“Wir behandeln Menschen nicht gegen ihren Willen. Warum dann bei Adipositas?” | Upstream
Abonnieren

“Wir behandeln Menschen nicht gegen ihren Willen. Warum dann bei Adipositas?”

Wie bedroht Gewichtsstigma dicke Menschen? Welche Rolle spielen Medizin, Krankenkassen und Politik? Und wie können Ärzt*innen und Pfleger*innen Stigmatisierungen wegen des Gewichts reduzieren? Das haben wir Claudia Luck-Sikorski gefragt.

Interview mit Claudia Luck-Sikorski

Hohes Gewicht kann ein Krankheitsrisiko sein – ebenso wie Gewichtsdiskriminierung. Wie gelingt es Ärzt*innen, Menschen bestmöglich und respektvoll zu behandeln? Das haben wir Claudia Luck-Sikorski gefragt. Sie ist Professorin für Psychotherapie an der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera und hat am Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum Adipositaskrankheiten (IFB) in Leipzig geforscht. Seit mehr als einem Jahrzehnt setzt sie sich wissenschaftlich mit den Themen Gewicht, Gewichtsdiskriminierung, Stigmatisierung und deren psychische Folgen für Betroffene auseinander.

Upstream: Adipositas wird anhand des Body Mass Index (BMI) gemessen. In unseren Recherchen sind wir immer wieder auf Kritik am BMI gestoßen. Warum wird er dennoch so oft verwendet?

Claudia Luck-Sikorski: Der BMI ist gerade für epidemiologische Studien einfach zu messen: Körpergröße, Körpergewicht, Zack, Fertig. Außerdem ist er valide. Ich weiß, dass sich viele Patient*innenkreise, dafür aussprechen, nicht mehr auf so eine Zahl wie den BMI zu schauen. Wenn ich aber Gruppen untersuche und wissen will, wie häufig Adipositas vorkommt, kann ich den BMI nehmen. Die wenigen Personen, die dadurch falsch klassifiziert sind, fallen bei großen Studien nicht ins Gewicht. Und selbst wenn ich in die Einzeldiagnostik gehe, ist der BMI ein erster guter Indikator.

Aber über die Gesundheit einer einzelnen Person sagt der BMI kaum etwas aus.

Luck-Sikorski: Das stimmt. Der BMI an sich macht nicht krank. Es gibt gesunde Menschen mit einem BMI über 30. Ab einem BMI von 35 zeigt die Studienlage allerdings relativ klar, dass das Begleitrisiko von anderen Erkrankungen steigt. Trotzdem muss man nicht automatisiert irgendwas behandeln, wenn der*die Patient*in gar nicht Patient*in sein will. Das Gesundheitssystem lässt ja auch zu, dass wir rauchen. Alkohol trinken wir eh alle zu viel. Wir sollten nicht bestimmen, wer behandelt wird. Das sollten die Patient*innen selber bestimmen. Aus psychologischer Sicht ist entscheidend, wie hoch der Leidensdruck ist.

Gibt es bessere Maße als den BMI, die etabliert sind?

Luck-Sikorski: Eigentlich nicht. In der Praxis wird wenig zusätzlich umgesetzt. Man kann über Taillen- und Hüftumfang versuchen das Risiko für Erkrankungen zu messen, aber da ist die Umsetzung der Messung von Bauchumfang u.ä. ein praktisches Problem. Es gibt diese bioelektrische Impedanzanalyse-Messungen, mit denen misst man die Körperzusammensetzung. Da gehen Sie auf die Waage und dann werden Dinge wie Fettmasse oder Wasserhaushalt im Körper bestimmt.

Damit misst man aber auch noch nicht den Zusammenhang von Gesundheit und dem Körpergewicht.

Luck-Sikorski: Richtig. Das sind Indikatoren. Alternativ gibt es Staging-Systeme, zum Beispiel das “Edmonton Staging System”. Anhand des BMI prüft man verschiedene Bereiche auf Beeinträchtigungen durch das Gewicht: Mobilität, psychische Gesundheit, Schlaf und Sexualität zum Beispiel. Am Ende steht ein Score, der sagt, der*die Patient ist wenig, mittel oder viel beeinträchtigt. In die klinische Praxis hat das bisher jedoch wenig Eingang gefunden.

