“Wie erlauben Sie der Mehrheit, die nicht mit Suchtmitteln umgehen kann, die Freiheit?”
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“Wie erlauben Sie der Mehrheit, die nicht mit Suchtmitteln umgehen kann, die Freiheit?”

Gerhard Bühringer forscht in Dresden zu Sucht und Abhängigkeit. Wir haben mit ihm über die Drogen- und Suchtpolitik in Deutschland gesprochen: Woran orientiert sie sich?

Interview mit Gerhard Bühringer

Gerhard Bühringer kennt sich aus mit Süchten. Bühringer ist klinischer Psychologe und Psychotherapeut, entwickelte ein Programm zur Wiedereingliederung von psychisch erkrankten und suchtabhängigen Menschen in den Beruf, war lange Zeit Chefredakteur der Fachzeitschrift Sucht, forscht an der TU Dresden zu Sucht- und Abhängigkeitsformen und berät Landesregierungen und -behörden. Wir haben mit ihm über die Drogen- und Suchtpolitik in Deutschland gesprochen: Woran orientiert sie sich?

Upstream: Alkohol gilt in Deutschland als Volksdroge, Online-Glücksspiel bewegte sich lange in der Grauzone und Cannabis wird nun legalisiert. Wie passen so unterschiedliche Regulierungen von Suchtmitteln zusammen?

Gerhard Bühringer: Eigentlich gar nicht. Alkohol konsumieren mehrere Millionen Menschen in Deutschland auf gesundheitsschädliche Weise. Vom Jugendschutz abgesehen, ist er aber in vielen Bereichen weitgehend unreguliert. Beim Glücksspielen sprechen wir von rund 200.000 Abhängigen, haben aber eine sehr viel härtere Gesetzgebung.

Warum ist das so?

Bühringer: Es geht in der Politik nicht vorrangig darum, Schäden zu minimieren. Oft spielen andere Faktoren eine Rolle, als das Risiko wissenschaftlich einzuschätzen. Einer davon ist die historische Entwicklung. Alkohol gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte, er ist Teil der kulturellen Identität. Hinzu kommt die Marktmacht der Alkoholindustrie. Würden wir Alkohol gleich streng regulieren wie Glücksspiel, gäbe es einen Aufstand der Industrie und der Bevölkerung. Beim Glücksspiel fällt zudem ins Gewicht, dass es unterschiedliche Zuständigkeiten gibt zwischen den Bundesländern, die ja selbst Glücksspielanbieter sind, und dem Bund.

Der Bundessuchtbeauftragte Burkhard Blienert hat eine “Zeitenwende” in der Drogen- und Suchtpolitik angekündigt. Was steckt dahinter?

Bühringer: Bei Cannabis sieht man durch die geplante kontrollierte Abgabe in der Tat eine neue Abwägung, bei der versucht wird, Schäden zu minimieren. Auch der Jugendschutz soll in Bezug auf weitere Substanzen gestärkt werden. Aber einen grundlegenden Neuansatz, eine “Zeitenwende”, kann ich im Moment noch nicht erkennen. Dafür wäre die Bevölkerung auch gar nicht vorbereitet.

Die Basis für die derzeitige Sucht- und Drogenpolitik ist die “Nationale Strategie” von 2012. Im Jahr 2009 hat man das letzte Mal versucht, überhaupt zu berechnen, welche Kosten Suchtmittel in Deutschland verursachen. Das ist lange her. Wie evidenzbezogen ist die Sucht- und Drogenpolitik?

Bühringer: Kaum. Tatsächlich fehlt uns eine aktuelle Bestandsaufnahme, die untersucht, was der gesellschaftliche Schaden von Drogen ist, aber auch, was der gesellschaftliche Nutzen ist. Das können beispielsweise die Steuereinnahmen sein oder der Genuss oder Zeitvertreib, den sie für viele bedeuten. Es gibt zwar regelmäßig epidemiologische Studien, die Trends im Konsum festhalten, aber wenig Forschung dazu, wie die Trends entstanden sind. Wenn wir nicht wissen, was dahintersteckt, können wir keine Maßnahmen entwickeln, um positive Trends fortzuschreiben oder negativen etwas entgegenzusetzen.

Warum ist das Risikopotential von Suchtmitteln nicht der Maßstab für die Drogen- und Suchtpolitik in Deutschland?

Bühringer: Wissenschaft wird häufig benutzt, wenn sie der eigenen Argumentation entspricht. Ich habe immer wieder Behörden und Organisationen beraten und dabei beobachtet, dass es Grenzen gibt, wissenschaftliche Erkenntnisse zu übernehmen. Das liegt auch daran, dass es extrem schwierig ist, den Konsum wieder zu reduzieren, wenn Suchtmittel wie Alkohol oder Tabak in der Bevölkerung angekommen sind. ​​Politik muss häufig neben Wissenschaft zusätzliche Faktoren beachten, wie etwa den Konsens in der Bevölkerung oder Einflüsse von Interessenverbänden.

Sucht- und Drogenpolitik bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen individueller Selbstbestimmung und staatlicher Fürsorge. Wie würden Sie das beschreiben?

