“Wenn ich könnte, würde ich Glücksspiel verbieten”
Was macht Glücksspiel mit deinem Leben, wenn es zur Sucht wird? Was muss sich verändern? Das haben wir Sascha Heilig gefragt. Er ist spielsüchtig seitdem er 18 Jahre alt ist.
Interview mit Sascha Heilig
Sascha Heilig, 35, ist Unternehmer und, seitdem er 18 Jahre alt ist, spielsüchtig. Vor zwei Jahren veröffentlichte er das Buch “Mein Leben mit der Spielsucht”. Heute sagt er, das Onlinecasino war das Schlimmste an der ganzen Sucht. Im Interview erzählt Sascha, wie die Spielsucht sein Leben verändert hat und was er von der Politik fordert.
Hinweis: In dem Gespräch spricht Sascha über Suizidgedanken. Falls es dir aktuell nicht gut geht, findest du Hilfe unter der kostenfreien Nummer der Telefonseelsorge: 0800 1110111
Upstream: Sascha, wann hast du das letzte Mal gespielt?
Sascha Heilig: Das letzte Mal habe ich im Onlinecasino gespielt. Das war Ende 2019. Vor rund vier Jahren war ich das letzte Mal in einer Spielhalle.
Wie kam es zu deiner ersten Berührung mit dem Glücksspiel?
Sascha: Als ich 18 Jahre alt war, habe ich in Köln in einer Diskothek gearbeitet. Damals habe ich in Bergisch Gladbach gewohnt. Kein Führerschein, kein Auto. Also war ich immer auf die Bahn angewiesen. Nach einer Schicht in der Disco hatte ich noch knapp zwei Stunden Zeit, bis der nächste Zug nach Hause fuhr. Zum Überbrücken ging ich in ein Café, das rund um die Uhr offen war. An der Theke bestellte ich einen Kaffee. Da fiel mir das erste Mal ein Spielautomat auf. Ein älterer Mann fluchte und hackte auf den Automaten ein.
Auf den Automaten “einhacken”, ist das etwas Typisches?
Sascha: Wenn du mit der Zeit viel Geld in den Automaten geschmissen hast, kann es passieren, dass du einen Kontrollverlust erlebst. Dann fliegt schon mal ein Hocker in den Spielautomaten oder die bloße Faust in die Scheibe eines Automaten. Mittlerweile weiß ich: Das sind Anzeichen dafür, wie sehr du eigentlich schon in der Spielsucht steckst. Bei mir war die Wut mehr innerlich. Der Automat ist dein Gegner und du machst ihn verantwortlich dafür, wie erfolgreich dein Abend verläuft.
Wie ging es weiter mit dem fluchenden Mann?
Sascha: Kurze Zeit später stieß er einen lauten Jubelschrei aus. Das ganze Lokal gratulierte ihm. Ich hatte immer noch rund anderthalb Stunden Zeit. Also habe ich in meiner Tasche gegraben und zwei Euro gefunden. Ich hab mir dann gedacht, wirfst du halt mal diese zwei Euro in den Automaten. Vielleicht hast du Glück, vielleicht keins.
An diesem Abend warst du ja noch nicht automatisch spielsüchtig. Was ist dann passiert?
Sascha: Ich habe die zwei Euro in den Automaten geworfen und innerhalb kürzester Zeit 700 Euro gewonnen, also 698 Euro. Auf dem Weg zur Sparkasse habe ich erstmals festgestellt, wie viele Spielhallen sich in meinem Umfeld befinden. Ich habe dann 650 Euro eingezahlt und 50 Euro behalten, um eine größere Spielhalle auszuprobieren. Als ich in die Spielhalle kam, war alles kundenfreundlich. Ich wurde herzlichst begrüßt und bekam gleich Kaffee. Damals gab’s noch kostenlose Zigaretten und Essen umsonst. Alles, was du tun musstest, war dein Geld in die Automaten zu werfen. Das habe ich fortan getan. Am Anfang noch sporadisch, aber dann wurde daraus eine Routine. In der Spitze saß ich dreizehn Stunden in der Spielhalle. Ich bin nur noch arbeiten gegangen, um Geld zum Spielen zu haben. Es ist krass, in welcher kurzen Zeit ich die Realität zu Geld verloren habe.
Wie sah dein soziales Umfeld zu dem Zeitpunkt aus?
