“Beim ‘Health at Every Size’-Ansatz darf es keine moralische Verpflichtung geben.”
Wie hängen Körpergewicht und Gesundheit zusammen? Wie hat sich die Gesundheitsnorm historisch gewandelt? Und warum stehen technische Lösungen wie Operationen und Medikamente so hoch im Kurs, um hohes Körpergewicht zu behandeln?
Interview mit Friedrich Schorb
Wie hängen Körpergewicht und Gesundheit zusammen? Wie hat sich die Gesundheitsnorm historisch gewandelt? Und warum stehen technische Lösungen wie Operationen und Medikamente so hoch im Kurs, um hohes Körpergewicht zu behandeln? Darüber haben wir mit dem Fettforscher Friedrich Schorb gesprochen. Er hat zuletzt den Sammelband Fatstudies in Deutschland und das Fat Studies Glossar mitherausgegeben.
Upstream: Herr Schorb, wer dick ist, sei ungesund, gilt heute gemeinhin. Stimmt das?
Friedrich Schorb: Nein. Niemand ist automatisch gesund, weil er*sie schlank ist. Genauso ist man nicht krank, nur weil man dick ist. Man muss zwischen dem Grad des Körpergewichts und der Fettverteilung unterscheiden. Sie ist ein stärkerer Indikator für ein gesundheitliches Risiko als der BMI.
Trotzdem ist der BMI in der Forschung noch weit verbreitet. Wie sieht es da aus bezüglich Gesundheitsrisiken?
Schorb: Beim sogenannten Übergewicht, also einem BMI zwischen 25 und 30, besteht kein erhöhtes Risiko, was die Lebenserwartung angeht. Auch bei moderater Adipositas, dem Bereich 30 bis 35, gibt es kaum Unterschiede zum sogenannten Normalgewicht. Bei höheren BMI-Werten gibt es zwar gewisse Korrelationen, aber da muss man genau hinschauen, wodurch das beeinflusst wird. Da sind wir dann auch schon in der Debatte um gesellschaftliche Diskriminierung und soziale Schlechterstellung. Es ist ein Fakt, dass ihr Anteil am schlechteren Gesundheitszustand höher ist, als das Gewicht für sich.
War es schon immer so, dass dick sein mit ungesund sein gleichgesetzt wurde?
Schorb: Historisch war das nicht so, dass Dicksein immer als attraktiv galt, wie es manchmal dargestellt wird, wenn man diese Rubensdamen im Kopf hat. Gerade die Figuren der Antike zeigen dagegen ein athletisches Schönheitsideal. Solange es jedoch in der Bevölkerung mehrheitlich einen Mangel gab, war Übergewicht ein Zeichen von Wohlstand. Entsprechend wurde dick sein auch nicht mit Krankheit gleichgesetzt. Man kann davon ausgehen, dass die Wohlbeleibten länger und gesünder gelebt haben, weil sie gut versorgt waren.
Wie kam es dann zum Wandel dieser “Gesundheitsnorm”?
Schorb: Mit der Industrialisierung und dem einhergehenden Massenwohlstand, insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, galt Schlankheit nicht mehr nur als attraktiv, sondern zunehmend auch als gesund. Die Risiken des hohen Körpergewichts gerieten in den Fokus, auch wenn sie viel zu pauschal betrachtet wurden. Andere medizinische Faktoren, wie die Fettverteilung, blieben oft unberücksichtigt. Man blendete auch aus, dass ein hohes Körpergewicht eher Menschen aus unteren sozialen Schichten trifft, die ohne ohnehin größere gesundheitliche Risiken haben.
Haben Sie ein Beispiel?
Schorb: Nicht jeder, der*die im Schichtdienst arbeitet, wird dick, aber Schichtarbeiter*innen haben ein besonders hohes Risiko für eine Gewichtszunahme. Sie essen nicht prinzipiell mehr. Aber sie haben einen permanenten Schlafmangel und ihr Biorhythmus ist gestört. Das kann viele Risikofaktoren hervorrufen, wie Bluthochdruck, einen erhöhten Cortisonspiegel und eben auch ein erhöhtes Körpergewicht. Dass die Lebensbedingungen der Arbeiter*innen ihre Gesundheit so stark beeinflussen, wurde sehr lange nicht wahrgenommen.
Inwiefern hat sich das geändert?
Schorb: Global ist in vielen Ländern immer noch nur eine kleine Minderheit hochgewichtig. Sie gehört meist zu den Wohlhabenden. In reichen Ländern, aber auch zunehmend in den Schwellenländern, haben allerdings eher Menschen aus unteren Schichten ein hohes Körpergewicht. Seit den 1960er-Jahren ist das bekannt. Früher war das bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern. Die Analyse war lange Zeit: "Da fehlt es an Aufklärung, Wissen und Disziplin. Übergewicht ist ein Symbol dafür." Heute wissen wir, dass das falsch ist. Neben den prekären Arbeitsverhältnissen gibt es kaum Anerkennung, sowohl finanziell als auch ideell. Stichwort: Gratifikationskrise. Zu den Lebensumständen kommen vergleichsweise günstige und leicht zugängliche hochkalorische Lebensmittel, die zur Gewichtszunahme führen. Dabei ist das eigentliche gesundheitliche Problem sehr viel komplexer.
Was meinen Sie mit Gratifikationskrise?
Schorb: Die Gratifikationskrise ist ein sozialmedizinischer Begriff aus den 1970er-Jahren. Er beschreibt ein Phänomen aus der Arbeitswelt. Angestellte im Dienstleistungsbereich tragen oft viel Verantwortung. Sie müssen alles managen, Regale einräumen, die Kasse im Blick haben oder bei McDonalds schauen, dass die Pommes rechtzeitig rauskommen. Die Kund*innen sind oft im Nacken und wollen schnell bedient werden. Im Unterschied zu der hohen Verantwortung, die jemand im Management trägt, der*die, selbstverständlich auch einen aufreibenden Beruf hat, gibt es für sie weder finanziell noch ideell ein positives Feedback. Es mangelt an der Belohnung, oder anders ausgedrückt: an der Gratifikation. Im Gesundheitsbereich gab es zum Beispiel während Corona stellenweise ideelle Anerkennung. Aber wenn die sich darauf beschränkt, dass man einmal klatscht und danach ist der Klinikalltag wieder genauso stressig, kann so eine kurzfristige symbolische Anerkennung die Gratifikationskrise auch nicht wettmachen.
Europa und die sogenannte Epidemie der Übergewichtigkeit
Die WHO bezeichnet die gesellschaftliche Situation ja schon seit über 20 Jahren als “Epidemie der Übergewichtigkeit”, zuletzt im europäischen Obesity Report. Was meint sie damit?
Schorb: Die Metapher der Epidemie ist gerade im englischen Sprachraum weit verbreitet. Dort haben wir ständig Epidemien: beispielsweise die Epidemie von Schusswaffengewalt oder von Teenager-Schwangerschaften. Immer dann, wenn ein Phänomen, das gesellschaftlich nicht erwünscht ist, häufig auftritt, spricht man im übertragenen Sinne von einer Epidemie. Die Metapher der “Epidemie der Übergewichtigkeit” hat sich in den Nullerjahren aber verselbstständigt. Während am Anfang nur gesagt wurde, Übergewicht verbreite sich so schnell wie eine Epidemie, wurde später mehr Fokus auf die Lebensumstände gelegt. Der weltweite Siegeszug des Fleischkonsums, Fast Food oder sitzende Tätigkeiten seien wie Viren, die sich in unglaublicher Geschwindigkeit global verbreiteten. Schließlich hat man gesagt, wenn die Bevölkerung weiter so exponentiell zunimmt, führt das zu einem Zusammenbruch der Gesellschaft.
Und stimmt die Annahme?
Schorb: Zum einen ist offensichtlich: Lebensbedingungen haben sich verändert. In den frühzeitig industrialisierten Ländern ging das nach dem Zweiten Weltkrieg relativ schnell. Es kamen mehr Maschinen zum Einsatz, Fleisch und andere hochkalorische Lebensmittel wurden billiger und immer breiter verfügbar. So kam es in den frühzeitig industrialisierten Ländern zwischen 1980 und 2000 zu einem starken Anstieg des allgemeinen Körpergewichts. Seitdem lässt sich eigentlich kein großer Anstieg mehr feststellen. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche, wo die KiGGS-Studie für Deutschland zeigt, dass sich in den zehn Jahren zwischen 2006 und 2016 nichts geändert hat. Die Zahlen sind sogar ganz leicht zurückgegangen. Ähnliches sehen wir bei der Schuleingangsuntersuchung. Bei den Erwachsenen sieht das bisschen anders aus. Aber auch da gilt: Der exponentielle Anstieg ist definitiv so nicht eingetreten.