Bühringer: Mit den meisten Suchtmitteln kann der größte Teil der Bevölkerung gut umgehen. Nur ein kleiner Anteil entwickelt beispielsweise Probleme mit Alkohol, auch wenn die absolute Zahl sehr hoch ist. Da unsere Regeln in der Gesellschaft aber für alle gelten, haben wir ein Regulierungsproblem: Wie erlauben Sie der Mehrheit, die mit einem Suchtmittel umgehen kann, die Freiheit und wie kontrollieren Sie die Minderheit, die nicht damit umgehen kann?

Wie entscheidet man das?

Bühringer: Suchtmittel sind so alt wie unsere Menschheitsgeschichte. Genauso lange gibt es unterschiedliche Ansätze und Optionen im Umgang mit ihnen. Aus der Bewegung der Abhängigen und der Selbsthilfe kommt der Ansatz, zu sagen, Suchtmittel sind für alle gefährlich. Wir können nicht beurteilen, für wen sie mehr oder weniger Risiko bergen. Also versuchen wir möglichst viel zu verbieten oder zu regulieren.

Wir haben mit Sascha Heilig gesprochen. Er ist glücksspielsüchtig und hat genau das gefordert: “Wenn ich könnte, würde ich Glücksspiel verbieten lassen”

Bühringer: Das ist verständlich für jemanden, der abhängig geworden ist und womöglich seine finanzielle Basis und sein Sozialleben ruiniert hat. Das Problem ist: Der Ansatz, möglichst viel zu verbieten, führt dazu, dass Menschen in illegale Kanäle ausweichen. Wenn ich alles verbiete, muss ich einen enormen Grad von Kontrolle ausüben. In so einer Gesellschaft, wo Verhalten primär über Kontrolle gesteuert wird, wollen aber die meisten von uns nicht leben.

Was wäre eine Alternative, um vulnerable Personen zu schützen?

Bühringer: Als eine Option haben Staaten eine sehr restriktive Freigabe erprobt. In den 1920er Jahren gab es in Finnland ein Alkoholverbot. Dadurch gab es weniger Todesfälle und Erkrankungen durch Alkohol. Aber auch da gab es einen Ausweicheffekt: Alkohol wurde illegal importiert, verkauft und auch hergestellt. Das Risiko, giftigen Alkohol zu trinken, stieg. Danach hat man ein Verkaufssystem mit einer stark begrenzten Menge pro Woche eingeführt. Langfristig gab es keinen gesellschaftlichen Konsens für eine so restriktive Regelung. Sie wurde wieder abgeschafft. Eine ähnliche Gefahr für das Weiterbestehen eines illegalen Markts könnte es bei Cannabis geben, wenn es nach der Freigabe zu teuer angeboten wird.

Wie wäre es denn mit deutlich weniger Regulierung?

Bühringer: Der klassisch liberale Ansatz wäre: einfach laufen lassen, mit dem Ergebnis einer Zunahme der negativen Folgen. Das hieße, etwas überzeichnet: Dadurch, dass die meisten Menschen mit einem Suchtmittel umgehen können, wäre jede Person selbst für sich verantwortlich. Jeder hätte die Freiheit, sich zu ruinieren. Die höheren Kosten würden dann die sozialen Hilfesysteme und die Krankenkassen zahlen. Letztlich geht es um unsere Werte: Wollen wir Freiheiten verteidigen und nehmen Schäden in Kauf oder wollen wir mehr Kontrolle ausüben und damit die Gesundheit der Bevölkerung schützen? Das ist eine Wertediskussion zu einer Gratwanderung, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen stattfinden muss: Im Bundestag, in den Medien und in den Schulen. Medien berichten nachvollziehbarerweise meist mehr über dramatische Einzelschicksale von Suchtbetroffenen als über die Wertediskussion dahinter.

Gibt es Fragen, bei denen sich die Gesellschaft einig ist?

Bühringer: Von der katholischen Soziallehre bis hin zur Sozialen Marktwirtschaft ist es zentral, Schäden Dritter zu vermeiden. Jugendliche können in der Regel mit Suchtmitteln nicht umgehen und Suchtstoffe können ihre gesundheitliche und psychische Entwicklung gefährden. Da herrscht weitgehend Konsens in der Gesellschaft.

Welchen Ansatz halten Sie für sinnvoll?

Bühringer: Der Ansatz, den ich befürworte, liegt irgendwo in der Mitte zwischen Freiheit und Kontrolle. Ich finde, man sollte Menschen möglichst früh auf den Umgang mit Suchtmitteln vorbereiten und diejenigen gut schützen, die nicht damit umgehen können. Hierzu ist allerdings noch viel Forschung zu den Handlungsoptionen und ihren Folgen notwendig.

Was meinen Sie damit?

