“Alle Drogen sind gefährlich, aber wir können nicht ohne” | Upstream
Abonnieren

“Alle Drogen sind gefährlich, aber wir können nicht ohne”

Gernot Rücker ist Notarzt auf Festivals und Partys. Von Mückenstich bis zur Überdosis Ecstasy – er weiß, wer und vor allem welche Substanzen dort unterwegs sind. Rücker sagt: Nicht die Drogen sind das Problem, sondern unser Umgang damit.

Interview mit Gernot Rücker

Gernot Rücker hat als Notarzt auf Festivals und Partys den Überblick, wer da unterwegs ist – und vor allem, welche Substanzen. Seit gut 20 Jahren leitet Rücker die Notfallmedizin auf dem Fusion Festival, einer fast eine Woche langen Party mit Zehntausenden Besucher*innen und zahlreichen Bühnen und Dancefloors. Er und sein Team kümmern sich um alles, vom entzündeten Mückenstich bis zur Überdosis Ecstasy. Rücker sagt: Nicht die Drogen sind das Problem, sondern unser Umgang damit.

Upstream: Herr Rücker, welche Rolle spielen Drogen auf Festivals?

Gernot Rücker: Drogen spielen immer eine Rolle, auf der ganzen Welt. Wir denken immer, das sei nur die Subkultur. Das ist nicht wahr. Eine Kultur braucht Drogen, es gibt keine Kultur ohne Drogen. Ein Forscher, der sich damit beschäftigt, hat mir mal gesagt, es habe seit Anbeginn der Menschheit Tausende Kulturen gegeben, nur ganz wenige ohne Drogen. Und die sind alle untergegangen.

Warum kommen Menschen nicht ohne Drogen aus?

Rücker: Ohne Drogen könnte die Gesellschaft nicht existieren. Unser Körper produziert selbst Moleküle, die Morphium ähneln und uns betäuben oder antreiben, wenn unser Organismus das verlangt. Das kann bei Schmerzen sein oder in Stressreaktionen. Das sichert unser Überleben bis zu einem gewissen Grad. Der menschliche Körper hat außerdem Rezeptoren für Opioide, also Heroin, Morphium, und für Cannabinoide. Nebenbei: Für Alkohol haben wir keine.

Wie sollte eine Gesellschaft in ihren Augen mit Drogen umgehen?

Rücker: Es muss einen Raum für Drogen geben, damit sich das Gehirn erholen kann. Aber das geht natürlich nicht ohne Regeln, die für alle gelten. Jedoch mit Drogen Spaß zu haben oder täglich den Alltag bewältigen zu wollen, das sind zwei gegensätzliche Ziele.

Warum widersprechen Spaß und Alltagsbewältigung einander?

Rücker: Angenommen, Sie gehen am Wochenende auf eine Party. Da haben Sie Halligalli, wollen noch mehr Spaß haben und den Rest vergessen. Dafür nehmen Sie Chemie in Kauf – ob nun legale oder illegale Substanzen, spielt keine Rolle. Am Sonntagabend ist Schluss mit Party, Sie gehen nach Hause und funktionieren am Montag wieder ganz normal. Wenn Sie aber am nächsten Morgen nochmal etwas nehmen, um mit Ihrem Stress klarzukommen, wird es böse. Dann geraten Sie in eine Mischzone, die gefährlich ist, wenn Sie zum Beispiel benebelt ein Auto fahren. Freizeitdrogen sind deshalb in Verruf geraten, weil sie genommen werden, um den Alltag zu bewältigen.

Funktioniert es, Drogenkonsum auf die Freizeit zu beschränken?

Rücker: Bei jeder Party funktioniert das, in jeder Diskothek, auf der ganzen Welt. Wir sind doch nicht so blauäugig, zu glauben, dass auf allen Festivals der Welt nur Alkohol gesoffen wird? Ich kann mich an ein Festival erinnern, da habe ich 159 verschiedene Pillen zu sehen bekommen. Wenn das völlig ausufern würde, würde das ja bedeuten, dass wir lauter Notfälle, Verletzte und Todesfälle hätten. Die sehe ich nicht. Die Party ist nicht das Problem, sondern der Mensch, der auf der Party eine Droge entdeckt und dann feststellt, dass sie zuhause zunächst auch funktioniert.

