Polikliniken, Flussmetaphern und was uns krank macht | Upstream
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Takeaways

Das erwartet Sie in dieser Ausgabe

  • Was “Upstream“ bedeutet und warum wir den Newsletter danach benannt haben.
  • Wodurch wird unsere Gesundheit beeinflusst? Das Modell Sozialer Determinanten hilft, Einflüsse auf die Gesundheit zu verstehen und Verantwortungen zu benennen. Wir sprechen mit dem Public-Health-Wissenschaftler David Klemperer.
  • Praxistauglich: Die Poliklinik Leipzig setzt Gesundheitsprävention in der Nachbarschaft um. Ein Gespräch mit Jonas Löwenberg.

Willkommen zur ersten Ausgabe von Upstream, Ihrem Sozialmedizin-Newsletter. Wir sind schon eine kleine Community von über 50 Leser:innen! Gemeinsam mit Ihnen wollen wir der Frage auf den Grund gehen, wie Ungleichheit krank macht. Wir, das sind Anne Wagner, Maren Wilczek und Sören Engels, Studierende der Universität Halle.

In Upstream betrachten wir Kontexte der individuellen Gesundheit aus wissenschafts-journalistischer Perspektive. Wie wird Gesundheit durch Umwelt, Lebensbedingungen, Arbeit, soziales Umfeld, soziale Ungleichheit oder Diskriminierung beeinflusst? Wie (un)gerecht sind Risiken verteilt?

Ausgabe für Ausgabe decken wir in den kommenden Wochen Problemfelder auf, erklären sie und suchen nach Lösungen. Dabei liegen uns konstruktive Perspektiven von Menschen, die diesen Problemen begegnen, besonders am Herzen. Wir freuen uns, dass Sie diese Reise begleiten.

Ihre Anne Wagner, Maren Wilczek und Sören Engels

Haben Sie Feedback, Kritik oder Anregungen? Antworten Sie auf diese Mail! Sie wollen uns unterstützen? Erzählen Sie einer Person von Upstream, indem Sie diese Mail weiterleiten. Oder folgen Sie uns auf Twitter! Wurde Ihnen der Newsletter weitergeleitet? Hier können Sie ihn abonnieren!

Begriff erklärt

Sind Sie schon über unseren Namen gestolpert?

Stellen wir uns die Entstehung von Krankheit als eine Kausalkette vor, beschreiben die Begriffe Upstream und Downstream zwei Blickrichtungen auf diese Kette von Gründen. Die beiden Perspektiven bieten Anhaltspunkte dafür, wo mit Hilfe von Interventionen, die Kette der Gründe für Krankheit zerbrochen werden kann.

Bilder sagen mehr als tausend Worte

Seit rund 50 Jahren greifen Mediziner:innen auf das Bild eines Flusses zurück, um die Wirkungsweise sozialmedizinischer Interventionen verständlicher zu erklären. Irving Zola, Behindertenrechtsaktivist und Autor, soll es sich erdacht haben.

Das Bild erzählt eine Geschichte: ein reißender Fluss, mehrere Menschen schwimmen darin, dem Ertrinken nahe. Eine Ärztin hört einen Schrei um Hilfe. Sie springt ins Wasser und rettet eine ertrinkende Person. Im selben Moment als die Beatmung zum Erfolg führt, hört sie den nächsten Schrei. Das wiederholt sich einige Male. Die Medizin setzt in der Regel hier an. Sie sieht ein Symptom (Menschen im Wasser) und versucht es zu beheben.

Und die Sozialmedizin?

Die Sozialmedizin setzt einen Schritt vorher an. Sie stellt die Frage: Warum ertrinken hier so viele Menschen? Im Bild geblieben, wandert ein Sozialmediziner den Fluss stromaufwärts. Er sucht nach den Ursachen für das Ertrinken. Läuft irgendwo eine giftige Chemikalie in den Fluss, die eine Orientierung behindert? Ist ein Geländer kaputt, durch das Menschen regelmäßig ins Wasser fallen oder gar die Brücke eingestürzt?

