Suchtpolitik: Wie wollen wir Drogen regulieren? | Upstream
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Takeaways

Das erwartet dich in dieser Ausgabe

  • Interview: Wie wissenschaftsbasiert ist die Sucht- und Drogenpolitik in Deutschland? Und wie navigieren wir die Gratwanderung zwischen individueller Selbstbestimmung und staatlicher Fürsorge? Darüber haben wir mit dem Suchtforscher Gerhard Bühringer gesprochen.
  • Begriff erklärt: Wie können Kommerzielle Determinanten helfen, wirtschaftliche Interessen in der Rechnung für Gesundheit zu berücksichtigen?
  • Schlaglichter: Welche Regeln braucht unsere Gesellschaft, um einen guten Umgang mit Alkohol, Tabak und Glücksspiel zu finden?
  • Aktuelles: Diesmal mit der Frage, wie eng Fußball und Alkohol zusammenhängen, Drogenlaboren, die Bauernhöfe bedrohen und weiteren spannenden Themen.

Hallo!

Die Zahl junger Drogentoter ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Das zeigt eine aktuelle Abfrage des Norddeutschen Rundfunks in den Bundesländern. Vergangenes Jahr sind 131 Menschen in Folge des Konsums gestorben, die nicht älter waren als 22 Jahre. Der Bundessuchtbeauftragte Burkhard Blienert sieht in den Zahlen eine Bestätigung seiner Forderung, es brauche einen Kurswechsel in der Sucht- und Drogenpolitik.

Was Blienert meint und worauf die Suchtpolitik aktuell in Deutschland fußt, besprechen wir in dieser Ausgabe mit dem Suchtforscher Gerhard Bühringer. Außerdem schauen wir ins Detail: Was bringen konkrete Maßnahmen, um problematischem Trinkverhalten, Tabakkonsum und Glücksspielsucht zu begegnen?

Viel Spaß beim Lesen wünschen
Maren und Sören

P.S.: Dies ist die letzte Ausgabe unserer Reihe über Sucht. Bisher haben wir recherchiert, wie es um die Suchthilfe auf dem Land steht, uns Glücksspielsucht genauer angeschaut und uns gefragt, ob Drogen gut tun können. Wenn du uns noch nicht abonniert hast, kannst du das hier nachholen. Wir freuen uns, wenn du Upstream weiterempfiehlst!

Interview

Interview. “Uns fehlt eine aktuelle Bestandsaufnahme” Gerhard Bühringer. TU Dresden

“Uns fehlt eine aktuelle Bestandsaufnahme”

Gerhard Bühringer kennt sich aus mit Süchten. Bühringer ist klinischer Psychologe und Psychotherapeut, entwickelte ein Programm zur Wiedereingliederung von psychisch erkrankten und suchtabhängigen Menschen in den Beruf, war lange Zeit Chefredakteur der Fachzeitschrift Sucht, forscht an der TU Dresden zu Sucht- und Abhängigkeitsformen und berät Landesregierungen und -behörden. Wir haben mit ihm über die Drogen- und Suchtpolitik in Deutschland gesprochen: Woran orientiert sie sich?

>>> Shortcut: Hier im Newsletter liest du einen Ausschnitt des vollständigen Interviews. Wenn du dich dafür interessiert, welche Rolle Industrieinteressen bei der Regulierung von Suchtmitteln spielen und du mehr über die (Un-)Abhängigkeit von Suchtforschung erfahren möchtest, lies auf unserer Website weiter.

Upstream: Alkohol gilt in Deutschland als Volksdroge, Online-Glücksspiel bewegte sich lange in der Grauzone und Cannabis wird nun legalisiert. Wie passen so unterschiedliche Regulierungen von Suchtmitteln zusammen?

