Interview. “Viele Live-ins befinden sich in ständiger Wartestellung” Eva Kocher. Professorin für Europäisches Arbeitsrecht

24-Stunden-Betreuung: Sollte eine Person ständig für dich da sein?

Interview mit Eva Kocher

“Live-ins” arbeiten und leben im Haushalt der Person, die sie betreuen. Viele Live-ins in Deutschland kommen aus Osteuropa. Branchenvertreter*innen schätzen, dass es derzeit rund 700.000 Menschen sind, von denen die wenigsten in abgesicherten Verhältnissen arbeiten. Ihr Leben in ständiger Bereitschaft bedeutet meist zu viel Arbeit und zu wenig Freizeit, sagt Eva Kocher. Sie ist Professorin für Europäisches Arbeitsrecht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und leitet dort das Center for Interdisciplinary Labour Law Studies. Im Interview erklärt sie, unter welchen Bedingungen Live-ins arbeiten – und wie gute Betreuung mit Arbeitsrechten vereinbar wäre.

Frau Kocher, Sie haben eine Studie zu den Arbeitsverträgen und -bedingungen von Live-ins aus Polen in Deutschland durchgeführt. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Die Verträge waren vielfältig. Es gab sowohl klassische Arbeitsverträge als auch Verträge für selbstständige Beschäftigung. Wir konnten nicht feststellen, dass sie alle nach dem gleichen Muster geschrieben wären. Außerdem ist uns aufgefallen, dass sich die Unternehmen große Flexibilität zusichern lassen haben.

>>> Hier kannst du die Studie nachlesen

Diese Unternehmen sind in der Regel Agenturen, die Pflegekräfte vermitteln. Wie viele davon gibt es und wie läuft die Vermittlung ab?

Niemand weiß so richtig, wie viele Agenturen es gibt. Die Verträge, die wir vorliegen hatten, waren von Unternehmen aus Polen ausgestellt. Sie werben dort Frauen an und entsenden sie dann zu Familien in Deutschland. Es gibt aber auch Konstellationen, in denen polnische Entsende-Unternehmen mit deutschen Vermittlungsagenturen zusammenarbeiten.

Sie sagten, die Unternehmen lassen sich vertraglich Flexibilität zusichern. Was heißt das?

Grundsätzlich wird die Arbeitszeit in den Verträgen begrenzt. Wir haben aber Grund anzunehmen, dass die Zeiten in der Realität nicht so eingehalten werden: Schon in den Verträgen gab es immer große Flexibilitäten für Überstunden. Ein weiterer Aspekt sind Sanktionen für das Verlassen des Arbeitsplatzes. Das sind Klauseln, die die Live-ins davon abhalten sollen, zu kündigen beziehungsweise das Arbeitsverhältnis zu wechseln.

Wie sehen solche Vertragsklauseln konkret aus?

In Verträgen steht dann, dass eine Vertragsstrafe zu zahlen ist, wenn das Arbeitsverhältnis ohne Berechtigung verlassen wird. Da kann man natürlich streiten: Was heißt “ohne Berechtigung”? Faktisch wird es so sein: Wenn man das Arbeitsverhältnis verlässt, bekommt man erstmal das Geld für die letzte Arbeitszeit nicht mehr. Es passiert ja, dass Live-ins ankommen und feststellen, dass die Bedingungen ganz anders sind als es vereinbart war und als sie es sich vorgestellt haben. Im Prinzip tragen sie dafür selbst das Risiko.

Inwiefern unterscheidet sich das, was in den Verträgen der Live-ins steht, von dem, was den Pflegebedürftigen zugesichert wird? Das wissen wir in diesen Fällen nicht, denn wir hatten nur die Verträge der Live-ins vorliegen, in denen Arbeitszeitbegrenzungen enthalten sind. Wir wissen aber aus anderen Studien, dass den Betreuten in aller Regel eine Rundumversorgung zugesichert wird.

Und was ist am Ende die tatsächliche Arbeitssituation?

Live-in heißt, man wohnt im selben Haushalt. Daraus ergibt sich, dass viele der Live-ins sich in ständiger Wartestellung befinden. Das ist das arbeitsrechtliche Hauptproblem: Es gibt praktisch eine permanente Bereitschaft, eine Art 24-Stunden-Dienst. Viele Haushalte, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen, erwarten das auch. Und ich glaube, die meisten Live-ins ahnen ungefähr, worauf sie sich einlassen – allerdings versprechen die Verträge ihnen Freizeit. Vor Ort wird den meisten dann klar, dass die dauernde Bereitschaft gesundheitlich nur schwer durchzuhalten ist.

Das Bundesarbeitsgericht hat 2021 geurteilt, dass diese Bereitschaft als Arbeitszeit zu bezahlen ist.

Dass Bereitschaftszeit als Arbeitszeit zu werten und zu bezahlen ist, ist an sich nichts Neues. Hier war aber die Frage: Was heißt Bereitschaft in einer Situation, in der jemand im Haushalt der Auftraggeber*innen lebt? Und was heißt Freizeit? Viele der Agenturen sagen: Wenn die Pflegekraft mit der Person, die sie betreut, Kaffee trinkt, dann ist es ihre Freizeit. Wenn sie auf ihrem Zimmer ist, aber damit rechnen muss, jederzeit gerufen zu werden, sei das auch eine Art Freizeit. Das Bundesarbeitsgericht hat dagegen richtigerweise relativ weitgehend gesagt: Solange die Pflegekraft quasi auf dem Sprung ist, dann ist es Bereitschaftszeit.

Hat sich durch das Urteil in der Praxis etwas geändert?

