"Lernen Sie Menschen kennen, die psychisch erkrankt sind"
Arno Deister war früher Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie. Heute organisiert er gemeinsam mit dem Aktionsbündnis Seelische Gesundheit eine Woche zur Aufklärung über psychische Erkrankungen.
Interview mit Arno Deister
Weil Menschen, die psychisch erkranken, häufig nicht nur um ihre Gesundheit, sondern gleichzeitig gegen Unwissen und Diskriminierung in der Gesellschaft kämpfen müssen, veranstaltet das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit seit 15 Jahren rund um den Welttag der Seelischen Gesundheit eine ganze Woche der Seelischen Gesundheit. Wir haben mit Arno Deister, Psychiater, Psychotherapeut, Psychosomatiker und Vorsitzender des Aktionsbündnisses gesprochen.
Herr Deister, was hat Sie dazu motiviert, Psychiater und Psychotherapeut zu werden?
Ich hatte schon zu Beginn meines Medizinstudiums die Vorstellung, dass ich mich ganzheitlich um Menschen kümmern will, nicht nur um einen Teil des Menschen. Eigentlich wollte ich Allgemeinarzt werden. Dann habe ich aber in der Psychiatrie Famulaturen gemacht. Die Arbeit hat mich so fasziniert, dass ich dort hängen geblieben bin. Ich habe noch einige Jahre in der Neurologie gearbeitet, aber die Psychiatrie hat mich nicht mehr losgelassen. Sie ist das faszinierendste Fach in der Medizin, finde ich.
Neben Ihrer Arbeit haben Sie Anfang Oktober die Woche der Seelischen Gesundheit mitorganisiert. Worum geht es dabei?
Als Aktionsbündnis Seelische Gesundheit setzen wir uns dagegen ein, dass Menschen mit psychischer Erkrankung stigmatisiert und diskriminiert werden. Wir sind überzeugt davon, dass das Wissen über das Wesen psychischer Erkrankungen, genauso wie das Wissen darüber, was psychische Erkrankungen eben nicht sind, hilft, Menschen mit psychischen Erkrankungen besser verstehen zu lernen. Psychische Krankheiten sind eben keine Form des Versagens oder dessen, was man falsch gemacht hat, sondern Krankheiten.
Wie läuft diese Woche ab?
In unserem Aktionsbündnis sind 125 Institutionen und Gruppen organisiert, die in diesem Jahr deutschlandweit rund 600 Veranstaltungen und Aktionen realisiert haben. Schwerpunktmäßig finden diese insbesondere in Großstädten, wie Berlin, München oder Köln, statt. In den nächsten Jahren wollen wir verstärkt Regionen außerhalb von Großstädten mit einbeziehen.
Nun ist die diesjährige Woche der Seelischen Gesundheit bereits vorbei. Sind Sie zufrieden mit dem Verlauf?
Ja, und das liegt auch an dem breiten Medieninteresse. Während wir über die Veranstaltungen an sich immer nur eine vergleichsweise kleine Gruppe von Menschen erreichen, trägt die Berichterstattung dazu bei, dass wir über seelische Gesundheit reden. Und Reden hilft. Dabei meine ich einerseits das Reden im Sinne von Psychotherapie, also mit den Patient*innen. Andererseits aber auch das Reden darüber, also darüber zu informieren.
Welche Rolle spielen Betroffenengruppen bei den Veranstaltungen?
Unser Aktionsbündnis ist streng trialogisch aufgebaut. Das heißt, wir bestehen aus drei Gruppen: den betroffenen Menschen, den Angehörigen und den Professionellen. Alle Gruppen sind in unseren Gremien vertreten. Das ist eine Besonderheit, die es in dieser Konsequenz sonst kaum irgendwo in der Medizin gibt. Auch die meisten Veranstaltungen sind trialogisch organisiert. Man redet miteinander. Idealerweise tauschen die betroffenen Menschen, die Angehörigen und auch die Professionellen miteinander ihre Erfahrungen aus. Das ist wichtig, denn wenn man verstehen will, was psychische Erkrankungen sind, ist es extrem hilfreich mit jemandem zu reden, der*die eigene Erfahrungen damit hat. Auch deshalb haben wir mit berühmten Menschen zusammengearbeitet, die über ihre eigene Depressionen berichtet haben.
“Gemeinsam über den Berg”, so lautete das diesjährige Motto. Nächstes Jahr soll es dann “Seelisch gesund in unserer Gesellschaft” werden. Beide spielen auf die Frage an, wie diejenigen in der Gesellschaft erreicht werden können, die es wirklich brauchen. Wer genau ist das denn?