Bühringer: Es geht in der Politik nicht vorrangig darum, Schäden zu minimieren. Oft spielen andere Faktoren eine Rolle, als das Risiko wissenschaftlich einzuschätzen. Einer davon ist die historische Entwicklung. Alkohol gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte, er ist Teil der kulturellen Identität. Hinzu kommt die Marktmacht der Alkoholindustrie. Würden wir Alkohol gleich streng regulieren wie Glücksspiel, gäbe es einen Aufstand der Industrie und der Bevölkerung. Beim Glücksspiel fällt zudem ins Gewicht, dass es unterschiedliche Zuständigkeiten gibt zwischen den Bundesländern, die ja selbst Glücksspielanbieter sind, und dem Bund.

Der Bundessuchtbeauftragte Burkhard Blienert hat eine “Zeitenwende” in der Drogen- und Suchtpolitik angekündigt. Was steckt dahinter?

Bühringer: Bei Cannabis sieht man durch die geplante kontrollierte Abgabe in der Tat eine neue Abwägung, bei der versucht wird, Schäden zu minimieren. Auch der Jugendschutz soll in Bezug auf weitere Substanzen gestärkt werden. Aber einen grundlegenden Neuansatz, eine “Zeitenwende”, kann ich im Moment noch nicht erkennen. Dafür wäre die Bevölkerung auch gar nicht vorbereitet.

Die Basis für die derzeitige Sucht- und Drogenpolitik ist die “Nationale Strategie” von 2012. Im Jahr 2009 hat man das letzte Mal versucht, überhaupt zu berechnen, welche Kosten Suchtmittel in Deutschland verursachen. Das ist lange her. Wie evidenzbezogen ist die Sucht- und Drogenpolitik?

Bühringer: Kaum. Tatsächlich fehlt uns eine aktuelle Bestandsaufnahme, die untersucht, was der gesellschaftliche Schaden von Drogen ist, aber auch, was der gesellschaftliche Nutzen ist. Das können beispielsweise die Steuereinnahmen sein oder der Genuss oder Zeitvertreib, den sie für viele bedeuten. Es gibt zwar regelmäßig epidemiologische Studien, die Trends im Konsum festhalten, aber wenig Forschung dazu, wie die Trends entstanden sind. Wenn wir nicht wissen, was dahintersteckt, können wir keine Maßnahmen entwickeln, um positive Trends fortzuschreiben oder negativen etwas entgegenzusetzen.

Sucht- und Drogenpolitik bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen individueller Selbstbestimmung und staatlicher Fürsorge. Wie würden Sie das beschreiben?

Bühringer: Mit den meisten Suchtmitteln kann der größte Teil der Bevölkerung gut umgehen. Nur ein kleiner Anteil entwickelt beispielsweise Probleme mit Alkohol, auch wenn die absolute Zahl sehr hoch ist. Da unsere Regeln in der Gesellschaft aber für alle gelten, haben wir ein Regulierungsproblem: Wie erlauben Sie der Mehrheit, die mit einem Suchtmittel umgehen kann, die Freiheit und wie kontrollieren Sie die Minderheit, die nicht damit umgehen kann?

Wie entscheidet man das?

Bühringer: Suchtmittel sind so alt wie unsere Menschheitsgeschichte. Genauso lange gibt es unterschiedliche Ansätze und Optionen im Umgang mit ihnen. Aus der Bewegung der Abhängigen und der Selbsthilfe kommt der Ansatz, zu sagen, Suchtmittel sind für alle gefährlich. Wir können nicht beurteilen, für wen sie mehr oder weniger Risiko bergen. Also versuchen wir möglichst viel zu verbieten oder zu regulieren.

Wie wäre es denn mit deutlich weniger Regulierung?

Bühringer: Der klassisch liberale Ansatz wäre: einfach laufen lassen, mit dem Ergebnis einer Zunahme der negativen Folgen. Das hieße, etwas überzeichnet: Dadurch, dass die meisten Menschen mit einem Suchtmittel umgehen können, wäre jede Person selbst für sich verantwortlich. Jeder hätte die Freiheit, sich zu ruinieren. Die höheren Kosten würden dann die sozialen Hilfesysteme und die Krankenkassen zahlen. Letztlich geht es um unsere Werte: Wollen wir Freiheiten verteidigen und nehmen Schäden in Kauf oder wollen wir mehr Kontrolle ausüben und damit die Gesundheit der Bevölkerung schützen? Das ist eine Wertediskussion zu einer Gratwanderung, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen stattfinden muss: Im Bundestag, in den Medien und in den Schulen. Medien berichten nachvollziehbarerweise meist mehr über dramatische Einzelschicksale von Suchtbetroffenen als über die Wertediskussion dahinter.