So werden Zehntausende Festivalgäste medizinisch versorgt

“Am Anfang ging es darum, dass jemand da ist, wenn etwas passiert”, sagt Gernot Rücker über seine ersten Jahre als Notarzt auf dem Fusion Festival. Mittlerweile hat das Festival gut 70.000 Gäste, die fast eine Woche lang feiern. “Das ist eine Stadt in der Größenordnung von Neubrandenburg”, erklärt Rücker, “mit allen Erkrankungen, die es gibt.” Entsprechend groß sei das Medizinzentrum. Neben Rücker seien mehrere Fachärzt*innen wie Chirurg*innen oder Gynäkolog*innen Tag und Nacht im Einsatz. Nur, wenn es gar nicht anders ginge, würden Patient*innen ins Krankenhaus kommen: “Wir versuchen, die meisten auf dem Festival zu halten, wenn es medizinisch vertretbar ist.”

Dieses Rundum-Sorglos-Paket ist laut Rücker nicht nur für diejenigen wichtig, die als Notfall in eines der Sani-Zelte oder -Container kommen. Das große Team kümmert sich auch um Gäste, die wegen einer Behinderung oder Erkrankung regelmäßige medizinische Versorgung benötigen und ohne diese gar nicht auf dem Festival sein könnten. Gleichzeitig profitiere auch die Unimedizin in Rostock von dem Projekt: Bis zu 140 Medizinstudierende kommen Rücker zufolge mit zur Fusion. Dort würden sie gemeinsam Praxiserfahrung mit den unterschiedlichsten Fällen und Notfällen sammeln, meist mit mehr Zeit und weniger Druck als in einem Krankenhaus.

Wo ist die Grenze zu pathologischem Konsum?

Rücker: Die ist da, wo die Droge Teil des Alltags wird. Bei Alkohol haben wir längst aus dem Auge verloren, wo die Grenze zwischen Genussmittel und Rauschmittel ist. Ein Eisbecher mit Eierlikör ist ein Genussmittel. Der schmeckt einfach gut und um sich zu berauschen, müssten Sie fünf essen.

Was ist dann von Bedeutung für pathologischen Konsum?

Rücker: Es spielt eine ganz elementare Rolle, was der Grund für den Konsum ist. Unsere Gesellschaft verteufelt Drogen, weil wir oft nur sehen, wenn es eskaliert ist. In Wirklichkeit war der Mensch schon am Ende seiner Kraft, bevor er mit Drogen angefangen hat. Denken Sie an Vergewaltigungsopfer. Die fangen vielleicht an, sich mit Cannabis zu betäuben. Womöglich kommt Kokain dazu, dann Crack. Dann heißt es: “Um Gottes Willen, Crack! Und Cannabis war der Einstieg!” – Nein, Die Vergewaltigung war der Einstieg! Das Versagen der Gesellschaft ist der Einstieg! Und dann stigmatisieren wir die Menschen noch oder drohen ihnen mit völlig überzogenen Strafen. Das ist eine Schande!

Was muss die Gesellschaft tun, um nicht zu versagen?

Rücker: Die Lage kann sich nur ändern, indem wir Fakten schaffen: Wenn erstmal jedem klar ist, dass Menschen ohne Drogen gar nicht auskommen, ist schon viel gewonnen. Wir müssen verstehen, warum Drogen genommen werden, welche Wirkung sie haben und dass es Drogen gibt, die genutzt werden, um Spaß zu intensivieren. Damit muss ein Korridor geschaffen werden, um die Drogen und diejenigen, die sie verwenden, zu schützen.

Welchen Schutz brauchen Drogenkonsument*innen?

