Radikale Hoffnung: Wie Geflüchtete Handlungsmacht in der Stagnation finden | Upstream
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Radikale Hoffnung: Wie Geflüchtete Handlungsmacht in der Stagnation finden

Trotz fehlender Zukunftsperspektiven sah ein finnisches Forscher*innenteam bei Geflüchteten oftmals radikale Hoffnung. Ihre Analyse zeigt, wie sich das Zurückziehen, Resignieren und Verweigern politisch interpretieren lassen.

Hinweis: In diesem Text wird das Thema Suizidalität erwähnt.

Denken wir über Flucht nach, stellen wir sie uns oft zeitlich linear vor:

  • In der Vergangenheit hat eine Person entschieden, ihren Herkunftsort zu verlassen.
  • Die Gegenwart ist vom Asylsystem geprägt. Konkret bedeutet das meist Warten: in Squats, dass es gelingt, die Grenze zu überqueren, in Asyleinrichtungen und darauf, wie Behörden und Gerichte über den eigenen Status entscheiden.
  • Die Zukunft ist eng verbunden mit der Erwartung auf ein besseres Leben.

Diese Annahme ist Ausgangspunkt der finnischen Forscher*innen Kallio, Meier und Häkli, die im 2020 erschienenen Paper “Radical Hope in asylum seeking: political agency beyond linear temporality” die Handlungsmacht von Asylsuchenden analysieren.

Flucht in linearer Zeitperspektive. Links: Vergangenheit, Gründe, die zur Flucht zwangen. Pfeil verweist auf den nächsten Textblock. Mitte: Gegenwart, sieht vielfältig aus, häufig verbunden mit Warten: auf die Überwindung der Grenze, in Asylzentren, auf einen Status, auf die Zukunft. Pfeil verweist auf den nächsten Textblock. Rechts: Zukunft, verbunden mit der optimistischen Erwartung auf ein besseres Leben
Flucht in linearer Zeitperspektive, orientiert an Kallio/Meier/Häkli 2020

So strukturiert Zeit das Leben von Menschen auf der Flucht

Flucht- und Migrationsforschende beschäftigt seit einigen Jahren die Perspektive von Zeit und Zeitlichkeit. Denn auch wenn Flucht zukunftsorientiert ist, bedeute das für viele Migrant*innen nicht, sich von der Vergangenheit abzuwenden, so die Forschenden. Menschen auf der Flucht halten per Smartphone Kontakte über tausende Kilometer und übernehmen Routinen in neuen Kontexten. Täglich gilt es für sie, zwischen ihrer Vergangenheit und den sich ständig verändernden Realitäten zu balancieren.

Für die meisten Asylsuchenden wird die Gegenwart des Stillstands zur Norm, während erhoffte Zukunftsperspektiven in die Ferne rücken. Selbst wenn Asylbewerber*innen als schutzbedürftig anerkannt werden, gilt die Aufenthaltserlaubnis nur wenige Jahre und muss anschließend verlängert werden. Die prekären Realitäten, so die Forschenden, forderten das lineare Verständnis von zeitlichem Fortschritt, von einem Leben in Risiko zu einem sicheren Leben, heraus.

Rückzug, Resignation, Verweigerung: Wie sich Politik im abweichenden Handeln im Alltag manifestiert

Einige Geflüchtete werden politisch aktiv. Selbstorganisiert und in Kooperation mit aktivistischen Gruppen zeigen sie ihren Widerstand in der Öffentlichkeit und über traditionelle und soziale Medien. Doch nicht alle Geflüchteten haben die psychische Stabilität und die sozialen Ressourcen zur politischen Teilhabe.

Die Autor*innen argumentieren, darum sei es wichtig auch andere Formen von politischem Handeln in den Blick zu nehmen. Solche, die seltener als politisch betrachtet würden – auch von den Handelnden selbst: Rückzug, Resignation, Verweigerung. Dabei verstehen sie Politik “von unten”: Im Kontext alltäglichen Handelns, verhandelten Geflüchtete und Institutionen Machtpositionen. Wenn Handeln von dem Erwarteten abweicht, habe es das Potential, Herrschaftstechniken sichtbar zu machen oder zu untergraben.

