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“Der Kampf gegen Gewichtsdiskriminierung sollte eine soziale Bewegung sein“

Natalie Rosenke kämpft mit der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung für Gewichtsvielfalt. Im Interview sprechen wir über die Rolle der WHO, Gesundheits-Industrien und vermeintliche Helfer*innen.

Interview mit Natalie Rosenke

Natalie Rosenke wurde erst spät klar, dass sie Diskriminierung erfährt und dagegen ankämpfen will. Heute ist sie Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung und setzt sich politisch und künstlerisch für Gewichtsvielfalt und gegen ein moralisch aufgeladenes Machtgefüge ein, das durch ganze Industrien aufrecht erhalten wird.

Frau Rosenke, wie äußert sich Gewichtsdiskriminierung?

Rosenke: Diskriminierung drückt sich in unterschiedlichen Formen aus, Beleidigungen sind nur ein Teil. Weniger auf den ersten Blick sichtbar ist sie beispielsweise in der Arbeit. Bei der Entlohnung zeigt sich ein Weight Pay Gap, besonders bei Frauen. Das heißt, dicke Frauen verdienen weniger als ihre dünnen Kolleginnen. Schon zum Bewerbungsgespräch werden dicke Menschen nicht eingeladen, einfach aufgrund des Bewerbungsfotos. Und laut einer Studie der Universität Tübingen trauen 98 Prozent der Personaler*innen dicken Frauen keine prestigeträchtigen Berufe zu, wie Ärztin oder Architektin.

Inwiefern hängt Gewichtsdiskriminierung mit anderen Formen der Diskriminierung zusammen?

Rosenke: Diskriminierung hat immer auch eine individuelle Komponente, da ja bei uns allen unterschiedliche Merkmale und Eigenschaften zusammenkommen. Dicke Schwarze Frauen sehen sich beispielsweise immer wieder Werbeanzeigen gegenüber, die an eine koloniale Ästhetik anknüpfen. Das ist zum Beispiel die Darstellung mit einem auf der Stirn zusammengeknoteten Tuch, beim Zubereiten oder Präsentieren von Essen. Der Dicke Körper wird dafür genutzt, Botschaften wie “Essen im Überfluss” zu vermitteln. Das Kopftuch kennzeichnet die Person als Bedienstete. Das Motiv soll Fürsorge vermitteln, das ist mit dem Begriff der Mutter verknüpft. Dabei wird außer Acht gelassen, was wir hier in Wahrheit sehen: Eine versklavte Frau, die gegen den eigenen Willen und ohne Entlohnung unter Anwendung von Gewalt Care-Arbeit leistet. Wir sprechen also von rassistischer Werbung, die sich dazu noch Vorurteilen hinsichtlich der Ernährung dicker Menschen bedient. So kommt wieder Gewichtsdiskriminierung ins Spiel.

Inwiefern geht es dabei um Machtverhältnisse?

Rosenke: Bei Diskriminierung geht es immer um Machtverhältnisse. Es gibt eine ganze Reihe von Privilegien, die uns nicht bewusst sind. Wenn ich einen dünnen Körper habe, muss ich mich mit vielen Dingen nicht auseinandersetzen. Das, was wir als “normal” benennen, ist eine Selbstverständlichkeit. Die Produkt- und Dienstleistungswelt und vieles Weitere ist auf dieses "Normal" zugeschnitten. Mit einem dünnen Körper wird der Sitz im Flugzeug breit genug sein.

Was ist, wenn man diese Privilegien nicht hat?

Rosenke: Wenn mir Privilegien fehlen, dann habe ich einen erschwerten Zugang zu bestimmten Dingen. Wenn eine dicke Person, bevor sie mit Freund*innen ins Kino geht, darüber nachdenken muss, ob sie dort wie in einem Korsett sitzt, während alle anderen eine schöne Zeit haben, was bedeutet das für die Gruppendynamik? Mit solchen Unterschieden beginnen Machtverhältnisse. Das geht bis hin zu Bekleidungsketten, die bewusst keine Kleidung für dicke Menschen anbieten. Sie wollen nur eine bestimmte Körperform mit ihrer Marke verknüpft sehen. Und ja, dabei geht es um Macht.

Dicke Menschen werden diskriminiert. Wer nicht dick ist, hat oft Angst, zuzunehmen. Das ist doch für alle nicht schön. Warum haben wir diese Verhältnisse trotzdem?

Rosenke: Wir dürfen nicht vergessen, dass es ganze Industriezweige gibt, die daran verdienen. Werbung zeigt uns kaum noch Informationen über ein Produkt, sondern erklärt uns, an welcher Stelle wir minderwertig sind. Wenn etwas zum Mangel erklärt wurde, kann daraus ein Bedarf abgeleitet werden. Diätindustrie, Fitnessindustrie, Schönheitsindustrie, sie alle verdienen daran, bei uns reinzufunken und zu sagen: Verändere dein Leben! Nur der schlanke Körper ist der gesunde Körper, der schöne Körper!

