Teaser für das Interview mit Patricia Hänel über das Gesundheitskollektiv Berlin. Oben rechts: Im Interview. Patricia Hänel. Unten rechts: Ärztin. Gesundheitskollektiv Berlin Links: Potrait von Patricia Hänel.

Was braucht der Kiez?

Interview mit Patricia Hänel

“Wir gründen ein Kiez-Gesundheits-Zentrum”, hat das Gesundheitskollektiv Berlin im Frühjahr 2016 in Neukölln verkündet. Im Herbst 2021 ist es soweit: Im Norden des Viertels öffnet ein Stadtteilgesundheitszentrum seine Türen. Wie hat das Kollektiv das Projekt verwirklicht? Wie gelingt es ihm, die Bewohner*innen des Kiezes mit daran zu beteiligen? Darüber haben wir mit der Ärztin Patricia Hänel gesprochen, die seit über sechs Jahren Teil des Gesundheitskollektivs ist.

“Recht auf Stadt – Recht auf Gesundheit” war das Auftaktmotto Ihres Gesundheitszentrums. Warum gerade dieser Slogan?

Nur, wenn du die Möglichkeit hast, deinen Stadtteil zu gestalten, kannst du auch gesundheitsförderliche Lebensbedingungen gestalten. Wir möchten Menschen ermächtigen, Einfluss auf ihre Lebensbedingungen im Stadtteil zu nehmen. Wir unterstützen sie dabei, einzufordern, dass sich Dinge im Stadtteil ändern, zum Beispiel dass Spielplätze gebaut werden, der Verkehr beruhigt wird und medizinische Versorgung stattfindet.

Wie haben Sie entschieden, dass das Gesundheitszentrum in Neukölln entstehen soll?

Wir haben anhand von Sozialdaten und Morbiditätsdaten geschaut, wo es in Berlin Bedarf nach besserer Versorgung gibt. Der Sozial-Atlas Berlin zeigt, wie die Wohnverhältnisse sind, wie hoch die Einkommen oder der Anteil an Transferleistungen. Da haben wir die Stadtteile mit den größten Problemen rausgesucht, bei denen wir dachten, da ist ein zusätzliches Angebot am sinnvollsten. Wir haben zwischen Wedding und Neukölln geschwankt. Dann hat es sich ergeben, dass uns in Neukölln eine Immobilie angeboten wurde.

Vor Ort haben Sie dann eine Sozialraum- und Bedarfsanalyse durchgeführt. Was kann man sich darunter vorstellen?

Zusätzlich zu den öffentlich zugänglichen sozio-demographischen Daten haben wir mehrere Fokusgruppenbefragungen gemacht. Das heißt, wir haben die Akteure, die es im Kiez schon gab, also Selbsthilfegruppen, Stadtteilzentren und verschiedene Initiativen, befragt, was die Versorgungsdefizite im Stadtteil sind. Außerdem haben wir eine schriftliche Befragung durchgeführt. Wir sind von Haustür zu Haustür gelaufen und haben mit einem Fragebogen sowohl die gesundheitliche, als auch die soziale und psychische Situation abgefragt.

Was war das Ergebnis der Befragung?

Sie hat gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen sozialer Situation und subjektiver Gesundheit gibt. In Neukölln gibt es eine Menge sozialer Probleme, die viel mit Wohnen und der Mietsituation zu tun haben. Die Leute haben Angst, ihre Miete nicht mehr zahlen zu können und ihre Wohnung zu verlieren. Aber auch Diskriminierungserfahrungen und die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, wurden geäußert. Übergewicht, Ernährung und Bewegungsmangel bei Jugendlichen, Drogen und Spritzen im Kiez und Kitaplätze sind weitere Themen, die brennen.

Wie erreichen Sie die Menschen im Viertel?

Wir gehen auf die Straße und quatschen sie an. Wenn wir zum Beispiel mit Kindern und Jugendlichen auf dem Spielplatz arbeiten, können wir uns auch zu den Eltern setzen und mit ihnen sprechen. Vor Kurzem haben wir auf einem Platz einen Tisch und einen Lautsprecher aufgebaut und dort mit zwei Leuten gesprochen, die Suchtkranke versorgen. Da konnte man dazu kommen, sich das anhören und Fragen stellen. Wir müssen so präsent sein, mit allen Initiativen im Stadtteil arbeiten, an die Menschen herankommen und ihnen von unserem Angebot erzählen.

Wie gut funktioniert das?

Es ist mühselig und langwierig. Wir müssen Stück für Stück Vertrauen gewinnen. Viele Leute haben schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen und mit Ämtern gemacht. Deswegen ist es nicht so, dass auf einmal alle sagen: “Oh cool, jetzt kommt das Gesundheitskollektiv, die sind die besseren!” Aber wir sind geduldig.

Können Bürger*innen sich an Ihren Projekten beteiligen?

Wir versuchen, sehr partizipativ zu arbeiten. Wir haben eine Kiez-AG, in der zum Beispiel das Café in unserem Gesundheitszentrum gemeinsam entwickelt wird. Aber unsere Erfahrung zeigt, dass Partizipation zwar ein Schlagwort ist, das sich alle gern auf die Fahnen schreiben, sie aber schwer umzusetzen ist.

Was sind die Probleme dabei, Partizipation zu ermöglichen?

