24-Stunden-Betreuung: Gute Pflege oder Ausbeutung? | Upstream
Abonnieren

Takeaways

Das erwartet dich in dieser Ausgabe

  • Interview: Małgorzata Kocia arbeitet seit 16 Jahren als “Live-in”. Wie kam es dazu? Welche Herausforderungen begegnen ihr bei der Arbeit? Und wie fair findet sie das System der Live-in-Betreuung?
  • Interview: Die Arbeitsrechtlerin Eva Kocher erklärt, warum 24-Stunden-Betreuung nicht rechtssicher möglich ist.
  • Schlaglichter: Das gibt’s zurück – welche Gesundheits- und Sozialleistungen EU-Migrant*innen in Deutschland bekommen.
  • Aktuelles: Dieses Mal mit gerechtem Klimaschutz, straffreiem Drogenkonsum und Ärzt*innen auf dem Land

Hallo!

Schön, wieder in deinem Postfach zu sein. Nach der Pause im März geht unsere Europa-Reihe jetzt weiter. In Teil 1 haben wir uns einen Überblick verschafft: Wie ungleich ist Gesundheit in Europa? (Spoiler: sehr)

In dieser Ausgabe fragen wir, auf wessen Kosten Gesundheit geht: Wessen Wohlstand und Wohlbefinden beruhen auch darauf, dass andere Menschen sich kaputt schuften? Wer wird krank, damit andere gesund sein können? Upstream, dort, wo die ganz grundsätzlichen Ursachen für Gesundheit und Krankheit liegen, gibt es viele Ansatzpunkte: Stinkende Fabriken, die in ärmeren Regionen errichtet werden, Saisonkräfte, die hart und schlecht bezahlt arbeiten oder ungleiche Verteilung von Medikamenten. Die Liste der Ungerechtigkeiten ist lang.

Um den Überblick nicht zu verlieren, haben wir entschieden, den Fokus auf ein Feld zu legen, in dem das Verhältnis deutlich sichtbar ist: 24-Stunden-Betreuung, auch “Live-in-Care” genannt, bei der – in unseren konkreten Fällen – Frauen aus Osteuropa zum Teil Rund-um-die-Uhr-Betreuung für pflegebedürftige Menschen in Deutschland leisten.

Dabei haben wir einige interessante Einblicke bekommen. Wir hoffen, dir geht es beim Lesen ähnlich.

Viele Grüße
Sören und Maren

Interview

Interview. “Für mich war es immer schwierig, wenn eine Person demenzkrank war.” Małgorzata Kocia, arbeitet seit 2007 als Live-in

“Für mich war es immer schwierig, wenn eine Person demenzkrank war.”

Małgorzata Kocia ist eine der Frauen, die meine Oma betreute, als sie nicht mehr alleine klar kam. Seit 2007 betreut sie Menschen in deren Haushalt, zunächst in Deutschland, heute in Polen. Im Interview erzählt sie, warum sie nie wieder mit demenzkranken Personen arbeiten möchte, warum sie gerne selbstständig arbeitet und auf welche Probleme sie bei der Zusammenarbeit mit Pflegediensten stößt.

>>> Shortcut: Das vollständige Interview liest du auf unserer Website.

Sören: Im Jahr 2007 hast du dich das erste Mal entschieden, nach Deutschland zu kommen, um als “Live-in” zu arbeiten. Wie kam es dazu?

Małgorzata Kocia: Ich bin in einer Kleinstadt in Polen aufgewachsen. Nach dem Abitur habe ich als Lehrerin in einer Grundschule gearbeitet. In den Jahren nach dem Kommunismus war das schwierig. In meiner Stadt gab es zu viele Lehrkräfte. Darum habe ich mir andere Jobs gesucht. Eines Tages hat mich eine Freundin angerufen, die in Deutschland gearbeitet hat. Sie hat gefragt, ob ich mir vorstellen kann, für zwei Monate nach Deutschland zu kommen.

Warst du damals bereits über eine Agentur angestellt?

Kocia: Nein. Mein erster Job war Schwarzarbeit. Erst danach habe ich über die bekannte Agentur “Promedica” gearbeitet. Dort habe ich rund sechs Jahre gearbeitet. Danach war ich selbstständig und hatte einen direkten Vertrag mit einer Familie in Deutschland. Als die Person starb, habe ich wieder mit einer Agentur zusammengearbeitet.

Wie kam es zu den Wechseln zwischen Agenturen und Selbstständigkeit?