Nicht die Industrie, sondern die Weltgesundheitsorganisation hat Übergewicht in den 1990er-Jahren als Krankheit definiert, sogar als Epidemie. Wie hat das die Debatte beeinflusst?

Rosenke: Das hat die Stigmatisierung des dicken Körpers stark befördert. Das Wording ist übernommen worden. Jetzt gibt es regelmäßig Berichte, die mit diesem Vokabular durch die Presse gehen. “Dicke Menschen als Epidemie: Der dicke Körper kommt über uns!” Das ruft dann immer wieder eine Welle von vermeintlichen Helfer*innen auf den Plan.

Wen meinen Sie mit “vermeintlichen Helfer*innen”?

Rosenke: In Sozialen Medien sind das Trolle, die sagen “Es geht mir um deine Gesundheit, ich will dir nur helfen.” Darum geht es aber nie. Bestimmten Druck, bestimmtes Verhalten würden wir einer Person gegenüber nie an den Tag legen, wenn wir tatsächlich an ihrer Gesundheit interessiert sind. Wenn es um Gesundheit ginge, müssten die Trolle ihr Trollsein beenden. Diskriminierung – dazu zählen Mobbing und Beleidigungen – trägt nicht zur Gesundheit bei. Sie erzeugt nachweislich dauerhaften Stress, der die Gesundheit schädigt.

Worum geht es diesen Leuten?

Rosenke: Sie sehen Gesundheit als etwas, das einer Person einen bestimmten Wert zuspricht. Insofern begegnet dicken Menschen oft Ableismus: Es wird gezielt danach gesucht, was die dicke Person angeblich nicht kann. Immer wieder verlangen Trolle von mir, zuzugeben, dass ich krank sei. Das ist für sie ein Mittel, um ihre Vorurteile zu bestätigen, sich zu erheben, um dicke Menschen schuldig zu sprechen. Innerhalb der deutschen Bevölkerung halten 78 Prozent einen dicken Körper für eigenes Verschulden.

Es geht also auch um eine Art Moral?

Rosenke: Auf jeden Fall. In den USA wird in diesem Zusammenhang von “Good Fatty” und “Bad Fatty” gesprochen. Eine “Good Fatty” versucht, den dünnen Körper zu erreichen, versagt. Ich bin eine “Bad Fatty”. Ich sage: Ich bin hier. Punkt. Ich habe das Recht auf Menschenwürde und das lasse ich mir von dir nicht nehmen. Es gibt kein Recht auf Diskriminierung und Beleidigung.

Wodurch haben Sie festgestellt, dass Gewichtsdiskriminierung etwas ist, gegen das Sie ankämpfen möchten?

Rosenke: Das war ausgesprochen spät. Mir ist früh der Satz “mit diesem Körper kannst du nicht…” mitgegeben worden. Ich hatte das Glück, mit ein Talenten im Bereich Kunst und Gesang gesegnet zu sein. Darauf habe ich mich lange fokussiert. Als um das Jahr 2000 rum das Internet langsam Einzug in die Haushalte fand, bin ich auf ein Forum gestoßen. Da wurde dick sein auf allen möglichen Ebenen diskutiert – und zwar wertschätzend. Das hat mich sehr berührt. Ich habe dort spannende Menschen getroffen und gemerkt: Gewichtsdiskriminierung ist eine Erfahrung, die ich mit ganz vielen teile. Sie steckt tief im System. Ich habe gemerkt, dass ich das aktiv bekämpfen möchte, dass ich in etwas gelandet bin, das eine soziale Bewegung sein sollte.

Wie kämpfen Sie gegen Gewichtsdiskriminierung?

Rosenke: Meine persönliche Lieblingsform ist politische Aktionskunst. Dafür trage ich ein Kostüm, das für ein Problem steht. Damit trete ich mit Menschen in Dialog.

Wie sieht das aus?

Rosenke: Mein erstes Kostüm war ein Jutesack. Vorne stand drauf “Ich will keine Säcke mehr tragen”. Ein Pfeil zeigte nach oben, wie bei einem Umzugskarton, da stand “fett” drauf. Mensch könnte jetzt sagen, ist das schon politisch? Haben nicht alle irgendwie Probleme mit Klamotten? Das ist genau der Dreh: Über so einen Anknüpfungspunkt kann ich mit jeder Person ins Gespräch kommen und später politisch tiefer einsteigen.

Sie sind Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung. Was sind Ihre Aufgaben?