>>> Nicht nur Industrien profitieren vom regelmäßigen Suchtmittelkonsum, auch dem Staat klingelt die Kasse. Wie das die Regulierung von Suchtmitteln beeinflussen kann und warum manche Suchtforschung der Industrie so nah ist, liest du im vollständigen Interview mit Gerhard Bühringer auf der Upstream-Website.

Begriff erklärt

Begriff erklärt: Kommerzielle Determinanten der Gesundheit. Daneben eine Illustration einer Werbetafel, mit einem Bier und einem zwinkerndem Smiley. Links oberhalb der Werbetafel ist ein Geldbündel-Emoji mit Flügeln zu sehen.

Kommerzielle Determinanten: Wenn Wirtschaft wichtiger ist als Gesundheit

Wer sich damit beschäftigt, wie Suchtmittel reguliert werden sollten, kommt an einem Wort nicht vorbei: Interessen. “Anbieter von Alkohol, Tabak oder Glücksspiel”, so Gerhard Bühringer in der vollständigen Fassung unseres Interviews, “haben das natürliche Interesse, möglichst viel zu verkaufen.”

Dass solche ökonomischen Interessen der Gesundheit entgegenstehen können, haben Ilona Kickbusch, Luke Allen und Christian Franz 2016 in einem Debattenbeitrag für den Lancet Global Health gezeigt. In Anlehnung an die Sozialen Determinantendefinieren die Autor*innen Kommerzielle Determinanten der Gesundheit als Strategien und Ansätze, die von Unternehmen genutzt werden, um Produkte und Auswahlmöglichkeiten zu fördern, die der Gesundheit abträglich sind. Das kann beispielsweise Werbung sein, die Biertrinken anpreist, aber die Gefahren von Alkoholkonsum verschweigt oder verharmlost.

So wirken Kommerzielle Determinanten

Wie wirken Kommerzielle Determinanten der Gesundheit? Die Grafik ist horizontal in drei Bereiche eingeteilt: Treiber, Kanäle und Auswirkungen. Unter der Überschrift “Treiber” ist Pfeil entgegen dem Uhrzeigersinn zu sehen. Er beginnt mit dem Unterpunkt “Ausbau der Unternehmensreichweite”, fährt fort mit “Internationalisierung von Handel und Kapital” und kurz vor der Pfeilspitze steht der Punkt “Nachfrage nach Wachstum”. Unter der Überschrift “Kanäle” zeigen vier beschriftete Pfeile von links nach rechts: Marketing, Lieferkette, Lobbyismus, und gesellschaftliches Unternehmensengagement. Im dritten Bereich unter der Überschrift Auswirkungen ist ein zwiebelartiges Modell zu sehen. Innen steht die Gesundheit, drumherum eine Schicht beschriftet mit “Konsument*innen” und außen die Schicht “Umgebung”.
Konzept der Kommerziellen Determinanten der Gesundheit nach Kickbusch/Allen/Franz 2016

Die Autor*innen schreiben, dass der weltweite Anstieg von nicht-übertragbaren Krankheiten, die unter anderem auf das Rauchen und Alkoholtrinken zurückgeführt werden, eine Manifestierung eines globalen Wirtschaftssystems zeige, welche “das Erlangen von Wohlstand dem Erlangen von Gesundheit vorzieht.”

Unternehmen beeinflussen demnach die Umgebung, in der wir leben und arbeiten, unsere Wahlmöglichkeiten und damit unser Gesundheitsverhalten – durch Werbung, den Ausbau von Lieferketten, bis hin zur Einflussnahme auf die Politik und die Gesellschaft.

