Wer hat das Risiko, wer ist geschützt?
Claudia Hövener zeigt, nicht alle Menschen trifft das gleiche Risiko, an Covid-19 zu erkranken oder einen schweren Verlauf zu erleiden. Was kann die Medizin also aus der Pandemie lernen?
Welche Faktoren erhöhen die Gefahr einer Erkrankung? Wie können sie abgefedert werden? Und: Was kann die Medizin aus der Pandemie lernen? Darüber haben wir mit der Gesundheitswissenschaftlerin Claudia Hövener gesprochen. Sie leitet das Fachgebiet Soziale Determinanten am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin und ist für die Studie Corona Monitoring lokal verantwortlich.
Frau Hövener, beim Corona-Monitoring lokal untersuchen Sie die Bevölkerung in drei süddeutschen Gemeinden und in Berlin-Mitte auf SARS-CoV-2-Antikörper. Wie wurden diese Orte ausgewählt?
Hövener: Alle Orte waren zu einem Zeitpunkt unter den Top-Ten der 7-Tage-Inzidenz. Kupferzell und Bad Feilnbach sind kleine Gemeinden mit unter 10000 Einwohner*innen, die sich durch ein sehr ausgeprägtes Infektionsgeschehen ausgezeichnet haben. In Kupferzell waren fast alle Infektionen auf ein Kirchenkonzert zurückzuführen. Straubing ist ja dagegen schon ein eher städtischer Raum. Dort waren wir direkt nach den Sommerferien, nachdem Reiserückkehrer*innen Infektionen eingetragen hatten. In Berlin-Mitte waren wir Ende November, Anfang Dezember, am Anfang der zweiten Welle.
Das Corona Monitoring lokal
Die RKI-Studie Corona-Monitoring lokal untersucht seit Mai 2020 die Ausbreitung des Corona-Virus an vier Orten in Deutschland: Kupferzell in Baden-Württemberg, Bad Feilnbach und Straubing in Bayern, sowie Berlin-Mitte. Ziel der Studie ist zunächst gewesen, festzustellen, wie hoch die Seroprävalenz, also der Nachweis von Antikörpern, und die Dunkelziffer der Infektionen sind. Außerdem sollten Risiko- und Schutzfaktoren für eine Infektion ermittelt werden. 2021 läuft die Studie weiter und untersucht die Langzeitfolgen von COVID-19.
Was sind Risikofaktoren einer Corona-Infektion?
Hövener: Risikofaktoren beeinflussen zum einen die Schwere der Erkrankung. Wenn ich eine Vorerkrankung habe, dann ist das Risiko größer, dass ich einen schweren Krankheitsverlauf erleiden werde. Zum anderen geht es um die direkte Exposition: Arbeite ich in der Pflege oder im öffentlichen Nahverkehr? Oder war ich auf dem Kirchenkonzert in Kupferzell? Des Weiteren gibt es strukturelle Risikofaktoren, beispielsweise Armut. Das kann zum Beispiel am Wohnumfeld liegen, an prekärer Beschäftigung, oder am Mangel der Möglichkeiten, sich individuell zu schützen. Gerade in der zweiten Welle haben wir gesehen, dass ärmere Menschen häufiger betroffen waren.
Konnten Sie diese strukturellen Risikofaktoren auch vor Ort feststellen?
Hövener: Kaum, jedenfalls in Kupferzell und Bad Feilnbach. Das liegt wahrscheinlich am Infektionsgeschehen vor Ort. Ein Kirchenkonzert in einem kleinen Ort ist relativ unabhängig vom sozioökonomischen Status der Bewohner*innen, da gehen alle hin. Außerdem ist Armut in Kupferzell und Bad Feilnbach nicht sehr verbreitet. Was wir aber gesehen haben, ist, dass Menschen, die einen geringeren Sozialstatus haben, sich exponierter gefühlt haben. Sie hatten also größere Angst vor der Infektion und haben ihr Risiko sich zu infizieren höher bewertet.
Was konnten Sie in Berlin beobachten?
Hövener: In Berlin-Mitte ist die Fallzahl zu klein, um die strukturellen Risikofaktoren beurteilen zu können. Wenn wir aber nicht auf die Individualdaten im Corona-Monitoring lokal schauen, sondern auf Regionaldaten in ganz Deutschland, dann sehen wir, dass deprivierte Landkreise eine höhere Inzidenz und eine höhere Mortalität haben.
Was sind deprivierte Landkreise?
Hövener: Bei uns im Fachgebiet benutzen wir einen Deprivationsindex. In diesen fließen Daten aus den Bereichen Einkommen, Bildung und Beschäftigung ein, die auf regionaler Ebene erhoben werden, zum Beispiel das durchschnittliche Einkommen, die Arbeitslosenquote, oder durchschnittliche Bildungsabschlüsse der Menschen. Dementsprechend werden die Landkreise in Quintile aufgeteilt, von am wenigsten depriviert, also finanziell besser gestellt und besser gebildet, bis sehr depriviert.
Und das hängt damit zusammen, wie stark ein Kreis von Corona betroffen ist?
Hövener: Wir schauen uns das zusammen mit den Meldedaten an, die wir am RKI erheben. Da ist zum einen die Inzidenz, wie viele neue Fälle es über einen bestimmten Zeitraum gibt, und zum anderen die Mortalität, also wie viele Menschen über einen gewissen Zeitraum hinweg gestorben sind. Dort sehen wir einen großen Unterschied in der Betroffenheit bei deprivierten Landkreisen. Das ist aber ein Effekt, der sich erst seit Mitte der zweiten Welle zeigt.