Rosenke: Öffentlichkeitsarbeit und politische Arbeit sind unsere Schwerpunkte. Ich selbst bin beispielsweise beratend tätig, wenn es um politischer Anträge geht. Die Begründung für eine Forderung muss ja über viele Ebenen getragen werden. Das bedeutet auch, Bündnisse zu schmieden. Bis etwas wirklich in einem Gesetz steht, braucht es Kontinuität und einen sehr, sehr langen Atem.

Was für ein Gesetz zum Beispiel?

Rosenke: Als das Landesantidiskriminierungsgesetz in Berlin ausgearbeitet wurde, haben wir eine Stellungnahme abgegeben. Wir haben klargemacht, dass Gewicht explizit genannt werden muss, um einen vollumfänglichen Schutz vor Gewichtsdiskriminierung zu verankern. Das Gesetz ist im Sommer 2020 verabschiedet worden. Gewicht ist leider nicht in der Liste der Dimensionen von Diskriminierung enthalten. Das Gesetz wird 2024 evaluiert. Dann wird es darum gehen, diese Schutzlücke aufzuzeigen und zu schließen. Das Gesetz ist das erste seiner Art in einem Bundesland. Wenn andere Länder hier nachziehen, wird es als Blaupause dienen.

Sie haben gesagt, der Kampf gegen Gewichtsdiskriminierung sollte eine soziale Bewegung sein. Ist es keine?

Rosenke: Bewegung gibt es schon, nur die Frage ist: Sprechen wir da von Aktionen mit 15 Menschen oder von größeren Demonstrationen? Körper zu beurteilen und zu verurteilen, ist in unserer Gesellschaft eine erschreckende Selbstverständlichkeit. Wie schon gesagt, ganze Industriezweige arbeiten daran. Wir sehen steigende Zahlen von Körperbildstörungen, Essstörungen, von Menschen, die gegen ihren eigenen Körper kämpfen. Was wir nicht haben, sind entsprechende Gesetze. Da entsteht eine Gemengelage, der wir nicht begegnen. Aber es werden immer mehr Grundsteine gelegt.

Was sind das für Grundsteine?

Rosenke: Es gibt viele positive Entwicklungen. Unser Verband hat unheimlich viele Anfragen aus dem Forschungsbereich. Das heißt, es entstehen Arbeiten zu dem Thema. Zahlen machen Dinge sichtbar, die man dann adressieren kann. Zur Zeit muss ich oft noch Studien aus den USA oder Großbritannien zitieren, weil es in Deutschland dazu nichts gibt.

Wie können Menschen, die selbst nicht dick sind, sich gegen Gewichtsdiskriminierung einsetzen?

Rosenke: Man kann sich politisch engagieren und unsere Gesellschaft unterstützen. Im Alltag fängt es bei kleinen Dingen an, wie Diet Talk, also Gespräche rund um Diäten nach dem Motto “ich darf das nicht essen”. Man kann erklären, was für eine ausschließende Atmosphäre dadurch entsteht, die ganz klar funkt, wie wichtig es ist, nicht auszusehen wie dicke Menschen. Dafür muss keine dicke Person mit dabei sein. Es geht nicht darum, sich demonstrativ schützend vor dicke Menschen zu werfen, sondern um einen Schulterschluss Seite an Seite, auf Augenhöhe.

Was kann die Medizin besser machen?

Rosenke: Es macht keinen Sinn, Personen anhand einer Zahl auf der Waage für krank zu erklären. Krankheit wird zudem selten als Set an Bedarfen gelesen. Wenn wir die Bedürfnisse eines Menschen sehen würden, wären wir da, wo wir hin sollen in einer inklusiven Gesellschaft. In der Arztpraxis kann das bedeuten, passende Hilfsmittel zu haben, wie eine große Blutdruckmanschette. Dicke Menschen machen sich oft ganz klein, wollen keine Belastung sein. Wenn Pflegepersonal in Kliniken entsprechende Unterstützung hätte, zum Beispiel in Form von Hilfsmitteln, wären alle entlastet. Offenheit ist auch ein Thema: Wenn schon das Wartezimmer zugepflastert ist mit Abnehmprogrammen, wie kann ich da eine diagnoseoffene Untersuchung erwarten? Bei Krankheiten, die sich durch Bewegung oder Ernährung bessern, sollten Ärzt*innen diese Therapie anbieten, anstatt davon auszugehen, dass dicke Personen dafür nicht offen wären. Ich könnte ewig weiter referieren. Eines noch: Bitte im Krankenhaus große Nachthemden bereithalten. Es ist unerträglich und unwürdig, halbnackt auf dem Flur rumzuliegen. Das muss nicht sein. Und das lässt sich zum Schnäppchenpreis lösen.