Wie sind Sie dazu gekommen, zu Stigmatisierung und Adipositas zu forschen?

Luck-Sikorski: Ich bin 2010 als Doktorandin am Institut gelandet. Zeitgleich wurde eine Kollegin schwanger und es kam ein Drittmittelprojekt herein: Stigmatisierung von Adipositas. Zuerst dachte ich: “Was soll es da drei Jahre zu erforschen geben? Dicke Menschen essen zu viel und bewegen sich zu wenig. Ist doch logisch.” Nach zwei Wochen habe ich festgestellt: Diese einfache Gleichung ist falsch.

Was ist daran falsch?

Luck-Sikorski: Es ist viel komplizierter. Und: die Schuldzuschreibung bei Adipositas ist so essentiell, dass man sich argumentativ nur behaupten kann, wenn man die vielen Facetten der Adipositas kennt. Seitdem ist das Thema eine Langzeitliebe und ich finde es spannend zu beobachten, wo sich die Forschung hin bewegt. Ein Stück weit das Scheitern zu beobachten. Denn es geht nicht gut voran, egal in welchem Bereich – Therapie, Intervention, Prävention.

Welche Facetten sind das zum Beispiel?

Luck-Sikorski: Eine nicht zu vernachlässigende Komponente ist das Thema Genetik. Aus dicken Kindern werden überproportional oft dicke Erwachsene. Das erzeugt einen Kreislauf, der sich transgenerational fortsetzt und vor allem Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status betrifft. Menschen mit Adipositas sind zudem selbst nicht frei von Vorurteilen. Immer wieder höre ich: „Ich bin schuld. Ich pack das nicht. Ich habe wieder versagt.“ Das tut weh, zu hören und schadet den Betroffenen.

Wie trägt Stigmatisierung zum Gesundheitsrisiko dicker Menschen bei?

Luck-Sikorski: Früher dachte man, wenn man einen Menschen stigmatisiert, fühlt er sich so motiviert, dass er sich besonders anstrengt. Das hat man aus vom Rauchen entlehnt. In den letzten Jahrzehnten haben sich Studien gemehrt, die zeigen: Das Gegenteil ist der Fall. Wir sehen, dass gewichtsbedingte Stigmatisierung ein chronischer Stressor sein kann. Und chronischer Stress macht krank. Er sorgt dafür, dass Menschen sich schlechter ernähren, weniger bewegen, höhere Cortisolspiegel haben und weniger gut schlafen.

Setzen sich die Vorurteile bis in die Medizin fort?

Luck-Sikorski: Ja, auch im ärztlichen Gesundheitssetting, sehen wir noch immer die Annahme, jemand mit Übergewicht sei selbst daran schuld. Das überrascht nicht: Adipositas kommt in der Mediziner*innen-Ausbildung nicht als eigenständiges Krankheitsbild vor, sondern nur als Risikofaktor für andere Krankheiten. Und leider lockt das Thema bei Weiterbildungen Kolleg*innen eher selten hinterm Ofen hervor. Das hat auch mit Frust zu tun. Wir sind mit einem Gesundheitssystem konfrontiert, das Adipositas zwar mittlerweile als Krankheit klassifiziert, aber kein Behandlungsangebot macht. Darum verstehe ich internistisch und klinisch tätige Kolleg*innen, die Frust haben, weil sie nichts für den Patienten machen dürfen und können. Häufig bleibt ihnen nur, zu sagen: Nehmen sie mal ab.

Inwiefern trägt die Einstufung von Adipositas als Krankheit selbst zum Stigma bei?

Luck-Sikorski: Das ist so. Darum diskutieren sowohl die Gemeinschaft der Menschen mit Adipositas als auch Wissenschaftler*innen das kritisch. Ich persönlich sehe die Pathologisierung pragmatisch aus der Perspektive der Versorgungsrealität: Ja, man pathologisiert. Gleichzeitig eröffnet man die Möglichkeit, überhaupt eine Behandlung zu bekommen. Der Status quo in Deutschland ist an dieser Stelle desaströs. Wir bekommen nicht mal ordentliche Präventionsangebote hin. Aber für viele Menschen fühlt sich sehr starkes Übergewicht an wie eine Erkrankung, teilweise wie eine Behinderung.