Auch wenn es vielleicht ein bisschen platt klingt: Seelische Gesundheit ist ein Thema für alle Menschen. Niemand kann sich davon freimachen, potenziell psychisch zu erkranken. Etwa jede vierte Person erfüllt innerhalb eines Jahres die Kriterien dafür. Und flapsig ausgedrückt: Die anderen wissen es nur noch nicht. In der Pandemie ist vielen Menschen diese Gefahr bewusster geworden. Sie lässt sich nicht mehr so leicht verdrängen.
Was macht es so schwer, gefährdete Personen zu erreichen?
Es findet zu wenig Kommunikation zwischen denjenigen statt, die eine solche Erkrankung haben, und denen, die sie nicht haben. Die Hürden liegen darin, dass Menschen, die keine solche Erkrankung haben, oft gar nicht wissen, wie sie mit Menschen mit psychischen Erkrankungen umgehen sollen oder können. Sie haben das Gefühl, nicht zu begreifen, was eine psychische Erkrankung ist.
Um eine Brücke zu schlagen, gibt es nicht nur die Aktionswoche, sondern auch noch eine Grüne Schleife. Was hat es damit auf sich?
Die Grüne Schleife ist ein Zeichen der Solidarität mit Menschen mit psychischen Erkrankungen. Seitdem wir vor zwei Jahren angefangen haben sie in Deutschland bekannt zu machen, haben wir über 200.000 Grüne Schleifen kostenlos abgegeben. Wir hoffen, dass das Thema immer sichtbarer wird. Wenn ich die grüne Schleife trage, werde ich häufig darauf angesprochen. So entfacht sich ein Gespräch.
Was können Menschen, die im medizinischen oder sozialen Bereich tätig sind, dazu beitragen, um Stigmatisierung entgegenzuwirken?
Sie können sich erstmal Gedanken machen: Was bedeutet es eigentlich für Menschen mit psychischer Erkrankung, diese Erkrankung zu haben? Welche Folgen hat das? Und wenn man es von dieser Seite, also aus dem Blickwinkel der Patient*innen, sieht, dann fällt einem auf, was diese Menschen brauchen. Es darf nicht passieren, dass jemand, nur weil er eine psychische Erkrankung hat, von bestimmten Dingen fern gehalten wird. Das ist ähnlich wie bei Menschen mit körperlicher Behinderung. Hürden müssen im vielfältigen Sinne abgebaut werden. Für jemand, der*die mit dem Rollstuhl fährt, ist es vielleicht die Bordsteinabsenkung. Bei psychischen Erkrankungen gilt es, die Hürden in der Kommunikation abzubauen und für die Probleme der Menschen zugänglich zu werden.
Wie mache ich das, Hürden abbauen?
Indem ich keine Angst davor habe, mit diesen Menschen Kontakt aufzunehmen und indem ich auf sie zugehe. Wenn ich eine Person als den vollwertigen Menschen auffasse, der sie ist, und genauso mit ihr diskutiere, wie ich das bei anderen Menschen machen würde, verringert das Hürden. Ein weiterer Punkt ist, dass ich psychische Erkrankungen als eine Erkrankung betrachte, bei der ein Mensch Hilfe braucht. Ich werfe ja normalerweise auch niemandem vor, dass er sich das Bein gebrochen hat. Genauso kann ich auch keinem Menschen eine psychische Erkrankung vorwerfen.
Gibt es Unterstützung, um diese Unvoreingenommenheit zu erlernen?
Aktuell planen wir eine Kampagne zur Ersten Hilfe für die Seele. Genauso wie ich lerne, was ich bei einem Verkehrsunfall tun muss, wenn ich an die Unfallstelle komme, planen wir Erste Hilfe für die Seele. Wir wünschen uns, dass in Zukunft jede*r, in der Schule beginnend, etwas darüber lernt und wir deshalb ganz anders mit Menschen mit psychischen Erkrankungen umgehen können.
Angenommen, ich bemerke, dass ich selbst Vorurteile mit mir rumtrage, was kann ich tun?
Man muss sich mit dem Thema auseinandersetzen und darf es nicht einfach wegschieben. Wenn Patient*innen mit der Diagnose einer Depression zu mir kommen, lernen sie häufig erst an sich selbst, was das bedeutet. Im Laufe des Prozesses sagen einige: “Jetzt, wo ich weiß, was eine Depression ist, sehe ich das auch bei vielen Anderen. Jetzt kann ich auf diese anderen Menschen zugehen.” Das heißt nicht, dass man eine Depression kriegen muss, um helfen zu können. Informieren Sie sich. Machen Sie sich Gedanken darüber, was eine psychische Erkrankung ist. Engagieren Sie sich in einer Initiative. Lernen Sie Menschen kennen, die solche Probleme haben. Sie werden feststellen, es gibt viel mehr davon, als Sie denken.
Vielen Dank.