Kocia: Ich wollte nicht schwarz arbeiten. Ich wollte versichert sein und für meine Rente vorsorgen. Deshalb bin ich zu einer Agentur gegangen. Dann gab es bei einer Familie einen Vorfall mit einer anderen Pflegerin, nach dem die Familie nicht mehr mit der Agentur zusammenarbeiten wollte. Also habe ich angeboten, dass ich als Selbstständige weiterarbeiten könnte. So war ich rund drei Jahre bei der Frau, bis sie gestorben ist. Danach habe ich wieder in einer Agentur gearbeitet.

Als du bei meiner Oma warst, war das Zusammenleben manchmal schwierig. Wie hast du die Situation damals erlebt?

Kocia: Für mich war es immer schwierig, wenn eine Person demenzkrank war. Das kann ich nicht mehr machen, sonst werde ich selbst krank. Deine Oma wollte ihre Krankheit nicht akzeptieren. Sie wollte zeigen, dass sie klug ist, alles alleine machen kann und keine Hilfe braucht. Das war schwierig, weil ich ihr helfen wollte. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht unterstützt werden will, dass sie mich nicht mag.

Wie war das für dich und deine Familie, wenn du zwei, drei Monate weg warst?

Kocia: Ich habe selten so lange gearbeitet. Meistens wurde ich nach sechs Wochen abgewechselt und habe eine Pause gemacht. Das hat mir gepasst. Ich konnte noch ganz gut funktionieren. Wenn ich doch mal drei Monate am Stück gearbeitet habe, war es nicht mehr okay. Ich war zu nervös. Die Person hat mich in diesen drei Monaten verändert. Jeden Tag das Gleiche, ohne Familie, ohne Freunde, ohne Bekannte. Es war nicht mein eigenes Zuhause, immer war ich fremd. Ich musste von anderen Personen leben. Ich wollte dann nach Hause.

Wie sieht die Zusammenarbeit mit anderen Dienstleistenden, wie Pflegediensten oder Haushaltshilfen aus?

Kocia: Die Pflegedienste machen manchmal den ganzen Tag kaputt. An einem Tag kommen sie um acht Uhr, am nächsten um zehn Uhr. Manchmal wollte ich bestimmte Aufgaben dann schon fertig haben und habe die Arbeit vom Pflegedienst selbst gemacht.

Mittlerweile arbeitest du in Polen. Läuft die Vor-Ort-Betreuung dort ähnlich?

Kocia: Ich arbeite bereits seit über einem Jahr als Betreuerin in Polen, weil ich Gesundheitsprobleme hatte. Hier zu arbeiten ist besser für mich. Zwar bekomme ich weniger Geld, aber dafür kann ich alle zwei Wochen nach Hause fahren. Das gibt mir Ruhe. Hier gibt es auch Agenturen, aber ich arbeite gerade selbstständig. So habe ich mehr Geld, denn die Agenturen kassieren ja mit. In Deutschland waren ja sogar zwei Agenturen beteiligt, eine polnische Agentur und eine deutsche. Wie lange ich noch arbeite, weiß ich nicht.

>>> Hier weiterlesen: Wie lässt sich die Arbeit im Ausland mit der Familie vereinbaren? Wie steht es um Distanz bei der Betreuung im Haushalt? Wie fair ist das System der “Live-in-Betreuung”?

Interview

Interview. “Viele Live-ins befinden sich in ständiger Wartestellung” Eva Kocher. Professorin für Europäisches Arbeitsrecht
Eva Kocher hat in ihrer Forschung unter anderem zahlreiche Verträge polnischer Live-ins analysiert. Foto: b7k+photography

Warum 24-Stunden-Betreuung nicht rechtssicher möglich ist

Schätzungsweise 700.000 Live-ins arbeiten in Deutschland, die meisten von ihnen aus Osteuropa – und die wenigsten in rechtssicheren Arbeitsverhältnissen. Die Professorin für Europäisches Arbeitsrecht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, Eva Kocher, erklärt im Interview, was die Probleme bei Live-in-Care sind und wie gute Betreuung mit Arbeitsrechten vereinbar wäre.

>>> Shortcut: Wenn du statt der Kurzfassung das gesamte Interview lesen willst, klicke hier.

