Gesundheit braucht strukturelle Lösungen
Jonas Löwenberg von der Poliklinik Leipzig fehlen strukturelle Lösungen in unserem Gesundheitssystem. Das solidarische Gesundheitszentrum in Leipzig möchten einen verhältnispräventiven Ansatz betreiben.
Mit der Poliklinik öffnete im Frühjahr 2020 ein solidarisches Gesundheitszentrum in Leipzig Schönefeld seine Türen. Hier beraten Mitarbeiter:innen wie Mediziner:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und Jurist:innen interdisziplinär Anwohner:innen zu ihrer Gesundheit. Jonas Löwenberg ist Sozialarbeiter und engagiert sich in der Poliklinik. Er erklärt, was ein solidarisches Gesundheitszentrum auszeichnet und wie es für die Menschen vor Ort wirksam wird.
Upstream: Warum brauchen wir Polikliniken?
Jonas Löwenberg: Wenn gesundheitliche Schäden oder Probleme auf Verhältnissen beruhen, kann die Medizin leider nur Symptombekämpfung leisten. Wenn ich in einer schimmeligen Wohnung wohne, kann eine Ärztin meine Schäden minimieren, aber es ist weder ihre Aufgabe, noch ist es für eine allgemeinmedizinische Praxis leistbar, den Schimmel aus der Wohnung zu kriegen. In der Poliklinik kann gefragt werden: Wovon hängt unsere Gesundheit ab?
Was genau ist ein “solidarisches Gesundheitszentrum”?
Löwenberg: Das Idealkonzept der Polikliniken im Syndikat ist ein offenes Nachbarschaftszentrum, in dem auch Gesundheitsangebote zu finden sind. Das heißt, dass ein gemeinsamer Ort entsteht, an dem mindestens eine Hausarztpraxis ist und soziale und Gemeinwesenarbeit stattfindet. Optimalerweise kommen noch Kinderarztpraxis und Gynäkologie, Psychotherapie, psychosoziale Beratung dazu. Dort soll aber noch mehr möglich sein: Es soll ein Ort sein, an dem sich Nachbarn, Selbsthilfegruppen und Initiativen treffen und die vorhandenen Ressourcen nutzen können.
Wofür steht das “solidarisch”?
Löwenberg: Der Zusatz “solidarisch” steht der üblichen profitorientierten und ärzt:innenzentrierten Herangehensweise im Gesundheitssystem entgegen. Wir sind ein gemeinnütziger Verein. Bei uns gibt es keine Hierarchien. Wir entscheiden basisdemokratisch und wollen langfristig auch den Stadtteil in Entscheidungen mit einbinden.
Wie wird das konkret umgesetzt?
Löwenberg: Der aktuelle Status des Gesundheitszentrums entspricht noch nicht dem Idealkonzept. In Leipzig bieten wir gerade ausschließlich Beratung und Präventionsarbeit an. Wir behandeln weder medizinisch noch psychologisch, aber haben eine medizinische Gesundheitsberatung und psychosoziale Beratung. Das soll um eine allgemeine Sozialberatung und mobile Präventionsarbeit im Stadtteil ergänzt werden.
Inwiefern kann eine Poliklinik Lücken im regulären Gesundheitssystem ausfüllen?
Löwenberg: Zwei Lücken werden damit geschlossen: Die Wege zwischen den medizinischen, sozialen und beratenden Angeboten werden kürzer und es besteht Kontakt zwischen den Professionen, die sich um das Wohlbefinden der Menschen kümmern. Außerdem konzentrieren wir uns nicht nur auf verhaltensbasierte Maßnahmen, sondern nehmen bewusst die Lebensverhältnisse in den Blick.
Warum ist es wichtig, die Lebensverhältnisse anzuschauen?
Löwenberg: Unsere Gesundheit hängt stärker von den Verhältnissen ab, in denen wir leben, als von unserem Gesundheitsverhalten. Das Gesundheitsverhalten wird wiederum massiv von den Verhältnissen beeinflusst. Da reicht es nicht, individuelle Probleme von Menschen zu behandeln, sondern es ist notwendig, die Verhältnisse in den Blick zu nehmen und zu verändern. Das kann im Kleinen bedeuten, einer Person eine bessere Wohnung zu besorgen, oder an Arbeitsbedingungen zu schrauben. Langfristig heißt es aber auch, allgemein Wohn- und Arbeitsverhältnisse in den Blick zu nehmen und große, strukturelle Lösungen zu finden.
Gibt es Schnittstellen der Arbeit der Poliklinik mit der von Haus- und Fachärzt:innen?
Löwenberg: Ja, die konkreten gesundheitlichen Auswirkungen der Verhältnisse muss man ja trotzdem behandeln. Vieles, was im Gesundheitssystem nicht gut läuft, liegt nicht daran, dass Ärzt*innen schlechte Behandlung anbieten, sondern ist systembedingt. Ich glaube, es kommt Praxen zugute, wenn sie die Möglichkeit haben, zu sagen: Hier sind unsere Grenzen erreicht, aber bei der Poliklinik findest du Hilfe mit deinen anderen Themen. In Hamburg-Veddel gibt es das zum Beispiel. Als die Poliklinik dort eröffnet wurde, gab es genau eine Arztpraxis im Viertel. Die Poliklinik wurde nicht an dieser Praxis vorbei entwickelt, sondern es gab von Anfang an Austausch, wie man diese Unterversorgung gemeinsam in den Griff bekommen kann.
Was würden Sie Ärzt:innen antworten, die diesen interdisziplinären Ansatz für unwichtig halten?
Löwenberg: Ich glaube, ich würde erstmal fragen, auf welchen Konzepten dann ihre medizinische Praxis basiert. (lacht) So gerne wir den Modellprojektcharakter der Polikliniken herausheben, berufen wir uns ja auch nicht auf irgendwelche abenteuerlichen Konzepte. Wir versuchen im Grunde genau das, was die WHO an Konzepten und Methoden wissenschaftlich erarbeitet, praktisch umzusetzen.
Die Poliklinik in Leipzig möchte Besucher:innen ermutigen sich bei Fragen und Anliegen gegenseitig zur Seite zu stehen, Ideen zu entwickeln und selbst tätig zu werden. Was bedeutet das in der Praxis?
Löwenberg: Das ist der klassische Ansatz von Selbsthilfegruppen. Aber die Spannweite von Themen, zu denen Menschen sich zusammentun, ist sehr groß. Wir wollen nicht aus Paternalismus heraus Menschen dazu bewegen, etwas zu bestimmten Themen zu machen. Wir wollen gucken: Was sind die Probleme, die Menschen beschäftigen? Wie weit können wir oder Mediziner*innen diese Probleme bearbeiten? Wo ist es notwendig, dass sich Nachbarschaftsinitiativen gründen?
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Löwenberg: In Leipzig gibt es die Mietergemeinschaft Schönefelder Höfe, eine Initiative von Mieter*innen, die sich gegen die Wohnverhältnisse dort organisieren, gegen falsche Betriebskostenabrechnungen vorgehen und gemeinsam ganz konkret etwas an ihren Lebensverhältnissen verändern. Unser Anspruch ist, einen Raum zu schaffen, in dem sich solche Initiativen treffen können. Letztlich geht es uns aber auch darum, einfach einen Ort zum Zusammenkommen zu schaffen, den es sonst in Schönefeld kaum gibt.