Eine kleine Gruppe, auch der Betroffenen, sagt: Wir brauchen Behinderten-rechtlichen Schutz. Wie bewerten Sie das?

Luck-Sikorski: Bei Personen mit sehr starkem Übergewicht und starken Beeinträchtigungen, muss man das so bewerten. Das heißt nicht, dass wir alle sofort behandeln müssen. Aber Betroffene sollten Zugang zu einer Behandlung bekommen und im Zweifelsfall auch bestimmten arbeitsrechtlichen Schutz. Vor acht Jahren hat ein dänischer Pädagoge vor dem Europäischen Gerichtshof Recht bekommen. Ihm wurde in einem Kindergarten gekündigt. Die Richter*innen sagten, unter bestimmten Umständen ist ein starkes Übergewicht ein Grund, weshalb besondere Schutzmaßnahmen im Sinne der Diskriminierungsvermeidung gelten müssen.

Sie haben zu der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung von Adipositas als Krankheit und als Behinderung geforscht. Was haben Sie herausgefunden?

Luck-Sikorski: Insbesondere Menschen mit höherem Gewicht, die diskriminiert werden, wünschen sich einen Schutz durch das Behindertenrecht. Bisher ist Gewicht jedoch kein gesetzlich festgeschriebener Schutzgrund. Immer wieder zeigen Studien, dass diesen Menschen Arbeitsmarktchancen verwehrt werden. Das beginnt mit dem Bild auf der Bewerbung und geht weiter mit arbeitsrechtlichen Schutzmaßnahmen. Es gibt Menschen mit Adipositas, für die ein besonderer Schutz essentiell ist, um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben weiter zu ermöglichen. Um eben rauszukommen aus dieser Ungleichheitsschleife. Gerade bei Frauen mit Adipositas sehen wir einen deutlichen sozialen Gradienten.

Wir haben gerade schon über die Situation in Artzpraxen gesprochen. Wie ist die Lage in der Pflege?

Luck-Sikorski: Unserer Forschung zeigt, dass es eine gewisse Hemmschwelle gibt, sich mit adipösen Patient*innen auseinanderzusetzen. Unter Umständen bedeuten adipöse Menschen eine pflegerische Mehrbelastung. Menschen belasten uns besonders dann, wenn wir selbst unter Druck stehen. Unter den jetzigen Arbeitsbedingungen der Pfleger*innen nervt jede Abweichung von der Norm. Das führt unter Umständen zu dem Copingmechanismus, dass man Patient*innen gedanklich abwertet.

Für Ärzt*innen sind die Arbeitsbedingungen im Vergleich zur Pflege nicht ganz so gravierend schlecht. Warum ist bei ihnen das Stigma trotzdem so fest verankert?

Luck-Sikorski: Ich denke, ein großer Teil ist Frust. Was will denn der*die Ärzt*in? Heilen. Jetzt wissen wir, Adipositas ist behandelbar, aber heilbar ist sie eigentlich nicht. Und Adipositas ist auch nur dann behandelbar, wenn ich Mittel zur Behandlung zur Verfügung habe. Und genau das ist im Gesundheitssystem aktuell nicht gegeben.

Das klingt, als gäbe es kaum einen Weg raus aus dieser Spirale. Oder etwa doch?

Luck-Sikorski: Maßnahmen hätten wir. Es gibt nur kein Konzept. Wir wissen von anderen chronischen Erkrankungen, wie Programme aussehen müssen, um Patient*innen in ein lebenslanges Behandlungsmanual einzuführen. Ein*e chronisch kranke*r Patient*in braucht lange Begleitung durch ein Hilfesystem. Da nützt es nichts, einmalig zehn Ernährungseinheiten zu verschreiben.

Was muss sich in der medizinischen Praxis ändern, damit Patient*innen mit hohem Gewicht Leitliniengerecht und würdevoll behandelt werden?

Luck-Sikorski: Das fängt bei der Praxisausstattung an. In einer Hausarztpraxis hat mindestens jede*r Vierte hohes Gewicht. Ärzt*innen müssen dafür sorgen, dass in jeder Praxis genügend Stühle für Menschen mit Adipositas da sind. Das gleiche gilt für Waagen oder Manschetten. Aber neben diesen Basics braucht es selbstverständlich auch eine empathische, verständnisvolle Ansprache durch die Kolleg*innen. Die Ansprache darf nicht aus dem erhobenen Zeigefinger bestehen, sondern sollte sensibel mit dem Thema umgehen und sich auch Erlaubnis einholen. Wir behandeln Menschen nicht gegen ihren Willen. Warum ist das dann bei Adipositas Usus?

