe 2,9 fach höher als bei den Frauen aus der höchsten Einkommensgruppe. Bei den Männern ist das Risiko 4,2 fach erhöht.
Die Grafik zeigt, dass 8 von 100 Frauen aus der höchsten Einkommensgruppe vor ihrem 65 Lebensjahr sterben.
Die Grafik zeigt, dass 13 von 100 Frauen aus der niedrigsten Einkommensgruppe vor ihrem 65 Lebensjahr sterben.
Die Grafik zeigt, dass 14 von 100 Männern aus der höchsten Einkommensgruppe vor ihrem 65 Lebensjahr sterben.
Die Grafik zeigt, dass 27 von 100 Männern aus der niedrigsten Einkommensgruppe vor ihrem 65 Lebensjahr sterben.

Mehr zum Thema gesundheitliche Ungleichheit

Bei Upstream haben wir uns mehrfach mit gesundheitlicher Ungleichheit beschäftigt. Drei Empfehlungen findest du hier:

Medientipps

Was du sonst noch wissen solltest

Geschlechtergerechtigkeit auf der Weltklimakonferenz

23.11.2024, Yasmin Appelhans/Deutschlandfunk, 3 Minuten

Frauen und Kinder haben ein 14 mal höheres Risiko als Männer, bei Klimakatastrophen zu sterben. Das zeigen Studien der UN. Demnach sind weltweit vier von fünf Menschen, die die Klimakrise aus ihrer Heimat verdrängt, Frauen oder Mädchen. Dennoch haben unter anderem Saudi-Arabien, Russland und der Vatikan auf der Weltklimakonferenz Einspruch gegen einen Text zu Geschlechtergerechtigkeit eingelegt. Mehr dazu findest du auch auf Instagram.

Die Klimakrise hat gravierende Folgen für das Leben und die Gesundheit – vor allem auch von armen Menschen. Darüber haben wir im November bei Upstream berichtet.

"Der Norden Gazas gleicht einem dystopischen Horrorfilm"

16.11.2024, Anna-Theresa Bachmann/Die Zeit, 9 Minuten

Jan Egeland, ehemaliger Diplomat und Chef der norwegischen Hilfsorganisation NRC, hat den Gazastreifen besucht. Im Interview mit Anna-Theresa Bachmann erklärt er, wie die Lage für die Menschen vor Ort und die Arbeit der Hilfsorganisationen aussieht: verheerend.

Tödliche Wartezeit für Kassenpatient*innen

13.11.2024, Mira Barthelmann/BR Kontrovers, 7 Minuten

Pia Meyer-Schunk bekommt im Sommer 2023 die Diagnose Brustkrebs. Sie versucht sofort, eine Therapie zu beginnen. Doch darauf muss sie monatelang warten, weil sie Kassenpatientin ist. Als sie die ersten Behandlungen bekommt, hat sie bereits Metastasen in der Leber. Heute ist sie unheilbar krank. Einen kurzfristigen Termin bekommt in vielen Praxen nur, wer privat versichert ist oder aus eigener Tasche zahlen kann.

Warum Essen im Krankenhaus oft so schlecht ist

29.11.2024, Uta Georgi/MDR AKTUELL, 3 Minuten

Es schmeckt nicht und hilft kaum, gesund zu werden: Krankenhausessen steht längst nicht mehr nur bei Patient*innen in der Kritik. Dass Geschmack und Nährstoffe oft zu wünschen übrig lassen, liegt daran, dass Krankenhäuser durch Fallpauschalen nur wenig Geld dafür haben.

Unterrichtsfach: Glück

15.11.2024, Frauke Hunfeld/DER SPIEGEL (€), 6 Minuten

Kinder und Jugendliche sollten in der Schule die Kompetenz Glück erlernen. Das fordert der LandesSchülerRat Sachsen, mit dessen Vorsitzender wir im August über Gesundheit an Schulen gesprochen haben. Ein Gymnasium in Radebeul bei Dresden hat das Fach “Glück” tatsächlich eingeführt. In der fünften Klasse beschäftigen sich Schüler*innen einmal pro Woche damit, was sie glücklich macht und wie sie Sorgen und Probleme bewältigen. Glückslehrerin Julia Lissel meint: Das brauchen die Kinder heute dringender als noch vor 15 Jahren.

Daten zeigen, wo Suchtprävention nötig ist

14.11.2024, Sina van Vorst/NDR, 7 Minuten

Mit gerade mal rund 30.000 Einwohner*innen hat die Stadt Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern mehr Kokainrückstände im Abwasser als die Großstadt München. Das zeigt ein Screening, das Wissenschaftler*innen der TU Dresden in diesem Jahr durchgeführt haben. Auch darüber, welche weiteren Drogen in MV konsumiert werden, gibt die Analyse Aufschluss. 2023 gab es sie zum ersten Mal – mit dem Ergebnis, dass das Land rund 280.000 Euro mehr als geplant für Suchtprävention bereitgestellt hat.

Rauschtrinken nimmt wieder zu

04.11.2024, ZDF, 4 Minuten

Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland trinken wieder häufiger exzessiv Alkohol. Das zeigen aktuelle Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Erst im Oktober hatten wir berichtet, dass der Alkoholkonsum unter jungen Menschen in den vergangenen rund 20 Jahren deutlich zurückgegangen ist. Das stimmt nur noch teilweise: Regelmäßige Trinker*innen gibt es unter den 18- bis 25-Jährigen so wenige wie noch nie. Dass sie im vergangenen Monat deutlich über den Durst getrunken hatten, berichteten in der BZgA-Umfrage allerdings fast die Hälfte der jungen Männer und knapp ein Drittel der jungen Frauen.

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum haben wir in dieser Ausgabe alle Quellen direkt im Text verlinkt. Auf der Website findest du unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen