Wie die EU-Staaten gesundheitliche Chancengleichheit blockieren
“Gleichheit gibt’s nicht gratis”, so Katri Bertram. Die Beraterin für globale Gesundheitspolitik sagt, der Blick auf den Haushalt der EU zeige, dass die Mitgliedsstaaten kaum bereit sind, für gleiche Gesundheitschancen zu zahlen.
Katri Bertram beschäftigt sich seit rund zwei Jahrzehnten mit globaler Gesundheitspolitik. Für sie ist bei den gesundheitlichen Ungleichheiten in Europa der Blick aufs Geld am aufschlussreichsten. Denn “Gleichheit gibt’s nicht gratis”. An der Finanzierung zeige sich, dass die EU-Staaten kaum bereit sind, für gleiche Gesundheitschancen zu zahlen. Selbst große, neue Projekten der Europäischen Union seien deshalb unterfinanziert.
Frau Bertram, wir beschäftigen uns seit Kurzem mit gesundheitlicher Ungleichheit in Europa. Was dürfen wir dabei auf keinen Fall außer Acht lassen?
Katri Bertram: Strategiepapiere und große Pläne, wie die Europäische Gesundheitsunion, sind schön. Wichtiger ist zu schauen, wo das Geld fließt und wie es verteilt wird. Die europäischen Budgets für Gesundheit sind mickrig. Da fragt man sich: Sind die Mitgliedstaaten überhaupt bereit, eine europäische Gleichheit zu gestalten? An den Finanzierungsflüssen sieht man die klare Antwort: Nein.
Warum setzen die EU-Staaten sich so wenig für gleiche Gesundheitschancen ein?
Katri Bertram: Gleichheit gibt’s nicht gratis. Wenn wir Gleichheit schaffen wollen, müssen Ressourcen von A nach B fließen. Dafür ist Verteilung nötig und es muss der Wille da sein, das Geld durch Steuern oder andere Mechanismen aufzutreiben. Steuern können alle gleich betreffen oder reiche Leute bezahlen mehr als ärmere. Aber den Willen, gesundheitliche Gleichheit zu finanzieren, kann ich nicht erkennen.
Welche Ungleichheiten beobachten Sie in der europäischen Gesundheitspolitik?
Katri Bertram: Die Ungleichheiten in Europa sind die gleichen wie global. Wir sehen starke Ungleichheiten zwischen Ländern, abhängig davon, welche finanziellen Möglichkeiten ein Land hat und wie die Gesundheitssysteme politisch gestaltet sind. Gleichzeitig sehen wir Ungleichheiten innerhalb von Ländern. Innerhalb der staatlichen Grenzen werden sie oft ausgeblendet, wenn die allgemeine Gesundheitssituation gut aussieht.
Eine Spanierin erwartet ein ungefähr 18 Jahre längeres Leben als einen Bulgaren. Wie lassen sich solche Ungleichheiten erklären?
Katri Bertram: Ein Gesundheitssystem greift meist erst, wenn jemand krank ist oder einen Notfall hat. Die Beispiele Spanien und Bulgarien zeigen, wie die Determinanten außerhalb des Gesundheitssystems wirken. Das ist nicht nur durch die wirtschaftliche Situationen bedingt – Spanien ist reicher als Bulgarien –, sondern auch, wie Menschen in der Arbeit oder Sozialsystemen angedockt sind oder andere Krisen wie Sucht durchleben.
Welche Folgen hat gesundheitliche Ungleichheit?
Katri Bertram: Die Ungleichheit im Gesundheitsbereich hat Folgen, die über die direkte Gesundheit hinausgehen. Wer krank ist, kann meistens nicht arbeiten, kann nicht auf seine Kinder aufpassen, kann sich weniger weiterbilden und wird dadurch bei wirtschaftlichen Fortschritten zurückgeworfen. Das zeigt sich auch in der Wirtschaft.
Sie beobachten Gesundheitspolitik aus internationaler Perspektive. Was macht die EU, damit es allen gleich gut geht?
Katri Bertram: Man muss trennen: Wer ist EU-Staatsbürger*in und wer nicht? Unionsbürger*innen können im Regelfall die Gesundheitssysteme in fast allen EU-Ländern nutzen. Ich als Finnin kann in Deutschland leben oder in Spanien Urlaub machen und habe Zugang zum Gesundheitssystem, wenn ich es brauche. In anderen Regionen, zum Beispiel in Amerika, gibt es solche Möglichkeiten nicht. Dort sind nicht alle Leute abgesichert oder haben die finanziellen Möglichkeiten, Gesundheitssysteme überhaupt in Anspruch zu nehmen. Aber von der Luxussituation, die wir haben, sind auch in Europa Menschen ausgeschlossen.