Trifft das auf alle Einstufungen des Gewichts zu?
Schorb: In Deutschland wird das nicht so genau erhoben. In den USA hat man eine bessere Datenlage. Dort sind mehr Menschen von einem sehr Gewicht betroffen. Da ist der Anstieg größer gewesen bei einem sehr hohen Körpergewicht, sowas wie einem BMI über 50. Das stimmt. Auf die Gesamtbevölkerung gerechnet, sind das immer noch sehr wenige. Aber trotzdem ist der prozentuale Anstieg hoch. In Europa haben wir so einen exponentiellen Anstieg in dieser Weise nicht.
Trotzdem wird auch in Europa Übergewicht weiterhin als “Epidemie” bezeichnet. Welche Interessen stecken dahinter?
Schorb: Mittlerweile haben wir so viele Krisen. Ich glaube, in der Konkurrenz der Krisenmodelle hat das hohe Körpergewicht momentan ziemlich schlechte Karten. Diese Krisenerzählung startete in den 1990er-Jahren, als man in den USA diesen starken Anstieg auf einer soliden Datenbasis feststellte. Gleichzeitig gab es eine Diskussion darüber, die Grenzwerte zu senken. So hat man die Zahl, die sowieso gestiegen war, nochmal künstlich erhöht. Bei diesen Grenzwertsenkungen haben damals Pharmakonzerne eine entscheidende Rolle gespielt. In diesem Gremium saßen acht Wissenschaftler, sieben hatten eindeutig Verbindung zur Pharmaindustrie, von gut honorierten Vorträgen bis hin zu Aktienbesitz oder umfassenden Beratertätigkeiten und Auftragsstudien für diese Firmen.
Weshalb wollte man die Grenzwerte überhaupt senken?
Schorb: Die Pharmaindustrie hatte die Hoffnung, sie könnte ein Medikament entwickeln, mit dem sie insbesondere Leute mit Übergewicht im BMI-Bereich 25 bis 30 oder leicht über 30 dünn kriegen würde. Da geht es um relativ wenige Kilo, mit denen man unter der Schwelle ist. Daher war es interessant, die Grenzwerte möglichst niedrig zu halten. So hatte man einen eindrucksvollen Effekt mit den Medikamenten. Das ist auch in anderen Bereichen etabliert, zum Beispiel beim Blutfett, also Cholesterin, oder beim Bluthochdruck. Auch da wurden die Grenzwerte immer wieder abgesenkt. Das sind große Märkte für die Pharmaindustrie. Beim Gewicht hat man das auch versucht, ist aber letztendlich gescheitert. Die Medikamente waren so schlecht, dass die Gesundheitsbehörden aufmerksam wurden. Die zahlreichen Nebenwirkungen rechtfertigten nicht den vermeintlichen Nutzen für die Gesundheit. Trotzdem gab es auch Mediziner*innen, die sich immer wieder dagegen ausgesprochen haben, die Medikamente vom Markt zu nehmen, da sie das Gewicht als das höhere Risiko im Vergleich zu den Nebenwirkungen betrachteten. Sie konnten sich aber nicht durchsetzen.
Wie sieht die Situation heute aus?
Schorb: Momentan ist es still geworden um medikamentöse Ansätze. Stattdessen ist die bariatrische Chirurgie verbreitet, die sicher nicht für den Bereich des Übergewichts relevant ist. Aber auch da sinken die Grenzwerte für eine OP-Empfehlung immer weiter. In den USA gilt jetzt nicht mehr ein BMI-Grenzwert von 40 für eine generelle Empfehlung für bariatrische Chirurgie, sondern nur noch 35. Bei Komorbiditäten, also bei weiteren Risikofaktoren, reicht sogar schon ein Wert von 30.
Wie ist die Lage in Deutschland?
Schorb: In Deutschland ist es so, dass grundsätzlich der BMI über 40 als Grenzwert für eine Empfehlung gilt, so wie das in den USA bis vor ein paar Jahren auch der Fall war. Das gilt auch in allen anderen europäischen Ländern. Entscheidend dafür, dass in Deutschland die Anzahl der Operationen im Vergleich zu beispielsweise Frankreich relativ niedrig ist, ist ein anderer Grund.