Es reicht nicht, einfach nur offen zu sein und zu sagen “Kommt alle”, sondern man muss die Leute aktiv reinholen. Wir versuchen immer wieder, Meinungen einzuholen und zum Mitmachen zu motivieren. Aber für ein Ehrenamt braucht man Ressourcen und Privilegien. Es ist aufwendig, sich einmal die Woche in einer AG zusammenzufinden. Das ist mit Verpflichtungen verbunden und verlangt ein gewisses Commitment. Wer hat die Zeit und das Geld, sich jenseits von Arbeit und Kinderbetreuung in einem Projekt einzubringen? Dazu kommt die Frage nach der Wirksamkeit der Partizipation. Viele Leute sagen sich “Was soll’s? Ich kann hier mitmachen, aber am Ende macht ihr doch, was ihr wollt.” Ich kann das gut nachvollziehen.

Wie kann der Eindruck entstehen, dass Beteiligung wirkungslos ist?

Im Gesundheitszentrum arbeiten wir alle in Gesundheitsberufen, haben Erfahrung und Wissen und eine bestimmte Vorstellung davon, was wahrscheinlich gut wäre. Wer sich noch nie mit den Strukturen des Gesundheitswesens beschäftigt hat, kann nur schwer verstehen, was die eigentlichen Defizite sind und was man dagegen tun könnte. Auf die Frage “Was fehlt euch hier im Kiez?” haben wir die Antwort bekommen, dass neurologische Praxen fehlen, weil es viele Leute mit Depressionen und Schlafstörungen gibt. Da sage ich: Wir brauchen keine neurologischen Praxen, sondern gute allgemeinmedizinische und psychologische Versorgung und Lebensbedingungen, die Depressionen und Schlafstörungen verhindern. Aber es ist ja ein bisschen überheblich zu sagen “Ich weiß besser als ihr, was die Lösung für euer Problem ist.”

Wie gehen Sie mit solchen Konflikten um?

Wir müssen genau fragen, was die Probleme und was die Wünsche sind, aber auch Stück für Stück erklären, warum zum Beispiel die neurologischen Praxen nicht die Lösung für das Problem sind. Das zu verhandeln und die Leute nicht zu verschrecken, ist ein langwieriger und aufwendiger Prozess. Da gibt es keine schnellen Erfolge, das ist jahrelange Arbeit.

Frontalaufnahme eines Gebäudes an dem gebaut wird.
Foto: Das Neuköllner Stadtteilgesundheitszntrum im Aufbau. © Gesundheitskollektiv Berlin, Juni 2021

Nach jahrelanger Arbeit eröffnet bald das Stadtteilgesundheitszentrum. Was erwartet die Menschen dort?

Wir haben zwei Stockwerke in einem neuen großen Gebäude in Nord-Neukölln gemietet. Dort ziehen wir mit anderen sozialen Einrichtungen zusammen ein. Wir arbeiten schon seit ungefähr drei Jahren an dezentralen Orten im Stadtteil: In einer Kinderarztpraxis, einer allgemeinmedizinischen Praxis, einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutischen Praxis und mit psychologischer Beratung und Forschung. Es gibt einen Beratungsraum, einen Büroraum und eine mobile Gesundheitsberatung. All das ist aktuell noch verteilt und wird ab Herbst gemeinsam unter einem Dach angeboten. Das geplante Café wird unsere zentrale Stelle. Da kann man auch einfach hingehen und einen günstigen Kaffee trinken. Es sollen Ausstellungen stattfinden und Selbsthilfegruppen und Initiativen aus dem Kiez können sich treffen. Von dort aus gelangt man links zur Sozialberatung, rechts zur psychologischen Beratung und oben in die Arztpraxen.

Können die verschiedenen Stellen trotz Kooperationsverbot zusammenarbeiten?

Das Kooperationsverbot ist ein großes Thema bei uns. Wir müssen sicherstellen, dass Arztpraxen und die Beratung, die vom Verein angeboten wird, unabhängig voneinander funktionieren und finanziert sind und dass der Datenschutz eingehalten wird. Die beiden Arztpraxen brauchen jeweils völlig abgeschlossene Räumlichkeiten. Wir hätten eigentlich gerne eine Physiotherapie-Praxis dabei. Aber auch die hätte eine vollständige räumliche und wirtschaftliche Trennung gebraucht, also einen eigenen Eingang, einen eigenen Tresen, eine eigene Toilette. Das können wir gar nicht abbilden. Wir müssen eine künstliche Trennung herstellen, obwohl wir eigentlich wollen, dass alles eine gemeinsame und offene Einheit ist. Das ist eine groteske Situation. Eigentlich ist es gewünscht, dass gerade Menschen mit mehrfachen und komplexen Erkrankungen von mehreren Versorgern integriert behandelt werden. Darum setzen wir uns gleichzeitig politisch dafür ein, das Gesundheitszentrum perspektivisch als gemeinschaftliche Struktur anbieten zu können.

Wie wird all diese Arbeit finanziert?

Die Arztpraxen werden ganz normal vergütet. Unser Verein erhält Fördermittel von der Robert-Bosch-Stiftung und vom Land Berlin. Daneben gibt es noch kleinere Fördertöpfe. Letztendlich haben wir aber kein Budget, mit dem wir planen können und sind eigentlich nicht ausreichend finanziert. Darum freuen wir uns immer sehr über Spenden.

Wie sollte Gesundheitsversorgung im Kiez idealerweise organisiert sein?

Wir vertreten die Ansicht, dass Primärversorgung regional angeboten sein sollte und nicht gewinn-, sondern gemeinwohlorientiert sein muss. Das betrifft Zentren mit Allgemeinmedizin, Kinderheilkunde, gegebenenfalls Gynäkologie, Pflege, psychologische und Sozialberatung, gesundheitsbezogene Stadtteilarbeit. Praxen im herkömmlichen Sinne sollen natürlich gerne parallel weiter dazu existieren. Aber Stadtteilgesundheitszentren sollten ein normaler Teil des Gesundheitssystems werden.

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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