Wer ist ausgeschlossen?
Katri Bertram: Flüchtlinge haben in den meisten Ländern nicht die gleichen Rechte wie Staatsbürger*innen. Und selbst da muss man unterscheiden. Die Fluchtbewegung aus der Ukraine hat gezeigt: Einige haben mehr Rechte als andere. Aber auch Ausländer*innen, die keine permanente Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigung haben, müssen sich privat absichern.
Auf welcher Grundlage hat die EU entschieden, Menschen mit ukrainischem Pass besser zu behandeln als andere Geflüchtete?
Katri Bertram: Das ist eine Frage der Identitätspolitik: Wer ist uns ähnlich, was definieren wir als “wir” und wen als “die anderen”? Im Fall der Ukraine war ein Thema, dass viele Ukrainer*innen weiß sind. Als weiße Nordeuropäer*innen gehören sie irgendwie zur europäischen Gemeinschaft. 2015 sah das bei Menschen aus Syrien oder Afghanistan anders aus. Die haben damals nicht die gleichen Rechte oder Sofortmaßnahmen genossen wie im vergangenen Jahr die Ukrainer*innen.
Hat die Corona-Pandemie Europa gesundheitspolitisch zusammengeführt?
Katri Bertram: Ja, zumindest im sehr engen Bereich der Pandemie-Sicherheit. Dort wurden mit der ECDC und HERA neue Mechanismen aufgestellt. Wenn man sich deren Gelder anschaut, sieht man aber, dass selbst diese sehr engen Bereiche unterfinanziert sind. Beide Behörden haben wenig Personal. Die Kommission hatte größere Budgets vorgeschlagen, aber letztendlich haben die Mitgliedstaaten nicht zugestimmt.
Warum haben die Mitgliedsstaaten gegen höhere Gesundheitsbudgets gestimmt?
Katri Bertram: Das liegt am ständigen Kampf zwischen Kommission und Mitgliedstaaten. Die Kommission will viel koordinieren. Koordinieren bedeutet für die Kommission oft auch bestimmen. Die Mitgliedstaaten wollen Entscheidungen in ihrer eigenen Hand haben, insbesondere was die Haushaltsmittel angeht.
Welche Position hat die Bundesregierung in dem Prozess eingenommen?
Katri Bertram: Ich spreche nicht für die Bundesregierung. Aber natürlich versucht die Bundesregierung, mit der Kommission und mit anderen Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten. Trotzdem verteidigt sie eigene Interessen. Das haben wir insbesondere bei den Impfstoff-Einkäufen gesehen. Trotz des Versuchs der Kommission, für die EU alles zusammen einzukaufen, hat Deutschland zusätzlich vieles bilateral verhandelt. Die Kommissionsperiode von Ursula von der Leyen mit der Agenda “Team Europe”, zeigt, dass der Gedanke, Gesundheit für alle Menschen global weiterzuentwickeln und nicht nur in Europa zuerst, noch nicht so ganz überall in Europa angekommen ist.
… wie bei der Diskussion um die Corona-Impfpatente?
Katri Bertram: Die EU vertritt die starke Position: Patente müssen verteidigt werden, egal was. Die Bundesregierung unterstützt das, ebenso wie die vorherige Regierung. Das Argument ist: Sonst haben wir in Zukunft keine Forschung. Das ist nicht nur moralisch schwierig, sondern hat auch die Pandemie sehr ungleich gemacht.
Im Jahr 2015 haben die Vereinten Nationen die Nachhaltigen Entwicklungsziele 2030 beschlossen. Darin verpflichtet sich auch Europa, den Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle herzustellen. Wie ist der Erfolg bisher?
Katri Bertram: Der Erfolg der Nachhaltigen Entwicklungsziele, insbesondere der Gesundheitsziele, ist global noch sehr eingeschränkt. Die Bundesregierung hat mit der deutsche Nachhaltigkeitsstrategie angedeutet, dass viele Ziele Deutschland nicht betreffen. An der Nachhaltigkeitsstrategie sieht man: “Gesundheit für alle” gilt vielleicht doch noch nicht für alle.