Warum gibt es hier weniger bariatrische Operationen?
Schorb: In Deutschland können die gesetzlichen Krankenkassen solche Operationen nicht einfach durchführen lassen. Zunächst muss man seine psychische Tauglichkeit unter Beweis stellen und in einen Selbsthilfekurs gehen. Das ist ein relativ langwieriger Prozess und die Selbsthilfekurse sind mehr oder weniger Werbung für diese Operation. Trotzdem führt der relativ lange Anlauf dazu, dass viele von den OPs erstmal zurückschrecken. Ich finde es richtig, dass es Hürden gibt, denn die Forschung dazu zeigt, dass viele Menschen danach massive psychische Probleme haben. Sie fühlen sich in ihrem eigenen Körper fremd, wenn sie so schnell so viel Gewicht verlieren. Man muss auch nachher noch operieren, weil die Haut ja irgendwo hin muss. Und manche haben die Erfahrung gemacht, dass sie nach einiger Zeit doch wieder zunehmen. Dann fühlt man sich als doppelte*r Versager*in, weil man es erst nicht ohne chirurgische Hilfe geschafft hat und dann hat man trotzdem wieder zugenommen. Die Hauptmotivation ist bei den meisten, neben der Gesundheit natürlich, der soziale Druck und nicht eine akute medizinische Notwendigkeit.
Sie haben medikamentöse und operative Interventionen angesprochen. Wenn man das Gewicht als problematisch betrachtet, ist da das Kind schon in den Brunnen gefallen. Warum setzt man nicht früher an?
Schorb: Das Darwinsche Gesetz der Präventionspolitik ist von den Gesundheitswissenschaftlern Rolf Rosenbrock und Hagen Kühn in den 90ern formuliert worden. Es beschreibt, dass in der Präventionspolitik an erster Stelle technische Lösungen zum Einsatz kommen. Dafür gibt es einen lukrativen Markt. Sie sind bequem, denn man tritt niemandem auf die Füße, und sie passen in unsere modernistische Denkweise: “Wir können alles technisch lösen.” Bevor die Leute operiert werden, zeigt sich die Medizin häufig empathisch. Sie versteht, dass man nicht für sein Gewicht alleine verantwortlich ist und bietet eine Lösung an.
Ist so eine Operation dann nicht die ideale Lösung?
Schorb: Erstmal ist sie ziemlich teuer. Würde sie funktionieren, könnte man darüber sprechen. Hätte man einen funktionierenden Impfstoff gegen chronische Krankheiten, immer her damit. Dann kann man sich die ganzen anderen mühseligen Debatten sparen. Wunderbar! Aber so einfach ist es bei den meisten technischen Lösungen leider nicht. Da ist die Frage, wer nutzt welche Ressourcen und wem nützt das Ganze am Ende? Häufig führt das nämlich zu einer Überversorgung. Wenn zum Beispiel immer mehr MRT-Geräte angeschafft werden und Leute in die Röhre geschickt werden, obwohl das gar nicht notwendig ist.
Was ist der zweite Schritt des Darwinschen Präventionsgesetzes?
Schorb: Auf die Behandlung folgt die Verhaltensprävention. Damit steigt man zwar Leuten auf die Füße, aber eben solchen, die meist keine große Lobby haben. Vulnerablen Gruppen sollen ihr Verhalten anpassen, damit sie gesünder leben. Oft werden ihnen dann irgendwelche Programme angeboten, die nicht angenommen werden, weil sie sich nicht wirklich an die Zielgruppe richten oder deren Lebenswelten nicht abbilden. Hinzu kommt das Präventionsdilemma. Es besagt, dass Präventionsprogramme häufig dafür sorgen, dass die Abstände zwischen der eigentlichen Zielgruppe und der Mittelschicht größer werden. Die Zielgruppe wird nicht erreicht, die Mittelschicht noch gesünder. Alternativ wird versucht, die Motivation zu gesundheitlichem Verhalten zu steigern, indem man Steuern für ungesunde Lebensmittel erhöht. Doch das schränkt den finanziellen Spielraum der Menschen nur noch stärker ein.
Und der dritte Schritt?
Schorb: Der dritte Punkt wäre ein sozialer Ausgleich. Damit meine ich nicht nur weniger soziale Ungleichheit, sondern eine gute soziale Infrastruktur: Räume, in denen man sich angstfrei bewegen kann, Angebote für Kinder, in denen sie nicht nur verwahrt werden, Sportangebote, die leicht zugänglich sind und ein Gesundheitssystem, das lokal verankert ist. Kate Pickett und Richard Wilkinson haben 2010 einen Klassiker der Sozialepidemiologie veröffentlicht: “Gleichheit ist Glück”. Darin zeigen sie, dass nicht die reichsten Länder die besten Gesundheitsdaten haben, sondern Länder, die zwar wohlhabend sind, aber wo vor allem die sozialen Unterschiede geringer sind.
Die Verantwortung von Medizin und Public Health für das Klima der Fettfeindlichkeit
Sie untersuchen, wie Medizin und Public Health zur Fettfeindlichkeit beitragen. Was sind Ihre Erkenntnisse?
Schorb: In der Medizin hat sich die Rhetorik bereits geändert. Der Gedanke, dass Fett durch Willensschwäche entstünde, ist kaum noch präsent. Mittlerweile herrscht Konsens darüber, dass maßgeblich die Gene und eben auch soziale Lebensumstände verantwortlich sind. Trotzdem werden gesundheitliche Risiken von hohem Gewicht betont, weil man natürlich auch für seine Produkte und Angebote werben möchte. In der Bevölkerung bleibt ein verzerrter Eindruck über die gesundheitlichen Gefahren, die unmittelbar aus dem Gewicht resultieren würden.
Ist das nicht eine Unterstellung, Mediziner*innen würden Produkte verkaufen wollen?
Schorb: Dieses “Produkte verkaufen” soll nicht wie eine Verschwörungstheorie rüberkommen. Auch ein*e Sozialarbeiter*in wird sagen, man braucht Integrationskurse. Wir sind eine Marktwirtschaft und eine Parteiendemokratie. Es schließt sich nicht aus, Gutes zu wollen und trotzdem im eigenen auch finanziellen Interesse zu handeln. Das Problem, das ich sehe, ist, dass es unterschiedlich mächtige Interessengruppen gibt, mit verschieden großen Ressourcen. Da sehe ich ein Machtungleichgewicht zugunsten der Medizin. Und innerhalb der Medizin gibt es wiederum ein Ungleichgewicht zugunsten der Gerätemedizin und auch der pharmazeutischen Industrie.
Wie ist die Lage in der Public Health?
Schorb: Public Health betrachtet Gewicht oft zu isoliert. Man sieht das beispielsweise bei Programmen, die sich an Kinder richten. Dort wird gesagt: “Esst mehr Obst und Gemüse. Lasst die Burger, die Pommes und das Eis weg. Dann werdet ihr rank und schlank.” Nur stimmt das einfach nicht. Es gibt genügend schlanke Kinder, die regelmäßig Süßigkeiten essen. Bei den Kindern bleibt das anders hängen. Sie schauen dann die etwas dickeren Spielkamerad*innen an und sagen: “Ich weiß, warum du so dick bist. Du isst zu viel.”
Inwiefern benutzt Public Health dicke Menschen als Abschreckungsbeispiel für ein vermeintlich gesundes Leben?
Schorb: Die Taktik wird in vielen Bereichen verwendet und nennt sich Furchtappell. Man sagt: “Wir schrecken die Leute ab, dann werden sie sich bewusst, was sie da eigentlich machen und ändern ihr Verhalten.” Das funktioniert nicht. Gerade aus dem Bereich Körpergewicht gibt es einige Studien dazu, dass Menschen, die man sozial unter Druck setzt, überhaupt nicht mehr ansprechbar sind für Gesundheitsprogramme. Das kennen wir auch aus anderen Gesundheitsdebatten. Menschen, die man unter Druck setzt, denen man Angst einjagt, die man damit ja auch stigmatisiert und bloß stellt, die ziehen sich eher zurück.
Was wäre besser?
Schorb: Ein sinnvollerer Ansatz wäre “Health at Every Size”: Wir machen Gesundheitsförderung, aber wir machen das holistisch für alle. Wir arbeiten mit einem positiven Angebot, mit Bewegung und Ernährung ohne Angst vor Kalorien. Nicht schlank sein ist das Erfolgskriterium, sondern Wohlbefinden steht im Fokus.