Sascha: Ich hatte viele Freunde, Bekannte und relativ guten Kontakt zu meinen Eltern. Ich wurde regelmäßig auf Geburtstage und Feiern eingeladen und war ein gern gesehener Gast. Auch aufgrund meines Jobs in der Diskothek hatte ich natürlich viel Kontakt zu anderen Menschen.
Wie hat dein Umfeld reagiert, als du ihnen von deinem ersten Gewinn erzählt hast?
Sascha: Von dem ersten Gewinn habe ich nur meiner damaligen Freundin erzählt. Wir Spielsüchtigen, aber insbesondere auch ich, sind die besten Schauspieler. Ich habe mir in diesem halben Jahr eine Fassade angeeignet und mich schnell sozial isoliert. Ich war ja jeden Tag in der Spielhalle und habe sämtliche Verabredung platzen lassen. Dazu kommt, dass ich meine Freunde um Geld betrogen habe. Ich habe mir innerhalb von Sekunden Geschichten einfallen lassen. Meine Waschmaschine wäre kaputt oder ich müsste höhere Anschaffungen machen. Am Anfang war das noch plausibel, aber als ich das Geld nicht mehr zurückzahlen konnte, bekam ich Ärger. Ich habe dann den Kontakt abgebrochen, denn es ging mir auf die Nerven, dass alle immer nachfragten, ob ich mittlerweile das Geld habe.
Das heißt, deine Freund*innen und Bekannten wussten zu der Zeit gar nicht, dass du spielst?
Sascha: Überhaupt nicht. Auch mein Arbeitgeber nicht. Bei dem habe ich mir ja Vorschuss geholt. Irgendwann hat er auch mal gefragt, warum ich das mache. Das passe doch auch rechnerisch nicht. Aber selbst da habe ich mir irgendwelche Begründungen einfallen lassen. Irgendwann kommst du in die Schleife rein, dass du Rechnungen mal nicht mehr bezahlen kannst, Miete nicht mehr bezahlen kannst, Strom nicht mehr bezahlen kannst, kein Geld mehr da ist. Dann bin ich relativ schnell in die kriminelle Schiene rein, weil ich ja Geld brauchte, um zu spielen.
Wann wurde dir klar: Ich habe ein Problem?
Sascha: Ich war nachts zocken. Am nächsten Morgen war meine ganze Wohnung durchwühlt. Erst habe ich gedacht, es sei eingebrochen worden. War es aber nicht. Auf dem Schreibtisch lag ein DIN-A4 Zettel von der Kriminalpolizei Bergisch Gladbach: “Wir haben eine Hausdurchsuchung bei Ihnen durchgeführt.” Das war zwei Jahre nach meinem ersten Spiel. Dann habe ich meinen Anwalt angerufen. Er war der erste, der mich konfrontiert hat: “Aufgrund der ganzen Geschichte, die ich jetzt schon mit dir seit Jahren mitmache und aufgrund der Geschichte, die jetzt auf dem Tisch liegt, möchte ich eine Vermutung äußern. Bitte antworte ehrlich, sonst kann ich dich nicht mehr rechtlich vertreten. Ich glaube, du spielsüchtig.” Das war das erste Mal, dass mich mal jemand proaktiv darauf angesprochen hat. Von diesem Moment wusste ich, was er sagt, kann stimmen.
Was hat dir dabei geholfen, den Schritt der stationären Therapie zu gehen?
Sascha: Geholfen hat mir die Androhung, dass ich in Haft muss. Noch heute ist meine größte Angst, ins Gefängnis zu müssen. Ich war in über hundert Fällen angeklagt wegen Betruges, gewerblichen Betruges und Urkundenfälschung. Ich bin dann zur Caritas gegangen und habe über sie die stationäre Therapie beantragt. Das ist ja relativ viel Papierkram, den es da zu bewältigen gibt.
Wie sah die Therapie bei dir aus?