Rücker: Die Gesetzeslage muss Konstellationen zulassen, bei denen klar ist, dass die Menschen nicht verurteilt werden, weil das gar keinen Sinn macht. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass jemand, der Heroin konsumiert, sich dieses Leben ausgesucht hat? Und wenn jemand Heroin konsumiert, dann ist das auch nicht das Ende der Gesellschaft. Das müssen wir begreifen.

Stichwort Gesetzeslage: Wie sollte sie aussehen?

Rücker: Es gibt Legalisierung auf der einen Seite und Eindämmung von Alkohol auf der anderen. Wir müssen aber erstmal eine Bestandsaufnahme machen. Aus meiner Erfahrung als Notarzt kann ich sagen: Die paar Menschen, die mit Partydrogen über die Stränge schlagen, sind Peanuts im Vergleich zu Einsätzen wegen Alkohol. Und da gibt es Stellschrauben: Man könnte die Preise erhöhen, verbieten, dass Tankstellen Alkohol verkaufen und Drogen konsequent erst ab einem Alter von 21 Jahren erlauben.

Und ab 21 dann einfach alles erlauben?

Rücker: Nein, es gibt Drogen, die sind einfach Mist. Crack geht gar nicht, oder Heroin. Methamphetamin ist an der Grenze. Die haben ein extrem hohes Abhängigkeitspotenzial. GHB, besser bekannt als K.O.-Tropfen, ist auch extrem gefährlich. Wenn ich aber das Risikopotenzial von Cannabis mit dem von Alkohol vergleiche, müsste Alkohol schon längst verboten und Cannabis legal sein.

Die Cannabislegalisierung ist auf dem Weg. Was denken Sie über andere Drogen, die oft auf Partys konsumiert werden?

Rücker: Im Vergleich zu Alkohol sind das Partydrops. Mein Lieblingsbeispiel ist LSD: Davon können Sie nicht abhängig werden. Der Gewöhnungseffekt ist so hoch, dass nach ein paar Tagen keine Wirkung mehr erzielbar ist. Natürlich machen Sie Unfug, wenn Sie LSD nehmen, und jemand muss aufpassen. Aber Sie fallen nicht einfach tot um. Und LSD ist ein Hoffnungsträger in der Psychotherapie, weil Sie damit in das Epizentrum der Psyche vorstoßen können. Aber es einzusetzen oder zu erforschen, ist verboten.

Eine andere beliebte Droge ist MDMA.

Rücker: Bei MDMA gibt es vergleichweise extrem wenige Todesfälle. Wenn Sie wissen, wie viel Milligramm in einer Ecstasy-Pille sind und das vernünftig skalieren können, ist das kein Problem. Wir haben Geräte, damit wissen wir in einer Minute, was drin ist. Aber das zu testen, also Drug-Checking, ist bisher nicht erlaubt. Wer bringt schon seine Pille zum Testen, wenn er dafür bestraft werden könnte?

Drug-Checking würde das Feiern also sicherer machen?

Rücker: Ja, das ist bewiesen. Gut jeder Fünfte hat eine andere Erwartungshaltung an die Droge als das, was tatsächlich drin ist. Es gibt Pillen, von denen sind locker eine Milliarde im Umlauf. So eine Flut können Sie nicht aufhalten, Sie können sie nur sicherer machen. Und wie wollen wir über Drogen aufklären, wenn wir schon boykottieren, dass jemand die Substanz beforscht? Das ist doch völlig absurd. Um aufzuklären, müssen wir erstmal Daten schaffen.

Was kann Forschung zu einem besseren Umgang mit Drogen beitragen?

Rücker: Wissenschaft ist der Schlüssel zum Erfolg. Wenn sie nicht vorangetrieben wird, kriegen wir diese über Jahrzehnte geschürten unsinnigen Vorurteile nicht aus den Köpfen. Letztendlich sind aber alle Drogen gefährlich. Das Problem dabei ist: Wir können nicht ohne. Dem müssen wir uns stellen.