Frau Kocher, Sie haben eine Studie zu den Arbeitsverträgen und -bedingungen von Live-ins aus Polen in Deutschland durchgeführt. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Die Verträge waren vielfältig. Es gab sowohl klassische Arbeitsverträge als auch Verträge für selbstständige Beschäftigung. Wir konnten nicht feststellen, dass sie alle nach dem gleichen Muster geschrieben wären. Außerdem ist uns aufgefallen, dass die Unternehmen sich große Flexibilität zusichern lassen haben. In den Verträgen war beispielsweise die Arbeitszeit begrenzt, aber es gab immer auch große Flexibilität für Überstunden. Zudem gab es Klauseln, die die Live-ins davon abhalten sollen, zu kündigen beziehungsweise das Arbeitsverhältnis zu wechseln.

>>> Hier kannst du die Studie nachlesen

Inwiefern unterscheidet sich das, was in den Verträgen der Live-ins steht, von dem, was den Pflegebedürftigen zugesichert wird?

Das wissen wir in diesen Fällen nicht, denn wir hatten nur die Verträge der Live-ins vorliegen, in denen Arbeitszeitbegrenzungen enthalten sind. Wir wissen aber aus anderen Studien, dass den Betreuten in aller Regel eine Rundumversorgung zugesichert wird.

Und was ist am Ende die tatsächliche Arbeitssituation?

Daraus, dass Live-ins im selben Haushalt wohnen, ergibt sich für viele eine ständige Wartestellung. Diese permanente Bereitschaft ist das arbeitsrechtliche Hauptproblem.

Das Bundesarbeitsgericht hat 2021 geurteilt, dass diese Bereitschaft als Arbeitszeit zu bezahlen ist. Hat sich dadurch etwas geändert?

Viele Agenturen sagen: Wenn die Pflegekraft mit der Person, die sie betreut, Kaffee trinkt, dann ist es ihre Freizeit. Wenn sie auf ihrem Zimmer ist, aber damit rechnen muss, jederzeit gerufen zu werden, sei das auch eine Art Freizeit. Das Bundesarbeitsgericht hat dagegen richtigerweise relativ weitgehend gesagt: Solange die Pflegekraft quasi auf dem Sprung ist, ist es Bereitschaftszeit.

Eigentlich hätte sich dadurch in der Praxis einiges ändern müssen. Allerdings ist es so, dass viele Beschäftigungsverhältnisse nicht im Arbeitsverhältnis abgewickelt werden, sondern selbstständig. Für sie hat das Urteil auf den ersten Blick keine Relevanz. Insgesamt handelt es sich zudem um ein sehr breites Feld, die Preise auf dem Markt unterscheiden sich stark.

Gibt es Indikatoren für sichere, gute Arbeitsverhältnisse?

Dazu habe ich mit Bernhard Edmunds von der Hochschule Sankt Georgen ein Policy Paper geschrieben. Best Practices wäre, zu Beginn eine genaue Bestandsaufnahme zu machen: Was braucht die betreuungsbedürftige Person tatsächlich? Die wenigsten brauchen jemanden, der 24 Stunden bei ihnen ist.

Dann müsste geprüft werden: Was passiert in der Zeit, in der die Live-in Freizeit hat? Das muss vorher organisiert sein, und zwar so, dass sich alle damit wohlfühlen und Notfälle abgesichert sind. Es muss klar sein, was passiert und wer zuständig ist: Gibt es Tagespflege-Angebote? Gibt es ambulante Dienste? Das ist wesentlich, um diese Art von Betreuung überhaupt rechtssicher möglich zu machen.

Halten wir also fest: Um umfangreiche Pflege zu gewährleisten, muss es nicht immer Live-in-Care sein?

Es gibt sicher Fälle, in denen Live-in-Care der optimale Weg ist. Das ist aber wohl eine sehr kleine Zahl. Als Gesellschaft müssen wir uns aber wohl grundsätzlich Gedanken machen: Sollte 1:1-Betreuung etwas sein, das regelhaft jeder Person zur Verfügung steht? Oder welche Alternativen müssten wir entwickeln?

>>> Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag festgehalten, dass eine “rechtssichere Grundlage” für 24-Stunden-Pflege geschaffen werden soll. Was bedeutet Rechtssicherheit hier überhaupt? Auch darüber haben wir mit Eva Kocher gesprochen. Das gesamte Interview findest du hier.