Warum ist der Effekt so spät aufgetreten?
Hövener: In der ersten Welle hat das Infektionsgeschehen hier durch Pendler*innen und Ski-Rückkehrer*innen begonnen. Das sind ja oft eher finanziell besser gestellte Personen. Es hat gedauert, bis sich das verändert hat, aber eigentlich ist es oft so, dass gerade Atemwegserkrankungen irgendwann häufiger Menschen betreffen, die auf engem Wohnraum zusammenleben und ein geringeres Einkommen haben.
Wo konnte man das beobachten?
Hövener: Schon in der Phase zwischen erster und zweiter Welle, im Juni 2020 gab es Fälle in der fleischverarbeitenden Industrie und bei Erntehelfer*innen. Die Menschen befinden sich in prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen, sind temporär migriert und haben keinen adäquaten Zugang zum Gesundheitssystem. Außerdem gab es diverse Ausbrüche in Gemeinschaftsunterkünften von Geflüchteten. Dort war es nicht möglich, Personen unter Quarantäne zu stellen, darum wurde die ganze Einrichtung unter Quarantäne gestellt. Menschen, die nicht infiziert waren, konnten sich nicht schützen.
Wie können besonders gefährdete Personen geschützt werden?
Hövener: Erstmal ist es wichtig, dass Menschen die Möglichkeit haben, sich zu schützen. Wenn sie nicht verstehen, was um sie herum passiert, ist das nicht gewährleistet. Am Beispiel von Gemeinschaftsunterkünften sehen wir: Wir können nicht Menschen einsperren und warten, dass das Infektionsgeschehen irgendwann vorbei ist. Da braucht es Konzepte. In vielen Situationen waren alle überfordert, auch die lokalen Akteur*innen. Das Personal in einer Gemeinschaftsunterkunft beispielsweise ist ja auch nicht für eine Pandemie ausgebildet gewesen. Darum haben wir am RKI Handreichungen zu Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften und zum Umgang mit marginalisierten Gruppen formuliert, um den Gesundheitsbehörden zu helfen Kontakt mit diesen Bevölkerungsgruppen aufzunehmen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Konnten Sie in Ihren Untersuchungen auch Schutzfaktoren vor einer COVID-19-Infektion feststellen?
Hövener: Für Berlin liegen die Daten noch nicht vor. Im ländlichen Raum haben wir festgestellt, dass der Zusammenhalt, das Gefühl von “Wir sind gemeinsam da drin und wir überwinden diese Krise gemeinsam” recht ausgeprägt war. Diese soziale Unterstützung ist ein Schutzfaktor in Bezug auf Resilienz. Wenn ich mich resilient fühle, fühle ich mich selbstwirksam und dann ist auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass ich mich und andere schütze.
Spielen die beobachteten Risiko- und Schutzfaktoren auch außerhalb der Pandemie eine Rolle?
Hövener: Ja. Einer der eindrücklichsten Befunde ist, dass Menschen in Armut, mit einem geringeren Sozialstatus, bis zu zehn Jahre kürzer leben als Menschen in der höchsten Statusgruppe. Menschen mit einem geringeren Sozialstatus sind häufiger von chronischen Erkrankungen wie Herzerkrankung, Diabetes, COPD oder von Depressionen betroffen. Das ist wirklich nichts Neues. Außerdem ist Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit ein intersektionales Thema, das nicht nur die Gesundheit betrifft, sondern alle Lebensbereiche, zum Beispiel die Arbeitswelt, Stadtentwicklung oder Wohnraum. Deswegen ist es nicht so einfach, das Thema zu adressieren. Da brauchen wir die Unterstützung verschiedener Akteur*innen.
An die Medizin adressiert: Welche Handlungsmöglichkeiten Sehen sie für beispielsweise Ärzt*innen und Pflegende?
Hövener: Ich glaube, es braucht eine gewisse Sensibilität auf allen Ebenen. Es ist wichtig, die Community und die Betroffenen selbst einzubinden, um zu verstehen, was sie wirklich brauchen. Es ist schwer, Maßnahmen und Empfehlungen für Leute zu geben, wenn wir uns gegenseitig nicht verstehen. Dabei geht es nicht darum, die Menschen als Opfer zu sehen, sondern Empathie zu haben, dass es für sie schwer ist, sich aus ihrer sozialen Lage zu befreien. Als Gesellschaft haben wir eine Verantwortung, sie zu befähigen und ihnen zu helfen. Ärzt*innen und Pflegende haben die Möglichkeit, an Angebote zu verweisen, die es vor Ort gibt, zum Beispiel Sozialarbeit oder Angebote in den Quartieren. Krankenhäuser sind ja oft lokal vernetzt. Da lässt sich viel tun, um Angebote zu schaffen.
Welche Möglichkeiten gibt es, um sich zu sensibilisieren?
Hövener: Es gibt Diversity-Trainings in Krankenhäusern, die sich nicht nur auf Migration beziehen, sondern auf alle Aspekte rund um das Thema Diskriminierung. Dort lernt man auch die Selbstreflektion, um sich selbst zu fragen: Stecke ich hier jemanden in eine Schublade? Ein Training reicht dafür allerdings nicht aus und man kann auch niemanden dazu verdonnern. Es geht darum, die Haltung zu verändern. Das ist ein Prozess.
Das Interview wurde im April 2021 geführt und im Juli bearbeitet.