“Wenn man Depressionen behandelt, werden auch suizidale Gedanken weniger.” | Upstream
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“Wenn man Depressionen behandelt, werden auch suizidale Gedanken weniger.”

Wenn man Depressionen versteht, gehen sie dann weg? Spoiler: Nein. Aber es kann leichter werden, mit ihnen umzugehen, erklärt Martin Gommel im Interview.

Martin Gommel ist Reporter für psychische Gesundheit bei Krautreporter. Er sagt: “Meine Mission ist, dafür zu sorgen, dass das Thema psychische Erkrankungen in der Gesellschaft stattfindet und dass Menschen mit Erkrankungen gesehen und ernst genommen werden.” Zuletzt recherchierte er über Traumatisierungen im Schulsport. Immer wieder Thema: seine eigene Erkrankung, wiederkehrende Depression.

Martin, du warst im Alter zwischen 12 und 14 Jahren das erste Mal suizidal. Inwiefern war dir damals Suizidalität schon ein Begriff?

Meine Eltern hatten Psychologie-Bücher aus der Zeit, in der sie studiert haben. Diese Bücher haben mich magisch angezogen. Darin standen schräge Geschichten von üblen Therapiestunden mit für mich damals unvorstellbaren Situationen. Da habe ich herumgesucht und später auch das Wort Suizidalität gefunden. Aber weiter ging das dann erstmal nicht.

Wie würdest du Suizidalität heute deinem damaligen Ich erklären?

Suizidalität gehört zu einer Krankheit, die man nicht auf den ersten Blick sehen kann. So wie Fieber ein Symptom von Grippe ist, ist Suizidalität ein Symptom von Depressionen, von schweren Depressionen. Aber nicht alle Menschen, die Depressionen haben, haben das Symptom. Suizidalität bedeutet, dass die Krankheit Menschen so zusetzt und so viele Schmerzen bereitet, emotionale und auch gedankliche, dass die Person irgendwann an den Punkt kommt, das sie nicht mehr weiterleben will. Das muss nicht heißen, dass sie unbedingt sterben will. Aber es bedeutet, dass die Person dringend will, dass dieser Schmerz aufhört. Viele Menschen mit Depressionen fühlen auch überhaupt nichts mehr. Sie schaffen es nicht mehr aus dem Bett aufzustehen, sich duschen zu gehen, weil sie keine Kraft mehr haben. Es gibt Menschen, die diese Taubheit so sehr verzweifelt, dass ihnen die Krankheit vermittelt, dass es sich nicht lohnt, weiter zu leben.

Könntest du deinem Vergangenheits-Ich Hoffnung machen?

Depressionen sind therapierbar. Man kann damit zum Arzt oder zur Ärztin gehen und Medikamente zur Linderung bekommen. Wenn man die Depressionen behandelt, die Therapie funktioniert und die Symptome weniger werden, dann werden auch die suizidalen Gedanken weniger.

Inwiefern hat es dir damals geholfen, einen Begriff für das zu haben, was du fühlst?

Trotz der Psychologie-Bücher war mir nicht klar, dass ich krank bin. Ich dachte, es liegt an mir, dass es mir nicht so gut geht. Ich dachte, ich sei schuld daran, dass ich in der Schule gemobbt werde. Ich hab das alles auf mich selbst bezogen, was auch Teil der Krankheit ist. Auch wenn ich die Begriffe aus den Büchern in den ersten Momenten gar nicht mit mir verbunden habe, haben sie mir zumindest einen Ansatz geliefert. Ich hatte ein kleines bisschen Ahnung, was da in mir vorgeht. Heute weiß ich, dass ich eine Krankheit habe, die immer wieder ausbricht. Das hat mir enorm geholfen, weil ich dadurch weiß: Ich bin nicht schuld. Ich habe verstanden, dass das behandelbar ist und es verschiedene Ansätze gibt, damit umzugehen. Medizinisch, therapeutisch. Das macht natürlich Hoffnung.

