Teaser für das Interview mit Nico Dragano über Ungleichheit von Infektions- und Sterberisiken während Corona. Oben recht: Interview. 'Wir brauchen eine Public Health Strategie, die den Namen auch verdient hat' Unten rechts: Nico Dragano. Medizinsoziologe und Sozialepidemiologe

“Wir brauchen eine Public Health Strategie, die den Namen auch verdient hat”

Interview mit Nico Dragano

Wo wir leben, beeinflusst unser Risiko, an COVID-19 zu sterben. Das ist das Ergebnis einer Studie des Robert Koch-Instituts und des Instituts für Medizinische Soziologie in Düsseldorf. Der Medizinsoziologe und Sozialepidemiologe Nico Dragano ist an der Forschung beteiligt. Er sagt: Corona ist nur eines von zahlreichen Problemen gesundheitlicher Ungleichheit.

Herr Dragano, was genau haben Sie in der Studie zum ungleichen Sterberisiko beobachtet?

Wir haben anhand von Daten aus der zweiten Welle geschaut, wie sich die Mortalität auf regionaler Ebene in Deutschland verteilt. Das haben wir in Zusammenhang mit sozialen Indikatoren gesetzt, zum Beispiel Armut und Arbeitslosigkeit. Da sehen wir zum Teil, dass sich die regionale Verteilung der Sterblichkeit mit sozialer und ökonomischer Benachteiligung deckt. In Gegenden, wo es den Menschen wirtschaftlich nicht so gut geht, hatten wir mehr COVID-19-Todesfälle.

Trifft das nur auf das Risiko zu, an COVID-19 zu sterben?

Wir haben zahlreiche weitere Studien gemacht. Auch für Inzidenzen haben wir auf einzelne regionale Indikatoren geguckt. Da sieht man ähnliche Muster, zum Beispiel einen Zusammenhang mit dem Anteil der Haushalte mit geringem Einkommen.

Liegt das erhöhte Sterberisiko auch daran, dass es in manchen Regionen weniger gut ausgestattete Krankenhäuser gibt?

Dafür braucht es andere Studien. Die regionale Versorgungsstruktur mag eine Rolle spielen, aber im Normalfall können Patientinnen und Patienten verlegt werden. Es war vermutlich nicht so, dass wir im großen Stil Todesfälle gesehen haben, weil die Versorgung nicht gut war, sondern, weil Menschen, die sozial benachteiligt sind, häufig auch andere Risikofaktoren mitbringen. Sie sind häufiger übergewichtig, haben mehr Stress oder Vorerkrankungen.

Diese Vorerkrankungen sind also auch schon ungleich verteilt.

Ja, absolut. Wir haben bei nahezu allen Erkrankungen und Todesursachen soziale Ungleichheiten.

Kann man bei COVID-19 von einer Syndemie sprechen?

In der Forschung sprechen wir von einer Syndemie. Der Begriff stammt vom Medizinanthropologen Merrill Singer. Er bezieht das auf Epidemien und sagt, dass man dann von einer Syndemie spricht, wenn das zugrundeliegende Gesundheitsproblem überzufällig häufig andere Krankheiten nach sich zieht.

Was sind die Folgen von COVID-19?

Das sind zum Beispiel Patientinnen und Patienten, die chronisch krank sind oder OPs brauchen, aber derzeit nicht gut versorgt sind, weil Kliniken keine elektiven Eingriffe mehr machen. Oder Menschen trauen sich nicht zum Arzt. Oder sie erleben Belastung durch Lockdown-Maßnahmen oder Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das zieht Corona alles nach sich, wie einen Rattenschwanz. Und eine Bevölkerung, die körperlich schon angeschlagen ist, ist natürlich durch das Virus wiederum besonders gefährdet.

Warum redet die breite Öffentlichkeit trotzdem kaum von einer Syndemie?

Der Syndemie-Begriff ist nicht ganz einfach zu vermitteln. Das Thema schafft es ohnehin nicht oft ins öffentliche Bewusstsein. Es hat vor allem hohe Wellen geschlagen, als im März in Köln eine Studie veröffentlicht wurde, in der man gesehen hat, dass es in Stadtteilen mit sehr hohen Einkommen fast gar keine Infektionen gab und in Stadtteilen mit hohem Anteil an armen Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund sehr viele.

Dann ist kurz die Rede vom “Ungleichheitsvirus”. Aber sonst?

Sonst ist das auch so. Ein Beispiel ist gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern. Egal, auf welche Erkrankungen wir schauen: Kindern, die in Familien groß werden, die wenig Ressourcen haben, geht es schlechter. Und ich denke, wir können uns alle darauf einigen, dass ungleiche Gesundheitschancen bei Kindern ungerecht sind. Die können schlicht nichts dafür. Aber das Thema schafft es auch selten in die öffentliche Diskussion. Leider.

Wie könnte die Politik gesundheitlicher Ungleichheit begegnen?

So langsam überstrapaziert man das Beispiel von Bremen. Aber die Stadt nimmt das Thema seit dem Herbst letzten Jahres ernst und hat tatsächlich was gemacht – nämlich klassische Public Health Maßnahmen: Geh in die Community, rede mit den Leuten und finde Lösungen. Das scheint gut zu funktionieren. Ansonsten brauchen wir in Deutschland endlich eine Public Health Strategie, die den Namen auch verdient hat.

Wie verdient sie sich den Namen?

In eine ordentliche Public Health Strategie gehört gesundheitliche Ungleichheit. Dazu braucht es auf höchster Ebene den Willen und die Ressourcen, an der Problematik etwas zu ändern sowie Gremien und Strukturen, die Strategien für unterschiedliche soziale Parameter entwickeln. Wenn dann in fünf Jahren arme Menschen in Deutschland nicht mehr acht Jahre früher sterben als Reiche, wie es jetzt der Fall ist, dann hätte sie ihren Namen verdient.

Haben Sie Hoffnung in die neue Regierung, was das angeht?

Der Koalitionsvertrag ist an der Stelle vage. Es soll ein neues Public Health Institut geben, das aber dem Öffentlichen Gesundheitsdienst zugeordnet sein soll. Der wurde aber schon vor der Pandemie kaputtgespart und muss erstmal wieder auf die Beine kommen. Darum ist es für mich Kaffeesatzleserei, was die Einzelsätze dazu im Koalitionsvertrag bedeuten.

Was kann denn die Zivilgesellschaft tun, um die Lage zu verbessern?

Es wird schon ganz viel getan. Viele Organisationen kümmern sich. Ärztinnen und Ärzte versorgen benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Aber man sollte sich besser koordinieren und zusammenschließen. Die vielen einzelnen Initiativen gehen eher unter. Wir haben mächtige Probleme vor uns, zum Beispiel schlechte Bezahlung oder schlechte Bedingungen für Kinder. Vielleicht bräuchten wir eine Art “Fridays for Health Equity”, um mehr Schlagkraft zu haben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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