Sascha: Acht Wochen, Klinik Münchwies, Spielergruppe. Ich hatte die kuriosesten Vorstellungen, wie eine stationäre Klinik aussieht. Ich dachte an eine Zwangsjacke und ein Räumchen, wo du eingesperrt bist. Als ich dort ankam, war es eher wie im Hotel. Ich hatte ein wunderschönes Einzelzimmer mit Blick auf einen Wald. An der Rezeption hat mich jemand von der Gruppe abgeholt, wo ich hin sollte. Das war eine reine Spielergruppe, also alles Menschen, die mit Spielsucht zu tun haben. Ich hatte Einzel- und Gruppentherapie. Es ging natürlich auch darum, den Umgang mit Geld wieder zu lernen. Auch die Gespräche mit den Mitpatienten haben mir viel geholfen. Und ich habe Sport gemacht. Am Ende der acht Wochen konnte ich zehn Kilometer in unter einer halben Stunde joggen.
Wie war das für dich, wenn du nach der Therapie an Spielhallen vorbeigehen musstest?
Sascha: Von meinen ersten Spielhallen bin ich direkt weggezogen nach Cochem. In Cochem gab es natürlich auch Spielhallen. Aber ich hatte mir unterbewusst angeeignet, dass ich die Straßenseite wechsel, wenn ich eine Spielhallen sehe. In Kneipen, in denen es Spielautomaten gab, habe ich mich so gesetzt, dass ich sie nicht sehe. Problematisch wurde es nur, wenn ich die Automaten beziehungsweise die Melodie der Spiele gehört habe. Davon hatte ich immer wieder mal kleine Flashbacks, weswegen ich versucht habe, solche Situationen zu meiden. Meinen Freunden und Bekannten habe ich offen davon erzählt, um mich selbst zu schützen. Durch meine Bewährung durfte ich mir aber auch nichts zu Schulden kommen lassen.
Du hattest später einen Rückfall. Wie ist es dazu gekommen?
Sascha: Ich habe in Cochem eine Ausbildung angefangen für zweieinhalb Jahre als Hotelfachmann. Als die Ausbildung beendet war, wusste ich nicht so recht, was ich machen sollte. Meine Frau war Friseurmeisterin in ihrem eigenen Friseursalon. Ich hab für sie dann ab und zu mal die Buchhaltung gemacht. Dann war dieser eine Moment da. In der Therapie habe ich so viele Mechanismen gelernt, was ich tun muss, wenn ich Suchtdruck bekomme. Doch da saß ich vorm Computer, hatte Langeweile und wollte eigentlich nur meine E-Mails checken. Plötzlich blinkt eine bunte Anzeige auf: “Zahl jetzt hier ein. Bekomme diesen Bonus.” Da habe ich alles vergessen, was ich mir angeeignet hatte. Ich habe darauf geklickt und mich angemeldet. Allein dieser Anmeldeprozess dauert zwischen fünf und zehn Minuten, bis du dein Konto verifiziert und dein Geld eingezahlt hast. Ich habe also Geld eingezahlt und genau wie beim ersten Mal mit wenig Einsatz maximalen Gewinn rausgeholt. So habe ich 278.000 € gewonnen. Das war nach drei Jahren der Anfang vom Ende.
Was ist dann passiert?
Sascha: Meine Frau wusste von meiner Spielsuchterkrankung. Ich habe diesen Gewinn ausgedruckt und ihr gezeigt. Sie war gleichzeitig glücklich und wütend. Ich hab ihr meine Bankkarte gegeben und gesagt, ich mache das nie wieder. Mein Therapeut aus der ersten stationären Therapie hatte mir im Abschlussgespräch gesagt: “Ich wünsche dir das Beste, aber bedenke: 90 Prozent von allen, die die Klinik verlassen, sehe ich mindestens einmal wieder. Ein Rückfall gehört dazu, das ist nicht schlimm.” In dem Moment, in dem der Rückfall passiert ist, kam dieser Satz hoch. Ich hab mir dann gesagt, das ist nichts Schlimmes, es ist eben eine Krankheit. Als das Geld auf dem Konto war, habe ich mit meiner Frau in Saus und Braus gelebt. Innerhalb von drei Monaten habe ich knapp 80.000 Euro für Schuldentilgung, ein Auto oder VIP-Plätze beim ersten FC Köln auf den Kopf gehauen.