Übergewicht trifft Gesundheitsideologie
Das Konzept “Health at Every Size” stellen wir in dieser Ausgabe vor. Sie gehen ja an manchen Stellen noch einen Schritt weiter, denn Sie kritisieren die Ideologie des “Healthism”. Was steckt dahinter?
Schorb: Der Begriff Healthism kommt aus der US-amerikanischen Debatte, wo er sich in den 1980er-Jahren etabliert hat. Das Konzept beschreibt einen Paradigmenwechsel: Gesundheit ist nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern wird zum Ausweis von moralischer und erfolgreicher Lebensführung. Viele Bereiche, die bisher für ein gesellschaftlich erfolgreiches und auch moralisch wertvolles Leben standen, zum Beispiel eine Sexualität, die der Norm entsprochen hat, ein geordnetes Familienleben oder der Gang in die Kirche, werden zunehmend vom Paradigma der Gesundheit abgelöst, sodass heute Moral zunehmend über Gesundheit ausgetragen wird.
Was ist damit gemeint?
Schorb: Gesundheit wird zu einer Art Siegel für Tugendhaftigkeit. Wenn jemand nicht gesund ist, unterstellt man, dass die Person selbst schuld sei, weil er*sie sich nicht geschützt habe. Das gilt vor allem bei chronischen Krankheiten, aber auch bei Infektionskrankheiten wie Corona lässt sich das beobachten. Gleichzeitig ist damit auch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens gemeint, durch die Gesundheit zunehmend zur Investition wird, die man tätigen muss. Wenn Gesundheit zum symbolischen Erfolgsausweis wird, passt hohes Körpergewicht da nicht rein. Selbst wenn es womöglich nicht mit gesundheitlichen Problemen einhergeht, wird es mit Disziplinlosigkeit, als ungesund, als unattraktiv und nicht erfolgreich assoziiert.
Kann es nicht eigentlich nur etwas Gutes sein, gesund sein zu wollen?
Schorb: Häufig heißt es: “Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.” Diese Herangehensweise ist problematisch, weil sie normativ ist und Menschen mit Behinderungen ausschließt. Wir müssen den Gedanken verabschieden, dass alle im normativen Sinne gesund sein können oder wollen. Es geht eher darum, aus den Mitteln, die man hat, das Beste zu machen. Wenn du eine genetische Veranlagung zu einem hohen Körpergewicht hast, ist es nicht sinnvoll, dagegen anzukämpfen.
Wie sähe in einer idealen Welt der öffentliche Umgang mit dicken Menschen und dem dahinter wahrgenommenen Problem aus?
Schorb: Der “Health at Every Size”-Ansatz stellt nicht das Körpergewicht in den Mittelpunkt, sondern denkt Gesundheitsförderung ganzheitlich. Er unterstützt ein gutes Leben zu führen, auch aktiv zu sein, aber eben nicht mit dem Ziel ein falsches Ideal zu erreichen, das eine*n am Ende psychisch, aber vielleicht auch physisch noch kränker macht. Gleichzeitig muss man aufpassen, dicke Menschen, die sagen, ich habe gerade anderes zu tun, als mich um Ernährung und Bewegung zu kümmern, nicht auszuschließen. Ich habe trotzdem den Anspruch darauf, als Mensch ernst genommen zu werden und anerkannt zu werden.
Wie kann es gelingen, dass ein solcher Ausschluss nicht stattfindet?
Schorb: Es darf nicht heißen: “Du musst nicht abnehmen, aber gesundheitsbewusst leben musst du schon.” Von anderen Menschen verlangt man das ja auch nicht. Gesundheit ist eine individuelle Entscheidung. Was man machen kann, sind Angebote. Aber auch die müssen Menschen nicht annehmen. Wir schaffen viele Angebote, die Menschen nicht annehmen. Wir sagen den Leuten, sie sollen wählen gehen und beschämen sie nicht, wenn sie es nicht tun. Genauso, wie wir Leute auch nicht unter Druck setzen, in ihrer Freizeit Müll zu sammeln statt Fernzusehen. Ich wünsche mir mehr Bescheidenheit in den Gesundheitswissenschaften. Das ist zum Teil natürlich die gesellschaftliche Stellung, die einem zugewiesen wird. Aber man nimmt sich da auch manchmal zu wichtig. Gesundheit ist nicht das einzige im Leben von Menschen. Das hat man zu respektieren.