Schlaglichter

Schlaglichter: Diese Gesundheits- und Sozialleistungen bekommen EU-Migrant*innen in Deutschland

Was gibt’s zurück? – Diese Gesundheits- und Sozialleistungen bekommen EU-Migrant*innen in Deutschland

Alle EU-Bürger*innen haben das Recht, sich innerhalb der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und zu arbeiten. Man braucht dafür keine extra Arbeitserlaubnis und hat Anspruch auf die gleichen Arbeitsbedingungen wie sie Kolleg*innen haben, die Staatsangehörige des Landes sind.

In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt rund fünf Millionen Menschen, die aus anderen EU-Staaten kommen (Stand: 2021). Die meisten stammen demnach aus Polen, Rumänien und Italien. Hinzu kommen allein in der Landwirtschaft rund 272.000 Saisonkräfte (Stand: 2021). Diese Menschen haben bedingt Anspruch auf Gesundheits- und Sozialleistungen. Welche, das fassen wir hier kurz zusammen.

Wie sind EU-Migrant*innen in Deutschland krankenversichert?

EU-Migrant*innen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, sind darüber auch krankenversichert. Außerdem gibt es die Europäische Krankenversicherungskarte (EKVK, auch: European Health Insurance Card, kurz EHIC): Wer in einem EU-Staat gesetzlich versichert ist, kann die Karte bei seiner Versicherung beantragen und hat damit in anderen EU-Ländern die gleichen Ansprüche auf Gesundheitsversorgung wie Staatsangehörige.

Haben alle EU-Migrant*innen in Deutschland Zugang zu Gesundheitsversorgung?

Nein, EU-Migrant*innen haben keinen Zugang zum Gesundheitssystem, wenn:

  • Sie nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und
  • sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben und
  • sie keine EKVK/EHIC haben, weil sie in ihrem Herkunftsland bereits von der Krankenversicherung ausgeschlossen waren.

Haben EU-Migrant*innen Anspruch auf Arbeitslosen- und Bürgergeld?

EU-Migrant*innen haben Anspruch auf Arbeitslosengeld I, wenn sie innerhalb von zwei Jahren für mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren.

Anspruch auf Bürgergeld haben EU-Migrant*innen, wenn sie mehr als ein Jahr lang in Deutschland gearbeitet haben. Haben sie weniger gearbeitet, gilt der Anspruch nur für ein halbes Jahr. Außerdem können sie das Geld, das sie für ihre Arbeit bekommen, mit der Grundsicherung aufstocken, wenn es nicht zum Leben reicht.

EU-Migrant*innen, auf die all das nicht zutrifft, haben erst Anspruch auf Grundsicherung und Sozialhilfe, wenn sie sich fünf Jahre lang in Deutschland aufgehalten haben. Ansonsten können sie höchstens vorübergehend Überbrückungsleistungen beziehen.

Welche Ansprüche haben Saisonkräfte?

Saisonarbeit wird meist als sogenannte kurzfristige Beschäftigung (weniger als 70 Tage im Jahr, weniger als drei Monate am Stück, nicht berufsmäßig zur Sicherung des Lebensunterhaltes) eingestuft. Dadurch ist sie versicherungsfrei. Allerdings müssen die Arbeitgeber nachweisen, dass die Arbeiter*innen krankenversichert sind – entweder in ihrem Herkunftsland oder privat in Deutschland.

Mehr dazu

Aktuelles

Was du sonst noch wissen solltest

Ausblick

Zur Halbzeit unserer Europa-Reihe fällt uns (mal wieder) auf, wie groß der Themenbereich ist, mit dem wir uns befassen. Bei dieser Ausgabe war es besonders schmerzlich, wichtige Themen und drängende Probleme außen vor zu lassen.

Für die kommende Ausgabe haben wir uns ein weiteres Thema vorgenommen, bei dem wir gerne mehr recherchieren würden, als in einen Newsletter passt: Die Lage der Menschen an den Außengrenzen Europas. Gibt es etwas, das dich dazu besonders interessieren würde? Dann schreib uns einfach eine Mail oder antworte auf diese.

Worum es dann im vierten und letzten Teil der Reihe gehen wird, steht noch nicht fest. Was meinst du? Welche Perspektive, welches Problem oder welche Lösung sollten wir unbedingt noch beleuchten? Auch hier freuen wir uns über Post.

Eine Leserin hat uns bereits gefragt, wie es um die Geschlechtergerechtigkeit bestellt ist: Sind einige Länder in Europa da schon weiter als andere? Wenn dich das Thema auch interessiert oder du sogar eine Antwort parat hast, lass uns auch das gerne wissen.

Liebe Grüße
Sören und Maren

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen