Sozialstaat in der Vertrauenskrise
Viele Menschen in Deutschland haben wenig Vertrauen, dass der Sozialstaat langfristig gut, fair und finanzierbar funktioniert – vor allem bei den Themen Rente und Gesundheit. Das hat Folgen.

Takeaways
Darum geht's in dieser Ausgabe:
- Studiensteckbrief: Wer starke Ungleichheit wahrnimmt, fühlt sich von der Politik weniger gesehen
- Grafik des Monats: So wenige Menschen vertrauen darauf, dass der Sozialstaat funktioniert
- Was du außerdem wissen solltest: Diesmal mit Altern nach Leistungsprinzip, der Geburt als Gesundheitsrisiko, ungleichen Löhnen und weiteren Themen
Hallo!
Für wie sicher hältst du deine Rente? Wie stark vertraust du darauf, die Gesundheitsversorgung zu bekommen, die du benötigst? Und wie sicher bist du, dass Arbeitsmarkt und Politik dazu beitragen, dass es dir und deiner Familie gut geht?
Viele Menschen in Deutschland haben wenig Vertrauen in den Sozialstaat. Das zeigen Daten, die im April im Rahmen des Ungleichheitsbarometers der Uni Konstanz veröffentlicht wurden. Die Autor*innen sprechen von einer “tief sitzenden Vertrauenskrise” – und warnen davor, dass auch die Demokratie an Vertrauen verliert. Die Daten deuten auf ein großes Problem hin: Ungleichheit, Vertrauensverlust und ein geringes Empfinden von Selbstwirksamkeit können dazu führen, dass Menschen sich weniger für Veränderungen einsetzen. Wir sehen uns das genauer an.
Herzliche Grüße
Maren und Sören
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Studiensteckbrief
So hängen Ungleichheit und politische Beteiligung zusammen

Das ist die Publikation:
Das Progressive Zentrum und das Exzellenzcluster “The Politics of Inequality” an der Universität Konstanz: Auf dem Abstellgleis? Zum Zusammenhang zwischen Ungleichheitswahrnehmungen und politischer Beteiligung, erschienen im April 2025
Darum geht es:
Der Zusammenhang zwischen ökonomischer und politischer Ungleichheit: Wie wirkt die Wahrnehmung von Ungleichheit darauf, wie Menschen ihre politischen Einflussmöglichkeiten einschätzen?
Das war die Methode:
- Online-Befragung im Herbst 2024
- 6.152 Befragte, 18 und älter, in Deutschland
- Daten sind quasi repräsentativ: Abweichungen in der Stichprobe sind durch Gewichtung ausgeglichen worden
Das sind die Ergebnisse:
- Grundsätzlich zeigten viele Befragte eine hohe interne politische Selbstwirksamkeit: Rund 80 Prozent gaben an, politische Fragen zu verstehen und aktiv über Politik zu sprechen.
- Die externe politische Selbstwirksamkeit war geringer: Mehr als 80 Prozent der Befragten sagten, Politiker*innen kümmerten sich nicht um die Gedanken einfacher Leute.
- Es gab einen signifikanten Zusammenhang zwischen einer schlechten Einschätzung der politischen Selbstwirksamkeit und der Wahrnehmung von Einkommensunterschieden: Wer große Ungleichheit wahrnimmt, denkt weniger, selbst etwas daran ändern zu können.
Und das sind die Folgen:
Die Forschenden warnen, dass die wahrgenommene Ungleichheit und politische Selbstwirksamkeit Konsequenzen haben können, etwa, dass Menschen nicht wählen oder sich populistischen oder extremen Parteien zuwenden. Sie geben drei Handlungsempfehlungen für die Politik:
- Politiker*innen sollten Menschen, die politisch interessiert sind, nicht nur ansprechen, sondern mitbestimmen lassen und in Entscheidungsprozesse einbinden.
- In alltäglichen Räumen wie Betrieben, Schulen und Universitäten sollte es Freiräume für demokratische Debatten geben.
- Politische Bildung sollte ausgeweitet werden.
Grafik des Monats
So wenige Menschen vertrauen in den Sozialstaat