Das Hauptproblem für Forschende: Gerade für solche Unternehmenspraktiken fehlt es an öffentlich verfügbaren Daten. Diese seien aber wichtig, so die Autor*innen, um die verschiedenen Kanäle zu erfassen.

Schlaglichter

Schlaglichter: Wie werden Drogen reguliert? Illustration einer Kippe, einer Tablette und eines Bierkruges.

Wie werden Drogen reguliert?

Gruppen von Substanzen klar zu benennen ist gar nicht so leicht. Als wir von “Partydrogen” gesprochen haben, meinten wir vor allem illegalisierte Substanzen wie Kokain oder Ecstasy. Wenn aber der Maßstab ist, ob eine Droge legal ist oder nicht, werfen wir Cannabis in einen Topf mit Heroin. Betrachten wir Substanzen, die auf Partys konsumiert werden und dabei viel Schaden anrichten können, müssten wir bei Alkohol genauer hinschauen als bei vielen illegalisierten Drogen – während wir ihn ohne Probleme im Supermarkt kaufen können. Und schließlich sind da noch Medikamente, die Menschen helfen, aber ebenso zum Suchtmittel werden können.

Die Frage, weshalb und wie Drogen reguliert werden, lässt sich deshalb nicht so einfach beantworten. Wie facettenreich das Ganze ist, zeigt ein Blick in die Vergangenheit der Regulierung von Medikamenten und Drogen im Vereinigten Königreich, von 1500 bis in dieses Jahrzehnt. Hier drei Beispiele:

  • 1783: Mit dem Stamp Act hat England Steuern auf bestimmte Medikamente erhoben.
  • 1851: Der Sale of Arsenic Regulation Act sollte das Risiko verringern, dass Menschen mit Arsen vergiftet werden.
  • 1920er: Mehrere Dangerous Drug Acts sollten das Angebot von Morphin, Heroin, Kokain und Amphetaminen einschränken.

Die Verordnungen zeigen, dass die Regulierung gesellschaftlichen Entwicklungen folgt: Wie gefragt sind bestimmte Substanzen? Wie gefährlich sind sie? Und wie nützlich, zum Beispiel für die Medizin? Was sind die Normen: Welche Drogen sind anerkannt, welche verpönt?

In internationalen Konventionen wie der Single Convention on Narcotic Drugs der Vereinten Nationen und Institutionen wie dem United Office on Drugs and Crime (UNODC) versuchen Staaten immer wieder einen globalen Konsens zu finden auf die Frage, welche Substanzen reguliert und verfolgt werden sollten. Einheitliche Regeln, was legal und was illegal ist, gibt es aber nicht.

Das große Ganze zu betrachten ist also schwierig. In dieser Ausgabe schauen wir uns deshalb drei Beispiele dafür an, wie Substanzen und Verhaltensweisen reguliert sein können – und was das bringt. Los geht’s.

Sollten Steuern den Alkoholkonsum regeln?

Die Rechnung klingt gut: Der Staat hebt die Steuern für Alkohol an, der Konsum geht zurück, die Steuereinnahmen steigen. Dass es nicht ganz so einfach ist, zeigen Beiträge im Alternativen Drogen- und Suchtbericht 2021, den der Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, akzept e.V., herausgibt. Das Problem: Die Rechnung muss sich erstmal in der Realität bewähren.

Was für höhere Steuern auf Alkohol spricht

  • Eine Modellrechnung zeigt, dass bis 2050 in Deutschland mehr als 200.000 alkoholbedingte Krebserkrankungen vermieden werden können, wenn man die Preise für alkoholische Getränke verdoppelt.
  • Laut einer weiteren Modellstudie wären mit doppelt so hohen Steuern 2018 in Deutschland rund 1.600 Menschen weniger aufgrund von Alkoholkonsum an Krebs erkrankt.
  • Litauen begrenzt den Zugang zu Alkohol, auch mit höheren Steuern. Studien wie diese oder diese zeigen, dass der Konsum und Krankheitsfälle zurückgehen.
  • In Deutschland ist Alkohol aktuell verhältnismäßig günstig.

