In dieser Stadt ist niemand einsam – oder doch? | Upstream
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Takeaways

Darum geht es in dieser Ausgabe

  • Thema: Eine Stadt so bauen, dass niemand einsam ist? So einfach ist es nicht.
  • Was du außerdem wissen solltest: Diesmal mit Klimawandel, Lachgas und der Strategie, mit der Deutschland Suizide verhindern will.

Hallo!

Jede*r dritte Erwachsene zwischen 18 und 53 Jahren in Deutschland erlebt mindestens zeitweise Einsamkeit, also das subjektive Gefühl, sozial isoliert zu sein. Das zeigt eine aktuelle Analyse des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung auf Basis von Daten aus den Jahren 2005 bis 2022. Einsamkeit hat demnach zuletzt deutlich zugenommen, betrifft benachteiligte Menschen stärker als andere und kann zu einer Gefahr für die Gesundheit werden.

Wir haben recherchiert, was gegen Einsamkeit hilft – und sind in der Nachbarschaft fündig geworden. In diesem Newsletter erfährst du:

Viel Spaß beim Lesen und herzliche Grüße
Maren und Sören

Thema

In dieser Stadt ist niemand einsam – oder doch?

Stell dir vor, du trittst aus deiner Wohnungstür: Was siehst du? Und vor allem: Wen? — Wenn der Nachbar mehr als Hallo sagt, die Bäckerin dich für einen Plausch da hält, wenn es gar einen Nachbarschaftstreff gibt oder einen Park mit Bänken und Spielplatz: Herzlichen Glückwunsch! Die Chancen stehen gut, dass deine Umgebung dich vor Einsamkeit schützen kann.

Einsamkeit ist individuell – aber nicht, wie ihr begegnet wird

Wohngebäude, Begegnungsorte und öffentlicher Raum, an denen Menschen miteinander in Kontakt treten können, machen dem Stadtplaner Nils Scheffler zufolge ein lebendiges Quartier aus. Scheffler entwickelt zusammen mit seiner Kollegin Petra Potz und der Wüstenrot-Stiftung einen integrierten Handlungsansatz, der Kommunen dabei helfen soll, Einsamkeit in Quartieren entgegenzuwirken. Integriert bedeutet, dass sie drei Ansätze verbinden: Gebaute Umwelt und Infrastrukturen, professionelle Unterstützung und bürgerschaftliches Engagement.

Porträtfoto von Nils Scheffler, Stadtplaner und beim Projekt “Einsamkeit. Neue Anforderungen an lebendige Quartiere”, daneben das Zitat “Allein über bauliche Strukturen wird man Einsamkeit nicht vermeiden können, denn das gesellschaftliche Leben besteht aus menschlichen Beziehungen.

>>> Wir haben länger mit Nils Scheffler gesprochen. Hier kommst du direkt zum Interview.

Ebenso wie Einsamkeit individuell empfunden werde, seien viele Risikofaktoren individuell, erklärt Scheffler: etwa kritische Lebensphasen oder -umstände, wie andauernde Erwerbslosigkeit, der Verlust einer wichtigen Person, Krankheit, Beeinträchtigungen, Sprachbarrieren oder Zeitmangel. All das könne dazu führen, dass Menschen weniger am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und sich ausgeschlossen fühlen. Dieses Problem könne man gut auf der Quartiersebene angehen.

Was hilft: Zufällige Begegnungen, Zugehörigkeit und Unterstützung

“Allein über bauliche Strukturen wird man Einsamkeit nicht vermeiden können, denn das gesellschaftliche Leben besteht aus menschlichen Beziehungen”, sagt Scheffler. Aber der gebaute Raum könne Teilhabe und Interaktion fördern. Das fange bei gemeinschaftlichen Wohnprojekten an – doch so wolle nicht jeder wohnen. Deshalb sei es wichtig, dass die sogenannten Dazwischen-Räume im Wohnumfeld, wie Laubengänge oder Gärten, barrierefrei erreichbar sind und fördern, dass Menschen dort in Kontakt miteinander kommen.

Ebenso sollte der öffentliche Raum barrierefrei sein und so gestaltet, dass dort Begegnungen und Gespräche möglich sind, sowohl geplant als auch zufällig. “Einsame Menschen sollten sich gerne dort aufhalten und nicht das Gefühl haben, mit jemandem reden zu müssen”, sagt Scheffler. Das Gefühl von Zugehörigkeit entstehe schon, wenn man beim Enten füttern andere Menschen sieht, die ebenfalls Enten füttern. Aber auch Begegnungsorte seien wichtig, die sowohl konkrete Aktivitäten anbieten als auch Freiraum lassen, um selbst etwas zu organisieren.

Wer sich erst seit Kurzem einsam fühlt, sucht Scheffler zufolge oft nach Aktivitäten und Anschluss. Chronisch einsame Menschen würden sich eher zurückziehen. Doch auch sie hätten Kontakte zu anderen: in der Hausarztpraxis etwa, im Supermarkt oder, wenn sie sehr jung sind, in der Schule. Es sei wichtig, die Mitarbeitenden solcher Einrichtungen dafür zu sensibilisieren, wie man Einsamkeit erkennt und wie man damit umgeht. Dann könnten sie sowohl Gesprächspartner sein als auch Anschluss zu Vereinen und Initiativen in der Nachbarschaft herstellen.