Zeichnung eines reißenden Flusses.
Illustration: Wie sich die Perspektiven von Medien und Sozialmedizin unterscheiden © @bittere.pille, bearbeitet von Upstream

Eine Strategie, die stromaufwärts an der Quelle der Problematik ansetzt, also beispielsweise bei sozialen Ungleichheiten, wird in der Sozialmedizin daher als Upstream bezeichnet. Die Idee dahinter ist, dass wenn man soziale Ungleichheit reduziert, die Chancen steigen, dass benachteiligte Personen gesund leben können und von vornherein nicht erkranken. Im Bild der beschädigten Brücke würde eine Intervention upstream versuchen, diese Brücke zu reparieren, um zu verhindern, dass die Menschen in den Fluss fallen.

Ansätze stromabwärts zielen hingegen darauf ab, wie Einzelne unter gegebenen Bedingungen ihr Leben gestalten oder sind noch weiter flussabwärts direkt in der individuellen Behandlung zu verorten. Soziale Ungleichheit und deren Wirkung werden bei Downstream-Interventionen als gegeben angenommen. Es wird versucht, die daraus resultierenden Nachteile abzufedern. Betroffene werden mit ihren jeweiligen Symptomen behandelt, beziehungsweise in ihrem Gesundheitsverhalten zur Resilienz bestärkt. Im Bild der beschädigten Brücke ist das Aus-dem-Wasser-retten die downstream gelegenste Intervention. Ein Aufklären über die Risiken der Überquerung einer solchen Brücke oder ein Training für Weitsprung ließe sich etwas weiter flussaufwärts, aber nach wie vor nicht nahe der Quelle ansiedeln.

Darum haben wir den Newsletter “Upstream” genannt

Mit Upstream folgen wir dem Ansatz des Konstruktiven Journalismus. Uns ist wichtig, nicht nur Problemlagen, sondern auch Handlungsoptionen aufzuzeigen. Daher stellen wir im Newsletter neben Studien und fachlichem Input Menschen und Initiativen vor, die drängenden Gesundheitsproblemen für die Gesellschaft begegnen. Diese Initiativen setzen häufig downstream an. Sie sind der Arzt, beziehungsweise die Ärztin, die ununterbrochen dem Ertrinken nahestehende Personen aus dem Fluss ziehen oder über die Risiken eingestürzter Brücken aufklären. Warum wir dennoch Upstream heißen? Im öffentlichen Diskurs scheint eine weite Perspektive auf das Thema Gesundheit kaum sichtbar zu sein. Wir sehen die Notwendigkeit verschiedener Ebenen, haben den Newsletter jedoch Upstream genannt, um zu betonen, dass Antwort auf die Frage, warum wir krank werden, stärker flussaufwärts an der Quelle gesucht werden muss.

Wissenschaftsexpress

Was beeinflusst unsere Gesundheit?

Um die Einflüsse auf die Gesundheit besser zu verstehen, die nicht biologisch sind und auf die wir keinen Einfluss haben, entwickelten Dahlgren & Whitehead vor rund 30 Jahren das Modell der Sozialen Determinanten.

Abbildung eines Halbkreises mit verschiedenen Schichten. Den Kern bildet die Wortgruppe: Genom, Alter, Geschlecht. Darüber liegt die Schicht: individuelles Gesundheitsverhalten. Darüber liegt die Schicht: individuelle Lebenswelten und Milieus. Darüber liegt eine etwas breitere Schicht mit verschiedenen Elementen: Lebensmittelproduktion und -angebot; Umwelthygiene; Bildung; Lebens- und Arbeitsbedingungen; Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung; Gesundheitsversorgung; und Wohnbedingungen. Die äußere Schicht bildet die Wortgruppe: Gesellschaftsordnung, Regierungsform, Machtverhältnisse, politische Gestaltung.
Grafik: Das Dahlgren-Whitehead-Modell der Determinanten der Gesundheit. via: Klemperer 2020, bearbeitet von Upstream

Die verschiedenen Ebenen des Modells sollen helfen, die Wechselwirkungen der einzelnen Ebenen und deren Einfluss auf die Gesundheit zu verstehen. Die einzelne Person steht im Zentrum. Hier ist die Gesundheit von den biologischen Voraussetzungen geprägt. Mit dem individuellen Gesundheitsverhalten kommt eine weitere Einflusssphäre dazu: Beispielsweise haben Verhaltensweisen wie Rauchen oder Sport treiben einen Einfluss auf die Gesundheit.