Es sterben noch immer viele Menschen durch Suizid. In Deutschland jedes Jahr ungefähr 9000 Menschen, darunter 500 Jugendliche und junge Erwachsene. Wie erklärst du dir das?

Das kann ich nicht erklären. Das sind 500 unterschiedliche Jugendliche, die 500 unterschiedliche Versionen der Krankheit haben. Genauso gibt es auch Jugendliche, die sich das Leben nehmen, die nicht psychisch krank sind.

Trotz jugendlicher Suizidalität ist deine Geschichte keine Zahl in dieser Statistik. Wie hast du das geschafft?

Sowas schaffst du nicht allein. Mit 30 Jahren wurde mir eine schwere depressive Episode diagnostiziert. Seitdem hatte ich Hilfe, konnte in die Klinik gehen, wurde medikamentös eingestellt, habe Psychotherapien wahrgenommen. Ich hab das gemeinsam geschafft mit Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Krankenpfleger*innen und auch Freund*innen von mir, die mich heute noch unterstützen, wenn ich krank bin. Sicher liegt es auch in erster Linie an mir, die Initiative zu ergreifen, mir Hilfe zu suchen und alles dafür zu tun, dass ich gesund werde. Das ist mein Job, den kann niemand anderes machen. Aber ich lebe in einem Land, das mir, wenn es wirklich eng wird und ich krank und suizidal werde, die Möglichkeit gibt, in die Klinik zu gehen und zu überleben. Das ist ein Privileg.

Wie leicht fiel es dir einen Therapieplatz zu finden?

Hier in Berlin war mir klar, dass das ewig dauern würde. Ich habe meinen Therapeuten online gefunden. Er sitzt in Wien und die Therapie zahle ich selber. Wenn du krank bist und jemanden brauchst, ist es extrem schwer auszuhalten, dass man so lange warten muss. Das bringt Menschen an den Rand der Verzweiflung. Ich habe das Glück, sagen zu können: das leiste ich mir.

Therapeut*innenbeziehungen sind sehr individuell. Hast du dich in einer Therapie schon mal unwohl gefühlt oder unverstanden?

Klar. Bei therapeutischen Beziehungen öffnest du dich sehr. Du sprichst über Schwächen und der Therapeut oder die Therapeutin reagiert darauf. Man reagiert aufeinander und das geht nicht immer reibungslos.

Was genau meinst du damit?

Nach meinem zweiten Klinikaufenthalt in Karlsruhe habe ich mir eine Therapeutin gesucht. Die war in ihrem Auftreten ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Zuerst hat sie sich ans andere Ende des Raumes gesetzt. Das war wirklich weit weg. Dann hat sie mich angeguckt. Kein: “Wie geht es Ihnen, Herr Gommel? Was haben sie erlebt?” Sie hat einfach nichts gemacht und dadurch so eine unangenehme Stille produziert. Das war die ersten Male echt schräg. Ich hab mir gedacht: “Können wir wenigstens am Anfang ein bisschen Smalltalk machen, damit wir uns eingrooven?” Keine Chance. Irgendwann fing ich dann an zu sprechen, weil ich mir klar gemacht habe, warum ich eigentlich da war. So habe ich mich verstanden gefühlt, weil sie mir wirklich zugehört hat.

Was ist dein Tipp, wenn es zwischen dir und dem*der Therapeut*in nicht vibet?

Ansprechen! Natürlich kommt es auf den Einzelfall an, auf die Krankheit, die man hat, auf beide Persönlichkeiten, auf die Beziehung und auf den Stil des*der Psychotherapeut*in. Aber wenn man sich bereit dazu fühlt und glaubt, dass die therapeutische Beziehung etwas werden kann, kann ich nur empfehlen, das anzusprechen. Zu sagen, was das in einem auslöst, wenn der Therapeut X macht.

Du hast ein Buch über deine Depression geschrieben, mit dem Titel, "Ich habe keine Lust mehr, leise zu sein." Das klingt nach Frust.