>>> Du willst mehr darüber erfahren, wie das Quartier vor Einsamkeit schützen kann? Hier findest du das gesamte Interview, das wir mit Nils Scheffler geführt haben.

Ein vereinfachter fiktiver Stadtplan zeigt Facetten eines einsamkeitsresilienten Quartiers: Orte, an denen Menschen einander zufällig begegnen und gemeinsam der nebeneinander Zeit verbringen können, Orte der Daseinsvorsorge, Angebote für Aktivitäten und Unterstützung, gemeinschaftliches Wohnen, “Dazwischen-Räume”, die Begegnungen ermöglichen, Vereine und Initiativen.

Einsamkeit: Ein Problem für die ganze Gesellschaft…

Mittlerweile entwickeln erste Städte Strategien gegen Einsamkeit, erklärt Scheffler, etwa Stuttgart oder Dortmund, wenn auch weniger mit Blick auf das Quartier. Auch die Bundesregierung hat im vergangenen Dezember eine Einsamkeitsstrategie beschlossen, schon fast zwei Jahre zuvor hat das Kompetenznetz Einsamkeit (KNE) seine Arbeit begonnen. Ende Mai ist mit dem Einsamkeitsbarometer 2024 ein umfassender Bericht zur Lage in Deutschland erschienen. Die Erkenntnis, dass Einsamkeit ein Problem in Deutschland ist, ist nicht neu – genau wie die, dass dieses Problem die gesamte Gesellschaft betrifft.

Eine Studie, die das Progressive Zentrum 2023 veröffentlicht hat, zeigt, dass Einsamkeit zu politischer Radikalisierung führen kann. Auch das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung betont dieses Risiko in seiner aktuellen Analyse. Hinzu kommt, dass ein schlechter Gesundheitszustand sowohl eine Ursache von Einsamkeit sein kann als auch eine Folge. Ein Review mehrerer Studien zeigte bereits 2010, dass Einsamkeit ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist, für psychische Erkrankungen wie Depression, kognitive Beeinträchtigungen, Alzheimer – und dafür, früher zu sterben. Eine aktuellere Meta-Analyse zeigt ein ähnliches Bild.

…mit strukturellen Ursachen

Einsamkeit kann zahlreiche individuelle Ursachen haben – aber nicht nur. Lange wurde sie vor allem als Problem älterer Menschen dargestellt. Tatsächlich hatten über 75-Jährige laut einer Expertise des KNE vor der Corona-Pandemie das größte Einsamkeitsrisiko in Deutschland. Während der Pandemie sei die Gefahr nicht geringer geworden, aber auch für jüngere Menschen deutlich gestiegen. Die Daten zeigen außerdem, wer stärker von Einsamkeit bedroht ist als andere: Migrant*innen, Alleinerziehende und Erwerbslose. Menschen mit geringem Einkommen haben demnach ebenfalls ein höheres Risiko. Diese Risikofaktoren deuten auf fehlende gesellschaftliche Teilnahme hin, heißt es in der Expertise des KNE.

Eine 2020 erschienene Studie zeigt Ähnliches. Die Wissenschaftler*innen stellten zudem zwei regionale Faktoren für Einsamkeit fest: die soziale Umgebung und die Abgelegenheit eines Ortes. Je weiter ein Ort demnach von einem regionalen Zentrum entfernt war, desto größer die Einsamkeitsniveaus. Das könne erklären, warum die Daten einen Ost-West-Unterschied zeigen, mit überdurchschnittlich hohen Levels in Ostdeutschland. Während die Bevölkerungsdichte den Ergebnissen zufolge kein signifikanter Faktor für Einsamkeit war, spielte ihre Entwicklung eine signifikante Rolle. Nicht nur individuelle Umbrüche können also zu Einsamkeit führen, auch soziale Transformation.

Praxistauglich: Wie Thüringen Einsamkeit bekämpft

In Thüringen unterstützt das Programm AGATHE einen Teil der Menschen, die einsam sind. Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie setzt es seit 2020 in Kooperation mit mehreren Landkreisen um. Es richtet sich an alte Menschen, die alleine leben – und das unter unterschiedlichen Bedingungen, sei es in Jena, Erfurt oder einem der dünner besiedelten Kreise.

“In der Stadt ist man anders einsam als auf dem Land”, berichtet Michael Klaus, der als Sachbearbeiter für das Programm zuständig ist. Während Menschen in Großstädten ihre Nachbarschaft selten gut kennen würden, sei in Dörfern vor allem Mobilität ein Faktor für Einsamkeit. “Man hat andere Probleme”, meint Klaus, “aber letztlich ist es das gleiche: Man ist isoliert.”