Wie kann diese respektvolle Behandlung Realität werden?

Luck-Sikorski: Der Gemeinsame Bundesausschuss hat den Auftrag, analog zu Diabetes ein Management-Programm zu entwickeln. Es gibt also einen gesetzlichen Auftrag, dieses Versorgungssystem aufzubauen. Wenn das geschafft ist und eine finanzielle Honorierung von Weiterbildungen und Abrechnungsziffern da ist, kommt Tempo in das Thema. Ärzt*innen werden sich weiterbilden wollen. Schon jetzt sieht man mehr Interesse beim Nachwuchs.

Ein anderer Ansatz ist “Health at Every Size” (HAES). Er streicht Gewicht aus der Gleichung der Gesundheit. Wie bewerten Sie diesen Ansatz?

Luck-Sikorski: Ich betrachte “Health at Every Size” als Reaktion auf das Gewichtsstigma, das viele Betroffene erleben. Es ist eine gesunde Reaktion, zu sagen: Ich kümmere mich um mich und meine Gesundheit. Gewicht und Schönheitsideale spielen dabei keine Rolle. Stattdessen schaue ich zum Beispiel, wo ich in der Mobilität Einschränkungen erlebe. Ich blicke auf die Funktionalität. Da kann dann auch die Therapie ansetzen. Ich wünsche mir von ärztlichen Kolleg*innen, dass sie mit der Frage ins Gespräch einsteigen, was das Gewicht für die Patient*innen bedeutet und ob sie es als ein Problem wahrnehmen. Wenn der*die Patient*in sagt, „Kein Problem“, dann ist es kein Problem.

Inwiefern ist das realistisch?

Luck-Sikorski: Natürlich triggert das Behandler*innen. Wenn jemand sagt „Ich fühl mich so wohl“ wird das oft nicht geglaubt. Es braucht erstmal eine vertrauensvolle Behandlungsbeziehung, um später dahin zu kommen, dass man möglicherweise gemeinsam feststellt, da gibt es vielleicht doch ein Thema. Dann ist man im Gespräch. Aber man kann nicht mit der Tür ins Haus fallen.

Ein Behandlungskonzept ist die strukturierte Adipositastherapie. Wie sieht so eine Therapie konkret aus?

Luck-Sikorski: In einer idealen Welt haben Sie leitliniengerecht drei Komponenten: Sie haben die Ernährungsberatung oder Ernährungstherapie, eine Bewegungstherapie und eine Verhaltenstherapie, die sich häufig auf die Ernährung fokussiert. Welche Verhaltensmuster gibt es beim Essen? Wo wird gegessen? Was wird gegessen? Mit welchem Emotionszustand wird gegessen? Die Bewegungstherapie fragt, wie sich Sport und Alltagsbewegung besser ins Leben integrieren lassen. Mit diesen drei Komponenten, in guter therapeutischer Beziehung und langfristig geführt, sehen Sie Erfolge. Die meisten Menschen werden nicht normalgewichtig. Aber eine Gewichtsstabilisierung ist bereits ein Erfolg.

Inwiefern ist eine Stabilisierung eine langfristige Entwicklung?

Luck-Sikorski: Das hängt davon ab, wie langfristig das Programm angelegt ist. Man vergisst häufig, dass Adipositas eine chronische Erkrankung ist. Beim Diabetes käme niemand auf die Idee, die Behandlung nach der ersten Insulineinstellung zu beenden. Im Gegenteil! Da ist klar, dass regelmäßige Check-Ups dazugehören. Genau das braucht es auch bei Adipositas: regelmäßige Check-Ups nach der intensiven Therapiephase. Nur kommt da dann wieder die Frage der Finanzierung ins Spiel.

Welche Rolle spielen Krankenkassen bei der Stigmatisierung von dicken Menschen?