Was gegen höhere Steuern auf Alkohol spricht

  • Preiserhöhungen würden vor allem sozial benachteiligte Menschen treffen. Für sie wäre auch der genuss- und maßvolle Konsum weniger möglich.
  • Zahlen, wie viele Krankheits- oder Todesfälle verhindert werden könnten, sind Ergebnisse von Modellrechnungen, nicht empirischer Evidenz.
  • Die Ottawa-Charta der WHO von 1986 verfolgt eher den Ansatz, selbstbestimmte Entscheidungen zu ermöglichen, als Restriktionen zu erlassen.

Die Alkopopsteuer: ein harter Fail

Die Alkopopsteuer sollte 2004 Kinder und Jugendliche von bunten, süßen Mixgetränken abhalten. Tatsächlich sank der Umsatz mit Mixgetränken. Doch der Erfolg war trügerisch, erklärt Bernd Werse, Forscher an der Uni Frankfurt, im alternativen Drogenbericht. Demnach waren Alkopops ohnehin ein kurzer Trend, der auch in Ländern zurückging, die die Steuern nicht angehoben hatten.

Langlebiger sind dagegen die Folgen der Alkopopsteuer: Laut Gesetz wird sie auf Getränke mit weniger als zehn Prozent Alkoholgehalt erhoben. Um sie zu umgehen, bieten viele Hersteller Getränke mit zehn Prozent Alkohol an. In einem Cuba Libre oder Whisky Cola aus der Dose ist damit viel mehr Alkohol, als hätte man den Drink an der Bar gekauft.

Das Bild zeigt den Vergleich zwischen einem Cuba Libre an der Bar (250 ml Getränk, davon 40 ml Rum, reiner Alkohol: 16 ml) und einem Cuba Libre im Supermarkt (330 ml Getränk, davon 85 ml Rum, reiner Alkohol: 33 ml)
Zu welchem Cuba Libre greifst du?

Wie jeder fragwürdige Trend kommen die “Ready-to-Drink”-Mixgetränke offenbar zurück, erklärt Werse. Das zeigte beispielsweise eine Befragung unter Schüler*innen 2019 in Frankfurt. Jugendliche greifen also wieder öfter zu Flaschen und Dosen, in denen deutlich mehr Alkohol ist als vor 20 Jahren – wegen einer Steuer, die genau das verhindern sollte.

Warum nicht Werbung für Suchtmittel verbieten?

Für illegale Suchtmittel gibt es, abgesehen von dem einen oder anderen Song, der den Konsum zelebriert, keine klassischen Werbekampagnen. Für legale Suchtmittel, wie Alkohol und Glücksspiel, gibt es hingegen Sponsorings, TV-Spots oder Anzeigen an Bushaltestellen und Plakatwänden. Unter Gesundheitsexpert*innen mehrt sich die Meinung, ein hartes Werbeverbot könnte nützlich sein.

Demgegenüber stehen ökonomische und kulturelle Interessen: Als 2014 die Herren-Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien stattfand, galt dort eigentlich ein Gesetz, das den Verkauf von Alkohol in Stadien untersagte. Das Gesetz war eine Reaktion auf ausufernde Fangewalt, die zu 42 Toten in zehn Jahren geführt hatte. Die FIFA, gesponsert von der Budweiser-Brauerei, bestand auf das Recht auf Bier im Stadion. Bei der diesjährigen Fußball-Weltmeisterschaft setzte sich das Gastgeberland Katar beim Umgang mit Alkohol durch.

Werbung für Tabak ist deutlich eingeschränkter. Seit 2022 ist Außenwerbung für Zigaretten in Deutschland verboten. Ab 2024 wird die Werbung für E-Zigaretten eingeschränkt. Die Mehrheit der Bevölkerung (57 %) unterstützt solch ein Werbeverbot für E-Zigaretten, nach einer repräsentativen Befragung von 2.019 Personen. Die Idee dahinter: Je weniger Werbung die Menschen sehen, desto weniger werden sie zum Konsumieren verführt. Durch eine Veränderung der Umwelt wird versucht, das Verhalten in eine gesundheitsfördernde Richtung zu lenken.

Wie Werbung und Glücksspielverhalten zusammenhängen, hat unter anderem ein Forscher*innenteam um Franziska Clemens in Deutschland untersucht. Im Jahr 2014 befragten die Forschenden 4.617 Jugendliche und junge Erwachsene aus 38 Schulen, ob sie sich an vorgelegte Werbeanzeigen erinnern und wie ihr Glücksspielverhalten aussieht. Das Ergebnis: Personen, die der Glücksspielwerbung am stärksten ausgesetzt waren, hatten eine mehr als dreimal so hohe Wahrscheinlichkeit für problematisches Glücksspiel (5,5 %), als Personen, die der Werbung am schwächsten ausgesetzt waren (1,4 %).

Die Werbung einfach komplett zu untersagen, könnte also eine Präventionsstrategie sein, die dazu noch wenig kostet. Ganz so einfach ist es dann aber auch wieder nicht. In einem Diskussionsbeitrag für den Alternativen Sucht- und Drogenbericht 2022 hinterfragt Dietmar Jazbinsek die zugrundeliegende Annahme, Werbung für Suchtmittel habe immer eine Wirkung auf das Verhalten potentieller Konsument*innen. Dafür stellt er Werbeausgaben der Alkohol- und Tabakindustrie den jeweiligen Prävalenzen in der Bevölkerung gegenüber.

In seiner Analyse kommt Jazbinsek zu dem Schluss, dass Werbung nicht zwingend zum Einstieg in den Suchtmittelkonsum führt. Sei sie allerdings auf Jugendliche zugeschnitten, könne sie “sehr wohl zum Einstieg jugendlicher Nichtraucher und Nichttrinker in den Tabak- und Alkoholkonsum beitragen”. Die Selbstregulierung der Werbewirtschaft sei dabei kein verlässliches Mittel, um solche Werbung zu verhindern.

Statt eines allgemeinen Werbeverbots, entwickelt Jazbinsek aus seinen Beobachtungen drei Forderungen:

  1. Werbung gezielt anschauen: Statt der Untersuchung von Werbedosis-Werbewirkung-Zusammenhängen sollten individuelle Kampagnen untersucht werden.
  2. Prioritäten setzen: Gesundheitspolitiker*innen sollten stärker abwägen, welche Gesundheitsrisiken am dringendsten angegangen werden müssen.
  3. Forschung fördern: Werbung für Suchtmittel sollte kontinuierlich überwacht werden. Dafür müsse die Forschung entsprechend gefördert werden.

So will Neuseeland rauchfrei werden

Bei einem Raucher*innen-Anteil unter fünf Prozent gilt ein Land als rauchfrei. Um das zu erreichen, fährt Neuseeland eine besonders strikte Politik. Dort rauchen mittlerweile nur noch rund zehn Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: In Deutschland sind es etwa 23 Prozent. Wie hat das Land das geschafft?

Dieses Jahr hat die neuseeländische Regierung die nächste Stufe eingeleitet und den Smokefree Aotearoa 2025 Action Plan ins Leben gerufen. Ein Kernelement der neuen Strategie ist es, eine tabakfreie Generation zu initiieren. Damit ist gemeint, dass Personen, die nach 2008 geboren sind, keine Tabakprodukte kaufen dürfen – auch dann nicht, wenn sie volljährig werden. Außerdem soll die Anzahl der Verkaufsstellen für Tabak um 95 Prozent reduziert und der Verkauf von Produkten mit niedrigem Nikotingehalt vorangetrieben werden. Das geringere Angebot soll dazu führen, dass weniger Menschen aus Impuls zur Zigarette greifen.

Neuseelands Strategie zur Rauchfreiheit: 1. Menschen-Emoji: Generation Rauchfrei, 2. Einkaufswagen-Emoji: Reduktion der Verkaufsstellen, 3. Zigaretten-Emoji: nikotinreduzierte Produkte
Mit drei Maßnahmen zur Rauchfreiheit?