Also ist doch jede Person selbst für ihre Gesundheit verantwortlich?

Jein. Sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass wie sich eine Person individuell verhält, auch durch gesellschaftliche Einflüsse geprägt ist. Daher sollte das individuelle Gesundheitsverhalten im Kontext der Lebenswelten und sozialen Gruppen betrachtet werden, denen eine Person angehört. Gibt es viele Sportvereine in der Umgebung? Ist es in der sozialen Gruppe, in der eine Person unterwegs ist, verpönt zu rauchen oder ist es der Standard?

Darüber liegen die allgemeinen Lebensbedingungen, die wieder auf die sozialen Gruppen wirken. Und schließlich sind all diese Faktoren in eine Gesellschaftsordnung eingebettet, die maßgeblich politisch gestaltet wird.

Gesundheit auf allen Ebenen

Der Sozialmediziner David Klemperer ist überzeugt, dass sich gesundheitliche Ungleichheiten nur beseitigen ließen, wenn man die sozialen Ungleichheiten beseitigt. “Das ist eine anspruchsvolle politische Aufgabe, die nicht in erster Linie eine medizinische ist”, so Klemperer im Interview. Man müsse alle Politikbereiche auch aus der Gesundheitsperspektive denken.

Darauf dürfen sich Ärzt:innen allerdings nicht ausruhen. Insbesondere Hausärzt:innen, Kinderärzt:innen und Gynäkolg:innen seien mit der sozialen Wirklichkeit ihrer Patient:innen konfrontiert. Jedoch genießen alle Mediziner:innen ein hohes gesellschaftlichen Ansehen: “Ihre Stimme wird gehört. Diese Stimme sollten sie vermehrt auch für nicht-medizinische Forderungen erheben, die zur Minderung der sozialen Ungleichheit der Gesundheit beitragen können.”

>>> Lesen Sie hier weiter, wenn Sie mehr über die Geschichte der Sozialmedizin und die Bedeutung der sozialmedizinischen Perspektive für einen breiten Blick auf Gesundheit erfahren wollen. Das Interview mit David Klemperer.

Praxistauglich

Teaser für das Interview mit Jonas Löwenberg über die Poliklinik Leipzig. Oben links: Im Interview. Jonas Löwenberg. Unten links: Solidarisches Gesundheitszentrum Leipzig. @Poliklinik_Le. Rechts: Potrait von Jonas Löwenberg.

Poliklinik: kurze Wege und ein weiter Blick

“Unsere Gesundheit hängt stärker von den Verhältnissen ab, in denen wir leben, als von unserem Gesundheitsverhalten. Und auch das wird wiederum massiv von den Verhältnissen beeinflusst”, erklärt Jonas Löwenberg. Er ist Sozialarbeiter und in der Poliklinik Leipzig und im gleichnamigen bundesweiten Syndikat aktiv. Polikliniken sieht er als einen Ansatz, um Verhältnisse, die Auswirkungen auf die Gesundheit haben, zu verbessern.

Das Idealkonzept: “Ein offenes Nachbarschaftszentrum, in dem auch Gesundheitsangebote zu finden sind”, so Löwenberg. Im besten Fall sei eine Poliklinik ein Sammelpunkt medizinischer Versorgung und ein Ort, an dem Menschen befähigt werden, ihre Lebensverhältnisse gemeinsam zu analysieren und zu verändern. Haus- und Fachärzt:innen profitieren davon, indem sie Patient:innen mit Beschwerden, deren Ursache in den Lebensumständen liegt, an die Poliklinik verweisen können, um diese Probleme anzugehen.