Luck-Sikorski: Die Krankenkassen sind in einem Spagat. Einerseits sind sie aufgefordert, Behandlungsoptionen zu finanzieren, andererseits müssen sie mit den Geldern der Solidargemeinschaft ökonomisch wirtschaften. Wir sprechen über 1,2 Millionen Menschen mit BMI über 40. Das sind Größenordnungen, die Sie bei wenigen anderen Krankheiten haben. Gut finde ich, wie die Kassen zunehmend den Präventionsbereich aufbauen und Angebote zu gesunder Ernährung und Bewegung für Mitglieder machen. Zurückhaltender sind sie, wenn es um bariatrische Operationen geht. Die sind vermeintlich zu teuer und mit Nachsorge verbunden.

Die Hilfe nicht zu finanzieren, kann bedeuten, die Gesundheitsfolgen auf später zu verschieben. Kann das die Lösung sein?

Luck-Sikorski: So zynisch wie es klingt, für die Kassen lohnt sich das manchmal aus ökonomischer Perspektive. Die andere Frage ist, ob Adipositastherapie überhaupt kosteneffizient stattfinden kann. Bei vielen anderen Erkrankungen finanzieren Krankenkassen eine Behandlung, um damit später Kosten zu sparen. Ich weiß nicht, ob das bei Adipositas funktioniert. Selbst die Ökonomen sind sich uneinig. Wenn Sie jemanden bariatrisch operieren, fühlt er*sie sich wieder wohler, geht möglicherweise Skifahren und reißt sich das Kreuzband. Im Zweifelsfall bedeutet das Mehrkosten. Kosteneffizienz kann deshalb an dieser Stelle nicht weiter der Standard sein.

Welche Haltung gegenüber dicken Menschen steckt dahinter?

Luck-Sikorski: Letztendlich eine, die durch den Gesetzgeber mitbestimmt wird und von Krankenhäusern unterstützt wird. Die sagen, dass der Gesetzgeber keine Dringlichkeit definiert, um Menschen mit Adipositas zu behandeln. Krankenkassen sehen die Dringlichkeit an dieser Stelle nicht, weil sie keinen sofortigen Einspar-Modus haben. Und es gibt ja keine Sanktionen, wenn man nicht behandelt.

Was muss sich in der Gesundheitspolitik tun?

Luck-Sikorski: In der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, in der ich Mitglied bin, beschäftigt uns gerade das auf Kinder zugeschnittene Marketing von süßen, zuckerhaltigen Lebensmitteln. Hier muss Verhältnisprävention auf allen Ebenen gut durchdacht werden und vor allem in vulnerablen Gruppen stattfinden. Die unternehmerische Eigenverantwortung einer Industrie, die Kinder als Target definiert, ist hier komplett gescheitert. Gleichzeitig müssen wir übergewichtige Mütter beraten und Familien in den ersten Lebensjahren begleiten. Es gilt, sie für das Thema Adipositas zu sensibilisieren. Denn wir wissen, hohes Gewicht setzt sich an dieser Stelle fort. Wir müssen Schwangerschaftsdiabetes verhindern und brauchen ein gutes Stillmanagement. Es gibt einiges zu tun.

Zu Beginn unseres Gespräches sagten Sie, es wird seit etlichen Jahren an der Stigmatisierung von Adipositas geforscht, aber es gehe gesellschaftlich kaum voran. Was gibt Ihnen trotzdem Hoffnung?

Luck-Sikorski: An vielen Ecken und Enden verstehen wir viel besser, wie die Erkrankung Adipositas entsteht. Es war bahnbrechend, festzustellen, dass Fettgewebe kein totes Gewebe ist, sondern funktional. Dass es in der Entstehung damit zusammenhängt, dass jemand übergewichtig ist und bleibt. Wir wissen viel mehr über die Interaktion von Hirn, Stress und Essen. Das öffnet Möglichkeiten für neue Behandlungsmethoden. Gleichzeitig haben wir Langzeitdaten zu bariatrisch operierten Patient*innen und werden zunehmend besser darin, Patient*innen für diese Therapie auszuwählen. Fakt ist allerdings auch, dass kein Land der Welt diesen Trend grundsätzlich umkehren konnte bisher. Ich bin extrem erleichtert, dass wir zunehmend die psychische Komponente in den Fokus nehmen. Heute sagt niemand mehr, Stigmatisierung ist okay, weil notwendig. Aber es bleibt der Bedarf, weiter zu forschen.