Das Geld wurde also schnell weniger …
Sascha: Als ich festgestellt habe, wie viel Geld schon weg ist, habe ich den Rest im Onlinecasino verzockt, täglich fast 5.000 Euro. Ich dachte, vielleicht klappt das ja nochmal. Das Onlinecasino war schlimm, weil es keine Limits gab. Als mein Geld dann weg war, bin ich wieder kriminell geworden. Ich hab dann erst das Geld aus dem Friseursalon meiner Frau genommen, später einen guten Freund um sehr viel Geld betrogen. Auch sonst habe ich alle möglichen Betrugsdelikte gemacht. Immer mit der Hoffnung, dass ich irgendwann nochmal diesen großen Wurf habe, um alle Schulden zurückzuzahlen. Das hat nicht funktioniert und es wurde immer schlimmer und schlimmer. Ich habe die Rechnungen, die im Friseursalon aufgelaufen sind, vor meiner Frau geheim gehalten. Sie hat mir komplett vertraut, weil sie ja dachte, dadurch, dass sie die Bankkarte hatte, könnte ich nicht mehr zocken. Aber ich hatte das Online-Banking als Hintertür.
Dein soziales Umfeld war während deiner zweiten Spielphase mehr sensibilisiert, als in der ersten Phase. Hat das irgendwas verändert?
Sascha: Nein, ich habe wieder meine Maske aufgesetzt. Mein Bekanntenkreis hat nur gesehen, der hat ja Geld, also ist alles gut. Dementsprechend fiel es mir leicht, meine kriminellen Machenschaften zu verüben. Ich habe meinen damaligen besten Freund um sehr viel Geld betrogen. Ich sollte Einzahlungen für ihn machen, weil er ein Geschäft in Cochem hatte, aber seine Frau schwer krank wurde. Darum hat er mir die operative Geschäftsleitung übertragen. Das Geld habe ich zum Spielen genommen. Irgendwann kam er natürlich dahinter, dass Gelder nicht eingezahlt wurden.
Dann hattest du wieder die Polizei im Haus …
Sascha: Ja, der besagte Freund wollte sich sein Geld einklagen. Der Anwalt vermutete noch Unterlagen und Tresorschlüssel bei mir. Also gab es wieder eine Hausdurchsuchung. Und auch wenn ich die Sachen gar nicht mehr hatte, war das sowohl für mich als auch für meine Frau wieder der Aufwach-Moment. Ab da kam Stück für Stück alles auf den Tisch.
Wie verlief das Verfahren?
Sascha: Die Anklage lautete unter anderem Betrug. Zwischen Anklageerhebung und Gerichtstermin vergingen sechs Monate. Selbst meine Anwälte wussten nicht, was passieren würde. Meine Anwältin sagte, sie wisse nicht, ob das jetzt Haft wird oder nochmal Bewährung. Meine Bewährung, die ich in der Zwischenzeit schon mit Erfolg abgeschlossen hatte, hätte durch die Staatsanwälte widerrufen werden können, weil manche Betrugsdelikte schon am Ende der Bewährungszeit aufgetreten waren. Das ist zum Glück nicht passiert. Ich habe trotzdem eine Depression bekommen und bin komplett apathisch geworden. Ich habe kaum noch geschlafen, weil mich diese Angst, dass ich ins Gefängnis muss, aufgefressen hat.
Warst du zu der Zeit in psychologischer Betreuung?
Sascha: Ja. Nachdem die Polizei bei mir war, habe ich sofort wieder die Caritas gesucht und eine ambulante Therapie angefangen. Ich habe mir einen Job gesucht, damit ich Schadenswiedergutmachung leisten kann. Außer mir und meiner Frau wusste bis dahin keiner von der Anklage, aber dadurch, dass viele die Polizisten auf der Terrasse stehen sehen haben, gab es Vermutungen. Cochem ist nicht besonders groß. Da wissen viele Leute mehr über einen, als man selbst. Das hat man nach dem Gerichtsverfahren noch gesehen.
Dann fand das Gerichtsverfahren statt …
Sascha: Ich bin morgens aufgestanden und völlig durch gewesen. Meine Frau auch. Auf den Moment hab ich sechs Monate gewartet, aber es stand ja überhaupt nicht fest, was passiert. Erst wurden Zeugen vernommen, dann ich. Ich war geständig und habe alles zugegeben. Dann hat die Staatsanwältin ihr Schlussplädoyer gehalten und die ganzen Strafmaße zusammengezählt. Ich weiß noch wie heute, dass ich dabei meine Frau angeguckt habe, die im Gerichtssaal saß. Ich habe mit dem Kopf geschüttelt und sie ist in Tränen ausgebrochen, weil wir dachten, ich wäre jetzt sehr lange weg. Zum Schluss hat die Staatsanwältin noch gesagt, dass sie die Schadenswiedergutmachung dagegen rechnet, womit sie auf zwei Jahre Bewährung und drei Jahre Bewährungsfrist kam. Das ist das Maximum, was das deutsche Gesetzbuch hergibt, um noch irgendwie auf Bewährung zu sein. Meine Anwältin hat da natürlich nichts gegen gesagt und sich dem Antrag angeschlossen.