In einer weiteren Studie haben die Wissenschaftler Marius Busemeyer und Felix Jäger mit Daten des Ungleichheitsbarometers untersucht, wie groß das Vertrauen in den Sozialstaat und dessen Teilbereiche ist. Das Ergebnis: “Generell herrscht unter den Befragten ein geringes bis sehr geringes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit, Fairness und langfristige Finanzierbarkeit des deutschen Sozialstaates.”
Die größte Skepsis herrschte demnach im Bereich der Altersrenten, aber auch für die Gesundheitsversorgung gab es nur wenig Vertrauen. In fast allen Bereichen war zudem zu sehen, dass ein geringes Einkommen zu geringerem Vertrauen führte.
Parallel zum geringen Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats sahen die Befragten den Daten zufolge ein Defizit: Der Sozialstaat sorge nicht dafür, dass alle Menschen das bekommen, was ihnen zusteht. Insbesondere Rentner*innen und hart arbeitende Menschen wurden von vielen als benachteiligt eingeschätzt, aber auch gesundheitlich Eingeschränkte und junge Familien.
Arbeitslose und zugewanderte Menschen wurden den Daten zufolge eher als bevorteilt wahrgenommen, insbesondere von Befragten, die sich als politisch rechts bezeichneten. Busemeyer und Jäger sehen hier ein Auseinanderklaffen von Wahrnehmung und Realität: Während Rentnerinnen relativ viel Unterstützung erhalten, werden sie als besonders benachteiligt angesehen. Arbeitslose und Migrantinnen erhalten insgesamt deutlich weniger Sozialleistungen, werden aber als unfair bevorzugt angesehen. Darauf sollte politische Kommunikation reagieren.
Medientipps
Was du außerdem wissen solltest
Klassengesellschaft des Alters
21.04.2025, Deutschlandfunk, 13 Minuten
“Dass Frauen im Durchschnitt länger leben, das wissen alle. Dass wir aber auch eine ausgeprägte klassenspezifische Lebenserwartung haben, das ist den meisten Menschen nicht bewusst”, sagt die Soziologin Silke van Dyk. “Wenn Sie Ihr Leben lang im Schichtbetrieb arbeiten, Nachtarbeit haben, das ist so gesundheitsschädlich, da können Sie so viel Yoga machen und so viel Brokkoli essen, wie Sie wollen. Das können Sie nicht kompensieren.” Sie erklärt, wie das Altern dem Leistungsprinzip unterworfen ist – und wie sich das ändern könnte.
Wir wollen mehr – Arbeit ohne Barrieren
16.04.2025, ARD, 55 Minuten
Vor einer Woche gab es zum 1. Mai in ganz Deutschland Demonstrationen zum Tag der Arbeit. Anlass genug, um sich intensiv mit einem Ort zu beschäftigen, an dem nach wie vor Arbeit nicht dieselbe Wertschätzung erfährt wie im Rest der Gesellschaft: Werkstätten.
”Wir können helfen, wenn man uns lässt. Aber Israel lässt uns nicht”
01.05.2025, Der Spiegel, 15 Minuten
Nach dem Terrorangriff am 9. Oktober leiden weiterhin die Menschen in Israel und Palästina. Nur sind die Machtverhältnisse ungleich. Der Spiegel hat angesichts der aktuellen israelischen Blockade von Hilfsgütern für die Zivilbevölkerung Gazas mit zehn Helfer*innen von vor Ort gesprochen, um die Frage zu beantworten, wie die Lage aktuell in Gaza aussieht.
Aushungern von Asylsuchenden verboten
22.04.2025, Kaija Kutter/taz, 5 Minuten
Im Herbst 2024 hat die Ampel-Regierung kurz vor ihrem Scheitern eine Verschärfung des Asylrechts beschlossen, die es ermöglicht, unter bestimmten Voraussetzungen Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu streichen. So nicht, sagt jetzt das Hamburger Amtsgericht.
Geburtskliniken ohne Kinderärzt*innen
15.04.2025, MDR, 16 Minuten
Kleine Krankenhäuser können in Deutschland auch dann eine Geburtsstation haben, wenn keine Kinderärzt*innen vor Ort sind, um die Neugeborenen im Notfall zu versorgen. Kommt es zu Komplikationen bei der Geburt, kann das schwere Folgen für die Kinder und ihre Familien haben. Dieser Film zeigt zwei Schicksale – und Ansätze, um Geburten sicherer zu machen.
“Beim Trainieren frage ich mich… wäre ich im Pub glücklicher?”
27.04.2025, Isabel Brooks/The Guardian, 5 Minuten (Englisch)
Studien zeigen, dass die Generation Z sich gesünder verhält als andere vor ihr. Statt in den Pub gehen sie ins Fitnessstudio. Dass letzteres weniger kostet, ist nur ein Faktor. Ein anderer, ganz wesentlicher: die verbreitete Selbstoptimierung. Und während junge Menschen an sich arbeiten, nimmt die Vereinzelung zu. “Dritte Orte”, an denen man andere trifft, verschwinden. Mit 26 Jahren sucht die Autorin nach Wegen zum Wohlbefinden.
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Transparenz
Quellen
- Busemeyer, M. R., Jäger, F., Baute, S. (2025): Auf dem Abstellgleis? Zum Zusammenhang zwischen Ungleichheitswahrnehmungen und politischer Beteiligung. Policy Paper 19: Ungleichheit und soziale Mobilität. Cluster of Excellence “The Politics of Inequality”, Universität Konstanz.
- Busemeyer, M. R., Jäger, F. (2025): Sinkendes Vertrauen, zunehmende Ungleichheit? Die Performanz des deutschen Sozialstaats im Spiegel der öffentlichen Meinung. Working Paper, Cluster of Excellence “The Politics of Inequality”, Universität Konstanz.
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