Ziel: gemeinsam selbst aktiv werden

Landkreise und kreisfreie Städte, die etwas an der Einsamkeit ändern wollen, können sich mit einem Konzept beim Ministerium bewerben. Werden sie ausgewählt, bekommen sie Gelder und Unterstützung, um das AGATHE-Programm vor Ort umzusetzen und insbesondere, um Fachkräfte einzustellen, die sich vor Ort um die Bedarfe einsamer älterer Menschen kümmern. AGATHE-Berater*innen wenden sich direkt an potenziell einsame Personen, berichtet Klaus: “Manche bieten auch Sprechstunden an, oder stehen in der Fußgängerzone, im Einkaufszentrum oder auf dem Dorffest.”

Was dann geschehe, sei ganz unterschiedlich. Ziel des Programms sei nicht nur, Bedarfe abzufragen und einsamen Senior*innen passende Angebote zu empfehlen: “Sie sollen dahingehend aktiviert werden, dass sie merken: Ich bin nicht alleine mit meinem Problem.” Im besten Fall, so Klaus, würden die Menschen sich zusammenschließen und selbst etwas auf die Beine stellen.

Neue Zielgruppen wären wünschenswert – sind aber nicht möglich

Die aktuelle Evaluation des Programms zeige, dass das tatsächlich oft gelingt, berichtet Klaus: “Die sozialen Kontakte haben sich verbessert, die Menschen nehmen häufiger an sozialen Aktivitäten teil, das psychische Wohlbefinden hat sich gebessert und das bürgerschaftliche Engagement ist gestiegen.” Ein weiterer Effekt sei, dass neben den Seniorinnen auch kommunale Akteure besser vernetzt seien. In einer Region im Unstrut-Hainich-Kreis etwa, in dem laut Daten des Ministeriums 105 Einwohnerinnen pro km² leben, davon zu knapp einem Drittel Menschen, die älter sind als 63 Jahre, ist Klaus zufolge über die AGATHE-Struktur eine Art neues Rufbus-System entstanden.

Ab diesem Juli haben laut Klaus 14 der 22 Landkreise in Thüringen AGATHE-Programme, für die insgesamt 3,8 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Mittlerweile sei auch der Wunsch aufgekommen, das Projekt auf weitere Personengruppen auszudehnen, etwa pflegende Angehörige. Das könne man jedoch mit den vorhandenen Geldern nicht leisten.

Aktuelles

Was du außerdem wissen solltest

Europawahl: Was planen die Parteien?

Ärzte der Welt

Am 9. Juni wird das Europäische Parlament gewählt. Die Organisation “Ärzte der Welt” hat vorab mehrere Parteien zu vier gesundheitspolitischen Themen befragt: die Gesundheitsversorgung wohnungsloser Menschen, die Rechte von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen, die Istanbul-Konvention und der Schutz von Frauen vor Gewalt und Arzneimittelpolitik.

Müll – die stille Bedrohung

02.06.2024, taz, 2 Minuten Lesezeit

Rund eine Million Menschen sind laut UN vor der israelischen Offensive aus Rafah in den mittleren Gaza-Streifen geflüchtet. Die hygienischen Verhältnisse dort werden immer schlimmer, Krankheiten breiten sich aus, berichtet ein Auslandskorrespondent der taz.

“Der Klimawandel ist hier, und er tötet”

13.05.2024, Süddeutsche Zeitung, 3 Minuten Lesezeit

Der Klimawandel ist kein entferntes Zukunftsthema, auch geografisch ist er längst nicht mehr fern – er ist längst in Europa angekommen. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler*innen in einem aktuellen Lancet Public Health-Bericht.

Lachgas: Gefährlicher Hype?

28.05.2024, Y-Kollektiv/YouTube, 23 Minuten

Lachgas ist leicht und günstig zu bekommen. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist es in Deutschland erlaubt, das Gas zu konsumieren und zu handeln. Dabei kann es schwere Folgen für die Gesundheit haben.

Wie Deutschland Suizide verhindern will

Verschiedene Medien, Links im Text

Anfang Mai hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Nationale Suizidpräventionsstrategie vorgestellt. Sie beinhaltet etwa, Hilfsangebote zu koordinieren, Fachkräfte in Gesundheitswesen und Pflege zu schulen und eine bundesweite zentrale Krisendienst-Notrufnummer aufzubauen, berichtet die Tagesschau. Zudem sollen einige sogenannte Hotspots gesichert werden – zu diesem Thema haben wir eine ganze Ausgabe. Die Medizinethikerin Alena Buyx sagte dem Deutschlandfunk, sie begrüße die Pläne, denn niedrigschwellige Beratungsangebote könnten sehr effektiv sein. Allerdings gibt es auch Kritik an der Strategie, berichtet das ZDF: Caritas und Ärzteschaft bemängeln, dass die Finanzierung der Maßnahmen noch unklar sei. Die Vorsitzenden der Deutschen Stiftung Patientenschutz und der Stiftung Deutsche Depressionshilfe fordern, die Versorgung für psychisch kranke und suizidgefährdete Menschen zu verbessern.

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum haben wir in dieser Ausgabe alle Quellen direkt im Text verlinkt. Auf der Website findest du unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen