Gesundheitliche Ungleichheiten lassen sich nur beseitigen, wenn man soziale Ungleichheiten beseitigt

Ein Interview mit David Klemperer

Als sozialmedizinischer Newsletter stellt sich für uns die Frage, was Sozialmedizin eigentlich ist und welchen Wert diese Perspektive für den medizinischen Alltag hat. Wir haben mit David Klemperer von der Hochschule Regensburg (OTH) gesprochen. Er ist Sozialmediziner und Public-Health-Wissenschaftler und hat ein Lehrbuch zu Sozialmedizin, Public Health und Gesundheitswissenschaften geschrieben.

Upstream: Was ist überhaupt Sozialmedizin?

David Klemperer: Im 18. und 19. Jahrhundert wiesen Ärzte auf Armut und fehlende Bildung als Ursachen für schlechte Gesundheit hin. Sie entwickelten eine Disziplin, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Sozialmedizin bezeichnet wurde. Aus heutiger Sicht handelt es sich um Public Health.

Wie kam es zu dem Wandel den Sie beschreiben, von Sozialmedizin zu Public Health?

Die Medizin im Nationalsozialismus zielte auf die Vernichtung von Bevölkerungsgruppen, die als „erblich minderwertig“ angesehen wurden. Das Konzept, dass Krankheiten soziale Ursachen haben, und Ärzt:innen, die es vertraten, wurden beseitigt. Nach dem 2. Weltkrieg verengte sich Sozialmedizin dann zur Sozialversicherungsmedizin. Diese befasste sich hauptsächlich mit Begutachtungen und den Ansprüchen von Versicherten gegenüber der Sozialversicherung. Mitte der 1980er-Jahre begann dann die Entwicklung von Public Health in Deutschland im akademischen Bereich.

Sprechen Sie deshalb lieber von Public Health als von Sozialmedizin?

Ich verbinde Sozialmedizin mit der Tradition von sozialen Medizinern wie Salomon Neumann und Rudolph Virchow. Deshalb sind die beiden Begriffe für mich gleichbedeutend.

Inwiefern sollte Public Health eine größere Rolle im medizinischen Alltag spielen?

Im medizinischen Alltag gilt die Sorge der Ärztin und des Arztes in erster Linie dem:der Patient:in als krankem Individuum. Hausärzt:innen pflegen im günstigen Fall mit ihren Patient:innen langjährige vertrauensvolle und kooperative Beziehungen. Hier geht es nicht allein um die Behandlung akuter Beschwerden, sondern man vereinbart gemeinsam Prioritäten und Ziele der Behandlung. Dabei spielen die soziale Situation der Patient:innen und auch sozialrechtliche Fragen nach Leistungsansprüchen eine Rolle und die Koordination von medizinischer und sozialer Versorgung. Dies würde ich als eine soziale Medizin bezeichnen, aber nicht als Public Health. Wenn allerdings die Hausarztmedizin in Deutschland den Gesundheitszustand der Gruppe der sozial Benachteiligten insgesamt spürbar verbessert und damit die soziale Ungleichheit der Gesundheit mindert, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Public Health.

Wie ist das konkret im medizinischen Alltag möglich?

Die Notwendigkeit, Medizin und Soziales gemeinsam zu betrachten, zeigt sich beispielsweise ganz deutlich bei Suchtkranken und bei Obdachlosen. Wenn die soziale Situation nicht mitbehandelt wird, sind die Möglichkeiten der Medizin zumeist sehr beschränkt. Diese Zusammenführung von Medizin und Sozialem hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin in ihren Zukunftspositionen im Jahr 2012 zu ihrem Programm erklärt. Ob und in welchem Umfang dies umgesetzt ist, weiß ich nicht. Ansätze sind im Berliner Projekt Kiezmedizin zu erkennen und im kürzlich erschienenen Buch „Die Hausarztpraxis von morgen“ von Iris Veit und drei weiteren Allgemeinmediziner:innen.

Michael Marmot forderte 2008 in einem Bericht für die WHO die Gesundheitslücke, die durch soziale Einflüsse entsteht, zu schließen. Sehen sie Prozesse, die da bereits ansetzen?

Letztlich lassen sich die sozialen Ungleichheiten der Gesundheit nur dadurch beseitigen, dass man die sozialen Ungleichheiten beseitigt. Das ist eine anspruchsvolle politische Aufgabe, die nicht in erster Linie eine medizinische ist. Die Gesundheitslücke, beziehungsweise die schlechtere Gesundheit der sozial tiefer Stehenden, berührt politische geregelte Bereiche wie Steuern, Bildung, Arbeit, Umwelt, Wohnen und Gesundheitsversorgung. Diese Lücke zu schließen oder sie zumindest zu verkleinern erfordert gezielte Anstrengungen in allen Politikbereichen, was auch als „health in all policies“ bezeichnet wird. Noch ist es allerdings kein explizites Politikziel, die soziale Ungleichheit der Gesundheit zu mindern.

Wo sollte Politik denn ansetzen?

Bildung ist entscheidend für den sozioökonomischen Status. Die Bildungschancen sind derzeit sehr ungleich verteilt. Immer noch spielt das Elternhaus eine entscheidende Rolle für den Schulabschluss. Kinder von Eltern mit hohem Bildungsabschluss haben sehr viel höhere Chancen auf Abitur und Studium als Kinder von Eltern mit niedrigem oder keinem Schulabschluss. Das ist extrem ungerecht. Konzepte für frühkindliche Bildung und Bildung im Schulalter, die Teilhabe und Chancengerechtigkeit ermöglichen sollen, hat die Bertelsmann Stiftung vorgelegt. Auch hier ist es erforderlich, die politische Entschlossenheit zu fördern.

Das heißt, die Verantwortung liegt bei der Politik. Oder tragen Mediziner:innen auch einen Teil daran?

Die Verantwortung liegt bei der Politik oder besser: bei den Politiker:innen. Und bei denjenigen, die sie wählen, denn die bestimmen ja, wer politische Entscheidungen trifft. Mediziner:innen sind in unterschiedlichem Maße mit der sozialen Wirklichkeit ihrer Patient:innen konfrontiert.

Was heißt das?

Nach meiner Einschätzung sind insbesondere Hausärzt:innen, Kinderärzt:innen und auch Gynäkolog:innen in ihrem medizinischen Alltag fortwährend mit der sozialen Wirklichkeit ihrer Patient:innen konfrontiert und daher auch zuständig und verantwortlich. Sie haben mit ihren Patient:innen langfristig Kontakt und kennen ihre Lebensumstände. In der Regel gewinnen sie auch Einblicke in die soziale Strukturen ihres Stadtteils oder ihres Umfelds. Mediziner:innen sollten ihr hohes Ansehen in der Gesellschaft nutzen, ihre Stimme wird gehört. Diese Stimme sollten sie auch für nicht-medizinische Forderungen erheben, die zur Minderung der sozialen Ungleichheit der Gesundheit beitragen können, wie zum Beispiel für eine chancengerechte Bildungspolitik.

Wie ließe sich eine solche sozialmedizinische Perspektive besser realisieren?

Schon die Medizinstudent:innen müssen lernen, Patient:innen in ihrer Lebenswelt wahrzunehmen. Im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog für die Mediziner:innenausbildung werden den medizinischen Expert:innen verschiedene Rollen zugewiesen. Darin ist nach meinem Verständnis auch die Verantwortung für die Gesellschaft angesprochen sowie soziale Themen und auch die sozialen Determinanten der Gesundheit. Mein Vorschlag: ein Curriculum für Medizinstudent:innen entwickeln mit den Themenfeldern „Bedeutung des Sozialen in der Medizin“, „Handlungsmöglichkeiten im medizinischen Alltag“, „Handlungsmöglichkeiten für die Ärzteschaft“.

Das Interview wurde im Dezember 2020 durchgeführt, der Text wurde im April 2021 nochmal überarbeitet.

Schlagworte:

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