Wie Geflüchtete Macht zurückgewinnen durch aktive Passivität

Ein Beispiel finden die Forscher*innen in der Analyse der Projekte, die sie zwischen 2015 und 2018 in Ägypten, Finnland, Großbritannien und Deutschland durchführten. Mit ethnographischer Feldarbeit und Interviews versuchten die Forschenden, die politische Handlungsmacht von Asylsuchenden besser zu verstehen.

Dabei fiel den Forschenden auf, dass bei aktivistischen Treffen in London und Berlin Asylsuchende oft passiv präsent waren: Sie schlossen die Augen, lasen Nachrichten, schauten Fußball oder brachten sich nicht ein. Das Passivwerden interpretierten die Forschenden als Form politischen Handelns. Es erlaube den Asylsuchenden aus dem Machtgefüge auszubrechen, das ihnen im linearen Zeitverständnis nur hoffnungslose Perspektiven anbiete.

“Entweder kann ich mich töten oder ich habe Hoffnung. Es gibt nichts dazwischen.” – Godfrey

Im Frühling 2015 begegnet den Forschenden in London ein 35-jähriger Mann aus Uganda, der Asyl sucht. Godfrey, so nennen sie ihn in ihrem Paper. Er soll ihren Blick auf Hoffnung radikal verändern.

Godfrey hätten damals zwei Aspekte ausgezeichnet, schreibt das Forscher*innenteam: Im Alltag sei er auf die Herausforderungen im Hier-und-Jetzt fokussiert. Gleichzeitig sei er tief hoffnungslos und enttäuscht von der asyl-aktivistischen Community und dem internationalen Hilfesystem gewesen. Bei einer Asylhaft 2013 habe er kurz vor einem Suizid gestanden.

Diese Situation ohne Zukunftsperspektiven habe ihn gezwungen, sich der Gegenwart zuzuwenden. Die Forschenden beschreiben, wie er sich auf den engen Raum der politischen Möglichkeiten in der Haft fokussiert habe, indem er seine Energie dafür eingesetzt habe, das Leben anderer Asylsuchenden besser zu machen.

Der Duden beschreibt das gemeine Verständnis von Hoffnung als “Optimismus in Bezug auf das, was die Zukunft bringen wird”. Im Gegensatz dazu definieren Kallio, Meier und Häkli radikale Hoffnung als die Fähigkeit, einen Sinn im Leben zu erhalten, wenn das Leben jeglichen Sinn zu verlieren scheint. Aus zeitlicher Perspektive bedeute das, sich aktiv dem Hier-und-Jetzt zuzuwenden sowie von den Gegebenheiten der erwarteten Zukunft zu distanzieren, die die Handlungsfähigkeit der Menschen ständig zu beeinträchtigen drohen.

Warum das Konzept radikaler Hoffnung wichtig ist, auch wenn es keine Revolution bedeutet

Radikale Hoffnung, so Kallio, Meier und Häkli, mag nicht immer aktiv oder produktiv erscheinen. Auch könne sie dem vorgeschlagenen Weg von Geflüchtetenorganisationen widersprechen. Die scheinbare Passivität beinhalte aber das Potential, von herrschenden Ordnungen abzuweichen und diese dadurch unwirksam zu machen.

Das bedeute zwar keine Revolution und führe auch nicht zwingend zu Veränderung. Das Verständnis und der Fokus auf sie könnten jedoch gerade an Orten entscheidend wirken, an denen Flucht und Asyl geteilte Erfahrungen sind. Darum, so die Forscher*innen, sollten sich aktivistische Gruppen, Graswurzelbewegungen und Menschen, die mit Asylsuchenden zusammenarbeiten, mit dem Konzept vertraut machen.

Das im Ethnic and Migration Studies Journal erschienene Paper “Radical Hope in asylum seeking: political agency beyond linear temporality” von Kirsi Pauliina Kallio, Isabel Meier und Jouni Häkli findest du hier.