Wie offen bist du damit in deinem sozialen Umfeld umgegangen?
Sascha: Ich mache kein Geheimnis daraus, aber mein soziales Umfeld ist sehr klein. Sucht macht extrem einsam, währenddessen und auch danach. Das belastet mich noch heute. Viele haben sich abgewendet und können nicht verstehen, was Spielsucht bedeutet. Dass es eine Krankheit ist. Seit den Ereignissen ist es extrem schwierig, ein soziales Umfeld aufzubauen. Ich habe mich dann 2020 dazu entschieden, meine Geschichte öffentlich zu machen. Ich bekomme viel positives Feedback, aber es gibt auch Menschen, die nicht gut finden, dass ich an die Öffentlichkeit gehe. Sie sagen: “Er hat doch seiner Frau schon genug Schaden angerichtet” und sehen nicht, was ich eigentlich bezwecken möchte: Aufklären.
Welche Rolle spielt der Begriff Verantwortung für dich?
Sascha: Ich will mich nicht als Opfer meiner Krankheit darstellen. Das bin ich nicht. Keiner hat mich gezwungen, diese zwei Euro in den Automaten zu werfen oder auf Werbung für das Onlinecasino zu klicken. Es ist zwar eine Krankheit, aber letztendlich habe ich mich selbst für gewisse Dinge entschieden. Auch die Betrugsdelikte habe ich selbst begangen und vielen Menschen Schaden zugefügt. Nicht zuletzt habe ich meiner Frau fast ihre komplette Existenz genommen. Ich kann verstehen, dass Menschen mich für das verurteilen, was ich getan habe. Aber irgendwann muss es dann gut sein. Mittlerweile führe ich zwei Unternehmen: eine Marketingagentur und das Unternehmen “Spielfrei.Werden & Bleiben”, mit dem ich Suchtprävention fördere. Auch hier trage ich Verantwortung.
Inwiefern bist du von Stigmatisierung betroffen?
Sascha: Mein soziales Umfeld ist relativ klein. Jeder, der meinen Namen googelt, weiß, was bei mir Sache ist. Die Leute, die ich habe, achten auf mich und schauen, dass es mir gut geht. Natürlich wird vieles auf die Spielsucht oder einen Rückfall projiziert, selbst wenn ich nur einen schlechten Tag habe. Ich finde es gut, dass Glücksspiel mittlerweile eine anerkannte Krankheit ist. Ich habe selbst erfahren, dass viele Dinge unterbewusst passiert sind. Dabei stößt man heute noch an Grenzen, wenn man vor Gericht beweisen muss, dass man spielsüchtig ist. Dabei geht es ja auch um die Anerkennung meiner Lebensgeschichte. Die allgemeine Meinung, dass Spielsucht eine Verhaltensweise ist, die man einfach ablegen könnte, ist immer noch allgegenwärtig. Meine Mutter hat immer gesagt, hör doch einfach auf.
In den letzten Jahrzehnten ist auch Glücksspiel zunehmend legalisiert worden. Was bedeutet das für die individuelle Verantwortung von Spieler*innen, wenn der Staat es immer leichter macht zu zocken?
Sascha: Der Glücksspielstaatsvertrag gibt gewisse Richtlinien. Aber wenn er nicht kontrolliert wird, ist das ein Problem. Ich kenne viele Personen, die noch spielen. Die berichten, dass sie immer noch 100 Euro pro Drehung setzen können, obwohl der Glücksspielstaatsvertrag regelt, dass es maximal zwei Euro sein sollen. Was nützt er uns dann? Letztendlich bedeutet die Legalisierung vom Zocken Steuereinnahmen. Aber Geld sollte nicht über der Gesundheit von Menschen stehen.
Was wünschst du dir konkret von Politiker*innen?