Die Poliklinik in Leipzig

In Leipzig befinde sich die Poliklinik im Aufbau, erklärt Jonas Löwenberg: “Wir bieten gerade ausschließlich Beratung und Präventionsarbeit an und behandeln weder medizinisch noch psychologisch, aber haben medizinische Gesundheitsberatung und psychosoziale Beratung umgesetzt. 2021 soll das um eine allgemeine Sozialberatung ergänzt werden.” Bereits jetzt sei die Poliklinik ein Treffpunkt für Menschen im Stadtteil Schönefeld, zum Beispiel für eine Mietergemeinschaft, die sich für bessere Wohnverhältnisse einsetzt. Weitere Poliklinik-Gruppen gibt es in Hamburg, Berlin, Köln und Dresden.

>>> Sie wollen mehr über die Polikliniken erfahren? Dann empfehlen wir Ihnen das Interview mit Jonas Löwenberg.

Der Ansatz, bestehende Verhältnisse zu verändern, um eine Umgebung zu schaffen, die Gesundheit fördert, wird als “Verhältnisprävention” bezeichnet. Der Poliklinik-Ableger in Hamburg-Veddel hat zu diesem Begriff ein anschauliches Video produziert.

Grafik: Verweis auf externes Video der Poliklinik Veddel zum Thema Verhältnisprävention

Aktuelles

Das sollten Sie noch wissen

  • Steht Geld über Gesundheit? Ein Arzt packt aus über den Patienten als Ware.Ärzt:innen, Medizin-BWLer:innen und Patient:innen berichten im Y-Kollektiv-Podcast von ARD-funk über den Druck, mit Gesundheit Gewinne zu maximieren.
  • Kann man auf Instagram zwischen witzigen Videos und schicken Fotos Interesse für Sozialmedizin wecken?Ja! Der Kanal @bittere.pille beweist es. Unsere Kommiliton:innen haben ihn vor einigen Wochen ins Leben gerufen.
  • „Corona-Erschöpfung“nennt Theresa Bäuerlein das Gefühl schleichender Gleichgültigkeit während der Pandemie. In ihrem Newsletter bei Krautreporter schreibt sie, warum dieser Zustand gefährlich sein und wie man ihm begegnen kann.

Ausblick

Ausblick

In der kommenden Ausgabe beschäftigt uns die Frage: Warum sind arme Menschen häufiger krank? Um Antworten zu finden, beleuchten wir das Thema Armut allgemein: Was bedeutet “arm” überhaupt? Wir fragen einen Arzt und Sozialarbeiter, was Armut und Gesundheit miteinander zu tun haben und legen die wissenschaftliche Lupe auf die Hartz-IV-Reformen in Deutschland. Ganz praxistauglich schauen wir uns ein Projekt an, das sozial benachteiligte Menschen in der Corona-Krise unterstützt.

Wissen ist Diskurs

Der Newsletter soll nicht nur unseren, sondern möglichst auch Ihren Qualitätsansprüchen genügen. Daher ist uns besonders Ihre Rückmeldung wichtig: Was gefällt Ihnen gut und was finden Sie unschlüssig? Welchen Punkt sollten wir in einer zukünftigen Ausgabe noch einmal vertiefen? Worin stimmen Sie nicht überein oder wo haben wir einen Fehler gemacht? Antworten sie einfach auf diese Mail oder schreiben sie an mail@upstream-newsletter.de. Wir würden uns freuen, von Ihnen zu hören.

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen besonders wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf unserer Website haben wir unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen

Über uns

Der Newsletter ist in einem interdisziplinären Projekt von Medizin- und Medienstudierenden der Universität Halle-Wittenberg entstanden. Dahinter stehen Anne Wagner, Maren Wilczek und Sören Engels. Wenn Sie mehr über uns und unsere Hintergründe erfahren möchten, schauen Sie auf der Website des Newsletters vorbei oder schicken Sie uns Fragen per E-Mail an: mail@upstream-newsletter.de. Dort oder bei Twitter freuen wir uns auch über Feedback und Anregungen zu dieser oder zukünftigen Ausgaben.