Andere Länder, wie Malaysia oder Dänemark, sind daran interessiert, ähnliche Modelle umzusetzen. Doch während die Welt neugierig nach Neuseeland schaut, gibt es auch kritische Stimmen zu den restriktiven Maßnahmen:

  • Kleine Händler haben Sorge, schließen zu müssen, wenn sie keine Tabakprodukte mehr anbieten können.
  • Rechtsexpert*innen warnen vor einer Ungleichbehandlung von Generationen, wenn jüngere Personen sich keinen Tabak kaufen könnten, ältere hingegen schon.
  • Kriminolog*innen sehen die Gefahr eines Schwarzmarktes, ähnlich wie zu Zeiten der US-amerikanischen Prohibition.
  • Kritiker*innen betonen, die Maßnahmen treffen vor allem Menschen, die sich als Maori identifizieren, da der Anteil an Raucher*innen unter ihnen höher ist. Das berge die Gefahr einer weiteren Stigmatisierung der ohnehin schon benachteiligten Bevölkerungsgruppe.

Dem gegenüber steht der Paradigmenwechsel, der mit den Maßnahmen einhergeht: Hin zur Position, es gebe kein sicheres Alter mit dem Rauchen anzufangen, und zum Fokus auf das Angebot, statt auf die Nachfrage.

Außerdem erwartet die neuseeländische Regierung, rund 3,2 Mrd. Euro für tabakbedingte Gesundheitsausgaben einzusparen. Die Zeit wird zeigen, inwiefern Neuseelands Strategie zur Rauchfreiheit aufgeht.

Was meinst du: Helfen diese Maßnahmen, das Rauchen einzuschränken? Oder sind sie eine unnötige Einschränkung freier Entscheidungen? Lass es uns gerne per E-Mail wissen oder diskutiere mit uns auf Twitter oder Instagram.

Aktuelles

Was du sonst noch wissen musst

  • Wie das System der Behindertenwerkstätten in Deutschland funktioniert und was daran problematisch ist, berichtet Shalin Rogall für ultraviolett stories.
  • Nachdem Darlines und Jeremys Mutter gestorben ist, sind die Geschwister alkoholabhängig geworden. Im Funk-Kanal “Die Frage” erzählen sie ihre Geschichte: Teil 1 handelt von Darlines Sucht, Teil 2 von ihrer Co-Abhängigkeit.
  • Wie wirkt Esoterik nicht nur auf den Geldbeutel sondern auch auf die Gesellschaft und die Gesundheit? Pia Lamberty und Katharina Nocun geben im Buch “Gefährlicher Glaube” Antworten. Das kannst du jetzt auch auf Spotify hören.
  • Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen teilen Menschen seit dem Frühjahr ihre Geschichte und ihre Erlebnisse mit Armut. Anne Brockmann hat für das Magazin “fluter” mit drei Personen darüber gesprochen.
  • Wie stressig ist der Job im Rettungsdienst? Und wie belastet der Personalmangel die Notfallsanitäter*innen zusätzlich? Einen Einblick gibt es in dieser PULS Reportage.
  • Der Protest gegen eine Fußball-WM ohne Bier ist mitunter deutlicher hörbar als der gegen Menschenrechtsverletzungen in Katar. Wie eng Sport und Alkohol in Deutschland verknüpft sind und wie Brauereien sich dafür einsetzen, dass das so bleibt, siehst du in dieser WDR-Doku.
  • Synthetische Drogen wie Ecstasy werden überall in Europa konsumiert. Hergestellt werden sie aber nur in einigen Regionen. Welche Probleme die Drogenproduktion Dörfern in den Niederlanden bereitet, zeigt diese Arte-Reportage.