Bühringer: Ich bleibe beim Glücksspiel. Ein großer Teil der Bevölkerung hat ein Problem mit dem Zufallsbegriff. Wenn Sie eine Eins würfeln, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das nächste Mal wieder eine Eins würfeln, genauso hoch wie die einer Zwei oder Drei. Viele Leute denken beim Lotto allerdings, dass bestimmte Zahlen Glück bringen. Das ist natürlich Unsinn, aber der Aberglaube ist verbreitet. Deshalb sollte man den Wahrscheinlichkeitsbegriff und ähnliche Konzepte mehr in den Unterricht einbauen und erlebbar machen. Generell geht es um eine bessere Vorbereitung der Jugendlichen auf die Risiken im Umgang mit potenziell gefährlichen Stoffen wie Alkohol und Verhaltensweisen wie Glücksspielen. Das gilt für Schule, Elternhaus und soziale Einrichtungen.

Zu Beginn unseres Gesprächs haben Sie die Marktmacht der Alkoholindustrie erwähnt. Welche Rolle spielen Industrieinteressen bei der Regulierung in Deutschland?

Bühringer: Anbieter von Alkohol, Tabak oder Glücksspiel haben das natürliche Interesse, möglichst viel zu verkaufen. Gleichzeitig, das wird seltener betrachtet, haben sie auch das Interesse, dass die öffentlich sichtbaren Schäden möglichst gering sind. Andernfalls könnte schnell ein schlechtes Image entstehen. Woran es hapert, ist, dass der Staat kein starker Gegenspieler im Sinn einer guten Kontrolle ist. Bei Alkohol und Tabak geht es dem Staat auch darum, Steuern einzunehmen. Wenn es um Glücksspiel geht, ist der Staat gleichzeitig Anbieter und übt Kontrolle für seine Angebote und für Dritte aus.

Inwiefern beeinflussen potenzielle Steuereinnahmen die Regulierung?

Bühringer: Anfang der 2010er wollte das Gesundheitsministerium die Tabaksteuern deutlich erhöhen. Studien zeigen, dass eine starke kurzfristige Erhöhung der Tabaksteuern einen verhaltenssteuernden Effekt hat. Dann hat das Finanzministerium beschlossen, die starke Erhöhung auf mehrere kleinere Erhöhungen zu verteilen. So konnte das Finanzministerium verhindern, dass die Steuereinnahmen stärker zurückgehen.

Sie selbst sind Mitglied im “Düsseldorfer Kreis”, dem vorgeworfen wird, vorrangig Interessen von Glücksspielanbietern zu bedienen. Nach einem Editorial von Ihnen in der Fachzeitschrift “Sucht” gab es Kritik. Wie eng sind sich Forschung und Industrie?

Bühringer: Distanz zu allen privaten und staatlichen Glücksspielanbietern und Unabhängigkeit sind für die Wissenschaft unerlässlich. Ich halte es aber auch für notwendig, Forschungserkenntnisse zu Mängeln der Glücksspielregulierung und zu besseren Alternativen allen Anbietern und Kontrollgremien, ob staatlich oder privat, zur Verfügung zu stellen. Ich habe deshalb bei der Überarbeitung des Glücksspielstaatsvertrags in den letzten Jahren sowohl an über zehn Anhörungen von Landesparlamenten und -regierungen teilgenommen als auch im Düsseldorfer Kreis mit Vertretern privater und staatlicher Anbieter diskutiert. Zentral sind vier Forderungen von mir: die Förderung eines risikoarmen Glücksspielens, Früherkennung und Schutz vulnerabler Spielteilnehmenden bis hin zur Spielsperre, effektive und unabhängige staatliche Kontrolle und unabhängige Forschung zur Gestaltung einer effektiven Regulierung. Bei dieser Beratungstätigkeit ist es notwendig, mögliche konkurrierende Interessen in Vorträgen und Publikationen immer transparent zu machen. Mit inhaltlicher Kritik muss man sich dann fachlich auseinandersetzen. Häufig kommt sie von Personen, die eher zu möglichst totaler Kontrolle und Verboten neigen.

Wie ließen sich Interessenkonflikte verhindern?

Bühringer: Generell kann man konkurrierende Interessen nicht verhindern. Das gilt für Anbieter, staatliche Kontrolle und Wissenschaft. Wichtig ist aber, sie transparent und sich als Wissenschaftler nicht beeinflussbar zu machen. Dafür braucht es unabhängige Forschungsförderung.

Wie steht es um die Forschungsförderung in Deutschland?

Bühringer: Im Glücksspielbereich gibt es nahezu keine unabhängig geförderte Forschung. Die ganze Diskussion über Regulierungsoptionen wäre sehr viel einfacher, wenn die Bundesländer und der Bund mehr Geld für Glücksspielforschung ausgeben würden. Aber auch da gilt: Alle Bundesländer sind auch Anbieter von Glücksspielen. Deshalb sollte man Glücksspielforschung öffentlich ausschreiben und von einem unabhängigen Gremium beurteilen lassen, nicht durch die Anbieter selbst. Das gilt nicht zuletzt für eine unabhängige Evaluation des Glücksspielstaatsvertrags, die bis heute nicht erfolgt ist, obwohl die erste Version des Staatsvertrages bereits vor 14 Jahren beschlossen wurde.