Dazu habe ich keine Daten. Eigentlich hätte sich einiges ändern müssen. Allerdings ist es so, dass viele Beschäftigungsverhältnisse gar nicht im Arbeitsverhältnis abgewickelt werden, sondern selbstständig. Für die hat das Urteil auf den ersten Blick keine Relevanz, jedenfalls nicht, solange nicht Scheinselbstständigkeit geltend gemacht wird.

Ich hätte erwartet, dass 24-Stunden-Betreuung nach dem Urteil teurer geworden wäre oder es mehr Klagen gibt.

Für Klagen brauchen Sie Personen, die klagen möchten und bereit sind, das durchzuhalten. Viele, die unzufrieden sind, gehen beispielsweise nach Polen zurück. Einige erheben dann dort Klage. Insgesamt handelt es sich um ein sehr breites Feld und die Preise auf diesem Markt unterscheiden sich stark.

Gibt es Indikatoren für sichere, gute Arbeitsverhältnisse?

Dazu habe ich mit Bernhard Edmunds von der Hochschule Sankt Georgen ein Policy Paper geschrieben. Best Practice wäre, zu Beginn eine genaue Bestandsaufnahme zu machen: Was braucht die betreuungsbedürftige Person tatsächlich? Die wenigsten brauchen jemanden, der 24 Stunden bei ihnen ist.

Dann müsste geprüft werden: Was passiert in der Zeit, in der die Live-in Freizeit hat? Das muss vorher organisiert sein, und zwar so, dass sich alle damit wohlfühlen und Notfälle abgesichert sind. Es muss klar sein, was passiert und wer zuständig ist: Gibt es Tagespflege-Angebote? Gibt es ambulante Dienste? Das ist wesentlich, um diese Art von Betreuung überhaupt rechtssicher möglich zu machen.

Stichwort Rechtssicherheit: Im Koalitionsvertrag steht, die Ampel will eine “rechtssichere Grundlage” für die 24-Stunden-Betreuung schaffen. Beobachten Sie, dass da etwas passiert?

Soweit ich weiß, passiert da aktuell nichts. Was bedeutet “rechtssicher” hier überhaupt? Das ist eine weitere Problematik. Manche meinen, rechtssicher heißt vor allem, dass die Betreuten sicher sein können, von den Betreuungskräften nicht mit Ansprüchen überzogen zu werden. Wir meinen aber, eine rechtssichere Grundlage muss die arbeitsrechtlichen Grundlagen berücksichtigen und vor allem klarstellen, dass die typischen Konstellationen für die Betreuung Arbeitsverhältnisse darstellen. Sobald die Beschäftigung als selbstständig konstruiert wird, entsteht Rechtsunsicherheit.

Kurz erklärt: Arbeitsverhältnis, Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit

Ein Arbeitsverhältnis besteht, wenn eine Person – die Arbeitnehmerin – einen Arbeitsvertrag mit einem Arbeitgeber geschlossen hat. Darin sind die Bedingungen der Beschäftigung festgeschrieben, wie Arbeitszeit, Bezahlung und Vertragsdauer. Der Arbeitgeber darf darin nichts bestimmen, das den Gesetzen widerspricht, beispielsweise, was Arbeitsdauer oder Urlaub angeht. Die Beschäftigung ist sozialversicherungspflichtig.

Selbstständige sind nicht bei einem Arbeitgeber angestellt, sondern arbeiten unabhängig und eigenverantwortlich. Sie können zwar mit Vertragspartnern Vereinbarungen treffen, aber nicht im Rahmen eines gesetzlich geregelten Arbeitsvertrags und ohne Sozialversicherungspflicht.

Selbstständige, die faktisch von einem Auftraggeber abhängig sind, arbeiten unter Umständen scheinselbstständig. Das kann der Fall sein, wenn sie größtenteils für einen einzigen Arbeitgeber arbeiten und im Grunde das gleiche machen wie Angestellte – nur eben ohne den gleichen Vertrag und ohne Schutz durch die Sozialversicherungspflicht. Dann geht man davon aus, dass eigentlich ein Arbeitsverhältnis vorliegt und der Status wird unter Umständen geändert.

Quellen: bpb, IHK München

Warum macht es so einen großen Unterschied, ob die Betreuungskräfte angestellt oder selbstständig beschäftigt sind?

Weil es für Selbstständige kaum zwingende Rechte gibt, insbesondere keine Arbeitszeitbegrenzung per Gesetz. Allerdings entscheidet ja nicht der Vertrag, ob die Beschäftigung ein Selbstständigenverhältnis oder ein Arbeitsverhältnis ist, sondern die Art und Weise, wie sie ausgeführt wird. Es kann sich also auch um eine Scheinselbstständigkeit handeln. Deshalb sagen die meisten, die sich damit befassen: Wer das rechtssicher regeln will, muss die Tätigkeit als Arbeitsverhältnis festschreiben.

Wie können Dritte, beispielsweise aus Medizin oder Pflege, dazu beitragen, die Situation zu verbessern?

Sie müssten vor allem wissen, dass so etwas wie 24-Stunden-Betreuung nicht rechtssicher durchgeführt werden kann. Möglich wäre eine 1:1-Betreuung mit einer sehr guten Bestandsaufnahme und einem Pflegemix. Dazu können Mediziner*innen Familien beraten.

Halten wir also fest: Um umfangreiche Pflege zu gewährleisten, muss es nicht immer Live-in-Care sein?

Es gibt sicher Fälle, in denen Live-in-Care der optimale Weg ist. Das ist aber wohl eine sehr kleine Zahl. Als Gesellschaft müssen wir uns aber wohl grundsätzlich Gedanken machen: Sollte 1:1-Betreuung etwas sein, das regelhaft jeder Person zur Verfügung steht? Oder welche Alternativen müssten wir entwickeln?

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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