Ausblick

Diese Ausgabe ist die letzte unserer Reihe rund um Sucht, Drogen und Gesundheitspolitik. In den aktuellen Links siehst du schon: Es gibt viele Themen, die wir ausgelassen haben, über die es sich aber trotzdem lohnt, zu sprechen. Das ist uns schon bei der Recherche aufgefallen, als wir entscheiden mussten, was in den Newsletter kommt und was nicht. Wir hoffen, es ist uns gelungen, über Dinge zu berichten, die dich interessieren, über die du mit deinen Freund*innen und Kolleg*innen diskutieren kannst und die vielleicht sogar für deine Arbeit oder Forschung spannend sind.

Gibt es ein Thema, das dir in der Reihe gefehlt hat? Lass es uns wissen: Per E-Mail, via Twitter oder auf Instagram.

In die Weihnachtspause verabschieden wir uns aber noch nicht. Kurz vor Feiertagen und Jahreswechsel planen wir einen Sozialmedizinischen Jahresrückblick: Wir wollen noch einmal auf all das schauen, was in diesem Jahr aus Perspektive von Medizin, Gerechtigkeit und Gesellschaft wichtig gewesen ist. Gibt es Dinge, die wir dabei auf keinen Fall vergessen dürfen? Auch hier freuen wir uns über Hinweise.

Wir wünschen dir einen guten Start in den Dezember 🎄

Sören und Maren

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen

  • Clemens F, Hanewinkel R, Morgenstern M. Exposure to Gambling Advertisements and Gambling Behavior in Young People. J Gambl Stud. 2017 Mar;33(1):1-13. doi: 10.1007/s10899-016-9606-x. PMID: 27034159.
  • Ferner, R. E., Aronson, J. K. (2022): Medicines legislation and regulation in the United Kingdom 1500-2020. British Journal of Clinical Pharmacology. 2022. S. 1-13. https://doi.org/10.1111/bcp.15497
  • Greca, R. (2021): Illegale Drogen – Prävalenz, Bedeutung und Implikationen für die Prävention und Gesundheitsförderung. In: Tiemann, M-, Mohokum, M. (eds): Prävention und Gesundheitsförderung. Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62426-5_34
  • Ireland R, Bunn C, Reith G, Philpott M, Capewell S, Boyland E, Chambers S. Commercial determinants of health: advertising of alcohol and unhealthy foods during sporting events. Bull World Health Organ. 2019 Apr 1;97(4):290-295. doi: 10.2471/BLT.18.220087. Epub 2019 Feb 25. PMID: 30940986; PMCID: PMC6438257.
  • Jazbinsek, Dietmar 2022. “Am besten alles verbieten? Zum Einfluss von Werbung auf das Suchtverhalten” In: akzept e.V. Bundesverband (Hrsg.): 8. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2022. Lengerich. Pabst Science Publishers. S.98-105
  • Kickbusch, Ilona/Allen, Luke/Franz, Christian 2016. „The commercial determinants of health“. The Lancet Global Health, Volume 4, Issue 12, e895 - e896. <https://www.thelancet.com/journals/langlo/article/PIIS2214-109X(16)30217-0/fulltext>
  • de Lacy-Vawdon, C., Livingstone, C. Defining the commercial determinants of health: a systematic review. BMC Public Health 20, 1022 (2020). https://doi.org/10.1186/s12889-020-09126-1
  • Manthey, J., Kilian, C., Carr, S., Rehm, J. (2021): Besteuerung von Alkohol in Deutschland. In: akzept e.V. Bundesverband (Hrsg.): 8. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2021. Lengerich. Pabst Science Publishers. S. 50-55.
  • McCall, Chris 2022 „A smoke-free generation: New Zealand’s tobacco ban“. <https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)00925-4/fulltext>
  • Uhl, A., Strizek, J. (2021): Alkoholprobleme, Alkoholpolitik und wissenschaftliche Fundierung. In: akzept e.V. Bundesverband (Hrsg.): 8. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2021. Lengerich. Pabst Science Publishers. S. 28-37.
  • Werse, B. (2021): Sprit in Dosen – wie gut gemeinte Steuern paradoxe Auswirkungen haben können. In: akzept e.V. Bundesverband (Hrsg.): 8. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2021. Lengerich. Pabst Science Publishers. S. 46-49.