Sascha: Wenn man einen Glücksspielstaatsvertrag macht, dann sollte man für effektive Kontrollmechanismen sorgen. Gerade das Thema YouTube, Streamer, Twitch sollte fokussiert werden. Die Streams ermöglichen es einem, sich ständig damit zu konfrontieren, wie leicht es angeblich ist zu gewinnen. Das hat mich auch angespornt weiter zu machen und zu schauen, ob es einen Trick gibt. Ich wünsche mir, dass das unterbunden wird. Gerade ist das Thema Sportwetten groß. Es gibt mittlerweile ein Bündnis gegen Sportwetten, die Bandenwerbung in den Stadien werden eingeschränkt. Ich habe das Gefühl, das Thema Onlinecasino geht gerade unter.
Twitch hat letzte Woche bekannt gegeben, ab Mitte Oktober bestimmte Glücksspiel-Streams zu untersagen. Wie bewertest du das?
Sascha: Die Umsetzung wird zeigen, wie gut das funktioniert. Häufig gibt es Grauzonen, die auch genutzt werden. Onlinestreamer wechseln dann eben die Plattform oder das Glücksspiel. Bemerkenswert finde ich, wie viele Kinder und Jugendliche unter den Usern sind und so viel zu früh an Glücksspiel herangeführt werden. Die sollten damit gar nicht erst in Berührung kommen. Jetzt werden aber erstmal die zunehmenden finanziellen Existenzängste dafür sorgen, dass die Glücksspielrate explodiert. Wenn man nicht mehr weiß, wie man seine Rechnungen bezahlen soll, ist die Versuchung groß, sich am Glücksspiel zu probieren. Das Schlimmste ist, wenn du beim ersten Mal einen hohen Gewinn erzielst. Das habe ich selbst erlebt. Dann ist die Abwärtsspirale fast vorprogrammiert.
Es gibt verschiedene Präventionsansätze. Häufig steht die Eigenverantwortung von Spieler*innen im Fokus. Was hältst du davon?
Sascha: Aufklärungsarbeit ist gut, aber sie muss richtig umgesetzt werden. Wenn irgendwo ein Plakat hängt, das darauf hinweist, dass Glücksspiel süchtig machen kann, hält das doch niemanden ab. Es braucht abschreckende Beispiele und echte Geschichten in der Öffentlichkeit. Wenn ich in eine Schulklasse gehe, um meine Geschichte zu erzählen, ist es fast immer mucksmäuschenstill.
Was ist aus deiner Perspektive noch notwendig?
Sascha: Wenn ich könnte, würde ich Glücksspiel komplett verbieten. Klar bringt es Steuergelder, aber diese Steuergelder sind Geld mit dem Leid von Menschen – nicht nur der Spieler. Ich bin 35 Jahre alt, ich werde mein ganzes Leben lang mit dieser Sucht leben. Ich habe jeden Monat den Druck, dass ich meine Schulden bezahle. Jeden Tag den Druck, dass ich keinen Rückfall bekomme. Zeitweise sind die Depressionen noch präsent. Ich bin ja froh, dass die Werbespots für Glücksspiele tagsüber nicht mehr im Fernsehen laufen, aber nach 22 Uhr laufen sie trotzdem. Die Krankheit Spielsucht ist eine mit den höchsten Suizidraten. Ich selbst war an dem Punkt, an dem ich keinen anderen Ausweg mehr gesehen habe. Es hört nicht mehr auf in deinem Kopf zu rattern. Du träumst immer wieder von diesen Bildern und speicherst dir die Melodien ab. Heute könnte ich bei “Wetten, dass …” eine Wette machen, dass ich anhand der Melodien von den Spielen sagen kann, welches Spiel das ist. Ich werde häufig gefragt, ob man ohne Hilfe von Glückspielsucht wegkommen kann – und ja, es gibt Menschen, die können das – aber die allermeisten brauchen Unterstützung, wenn sie erstmal in diesem Strudel sind.
→ Hier findest du Unterstützung:
- Unter der kostenfreien Nummer 0800 137 27 00 bietet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Telefonberatung an.
- Du suchst Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen oder Kliniken? Die Seite spielsucht-therapie.de hat eine Übersicht zusammengestellt.
- Auch die Interessengemeinschaft “Anonyme Spieler” stellt auf ihrer Internetseite eine Übersicht an Selbsthilfegruppen bereit.