Das ist kein Frust, es ist eher Widerwillen. Ich habe schon lange überlegt, ob ich meine Krankheit öffentlich machen will. Ein Teil meiner Krankheit ist, dass ich mich sozial isoliere. Man geht nicht ins Gespräch, sondern zieht sich zurück. Es wird niemals eine Demonstration von Depressiven geben, die akut krank sind. Die Krankheit sorgt dafür, dass wir uns zurückziehen, weil wir keine Kraft haben. Insofern habe ich keine Lust mehr darauf leise zu sein. Nicht, weil ich keine Lust mehr habe, krank zu sein. Das geht nicht, das kann ich mir nicht aussuchen. Die Krankheit habe ich und werde sie mein Leben lang haben. Aber ich will mich nicht mehr verstecken und auch nicht drumherum reden.

Ein Thema in deinen Texten ist Wut. Welche Rolle spielt Wut für dich?

Meine Therapeutin in der Klinik hat gesagt: “Herr Gommel, nutzen Sie Ihre Wut, solange sie klein ist.” Das beschäftigt mich bis heute, weil da stecken zwei Sachen drin. Das eine ist, Wut kann man nutzen. Das anderes ist, es gibt ein Ablaufdatum. Wenn du das verpasst, kannst du sie nicht mehr nutzen, dann ist sie zu groß. Heute weiß ich, ich sollte Wut nicht in mich rein fressen. Vielmehr muss ich damit nach außen treten oder mit mir ins Gespräch gehen, sonst wächst die Wut, sodass ich sie irgendwann nicht mehr aufhalten kann. Darum versuche ich das frühzeitig zu erkennen. Als weißer cis Mann brauche ich einen guten Umgang mit meiner Wut. Dazu bin ich verpflichtet.

Gehen Menschen anders mit dir um, seitdem du öffentlich über deine Depression schreibst?

Klar gehen Menschen anders mit mir um, weil sie etwas von mir wissen. Durch meinen Beruf fragen Menschen mich zu bestimmten Themen. Das würden sie nicht tun, wenn ich kein Reporter für psychische Gesundheit wäre. Als ich vorher in einem sozialen Beruf gearbeitet habe, habe ich einmal gesagt, dass ich krank bin und in eine Klinik gehe. Hinterher hatte ich das Gefühl, dass mir bestimmte Situationen nicht mehr zugetraut werden. Da dachte ich schon, jetzt werde ich anders behandelt und auf meine Krankheit reduziert. Das war frustrierend.

Welche Vorurteile sind dir noch begegnet?

So, wie es unterschiedliche Menschen gibt, gibt verschiedene Vorurteile, mit denen depressive Menschen konfrontiert sind. Den Klassiker, “Jetzt reiß dich doch mal zusammen”, hat mir zum Beispiel nie jemand gesagt.

Was kann ich tun, wenn ich Vorurteile an mir selbst bemerke?

Wenn du bei dir selbst Vorurteile entdeckst, weißt du schon zwei Sachen: Du bist dir im Klaren darüber, wie du bestimmte Menschen siehst, und vielleicht auch dich selber, wenn du krank bist. Und, ganz wichtig, du weißt, dass das Vorurteile sind. Die meisten Menschen sind sich über beides nicht klar.

Was ist der nächste Schritt?

Am besten sprichst du mit jemandem darüber. Geh zu Leuten, denen du vertraust und sag: “Hey, ich merke, dass ich echt eine ganz blöde Meinung über bestimmte Leute habe und möchte das loswerden.” So ein Gespräch tut gut, weil du dann auf den Punkt bringst, was es eigentlich ist. Wenn man darüber spricht, verwandelt sich ein Gefühl in etwas Produktives. Was du auch machen kannst: Schreib es auf! Das zwingt dich dazu, es auf den Punkt zu bringen. In jedem Fall bist du nicht der einzige, der Vorurteile bei sich selbst bemerkt. Es geht vielen Menschen so.

Transparenzhinweis: Sören, der dieses Interview führte, hat von Oktober bis Dezember 2021 ein Praktikum beim Onlinemagazin Krautreporter gemacht. Zeitgleich arbeitete dort auch Martin Gommel.