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Armut macht krank und Krankheit macht arm

Warum sind arme Menschen häufiger krank? Gerhard Trabert, Arzt und Sozialarbeiter, erklärt wie Armut und Krankheit zusammenhängen.

Warum sind arme Menschen häufiger krank? Wenn jemand diese Frage beantworten kann, dann Gerhard Trabert. Er ist Arzt, Sozialarbeiter und Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden. Mitte der 1990er Jahre hat er in Mainz eine medizinische Ambulanz für Wohnungslose aufgebaut, aus der sich mittlerweile eine Poliklinik und ein fahrbares Sprechzimmer entwickelt haben. Trabert ist seit über 20 Jahren Vorsitzender des Vereins Armut und Gesundheit e.V., der sich weltweit für die Gesundheit von Menschen einsetzt.

Upstream: Herr Trabert, was verbindet Armut und Gesundheit?

Gerhard Trabert: Armut und Gesundheit hängen elementar zusammen. Schon Virchow hat Mediziner die “originären Anwälte” von Armut betroffener Menschen genannt. Erstmal muss man Armut definieren. Armut hat viele Facetten: Beziehungsarmut zum Beispiel, oder Armut, die mit Bildung zusammenhängt. Bei uns ist die Definition stark am Einkommen orientiert. Und bei Menschen, die in dieser ökonomischen Armut leben, gibt es höhere Prävalenzquoten für alle Erkrankungen.

Was heißt das konkret?

Trabert: Herzinfarkt ist nicht mehr die Managerkrankheit, sondern eine Erkrankung, die vermehrt bei von Armut betroffenen Menschen auftritt. Armut hat in unserer Gesellschaft nicht nur mit demVerzicht von Konsumgütern oder Partizipationsmöglichkeiten zu tun, sondern Armut bedeutet in dieser reichen Gesellschaft, dass man eher stirbt.

Wie bedingen sich Armut und Gesundheit gegenseitig?

Trabert: Krankheit ist der dritthäufigste Grund, sich zu verschulden. Vor allem mit chronischer Erkrankung sind massive ökonomische Einbußen verknüpft. Wer nicht mehr zu hundert Prozent arbeiten kann, oder gar nicht mehr, aus welchen Gründen auch immer, ist in unserem Versorgungssystem nicht wirklich abgesichert. Man spricht vom Selektionseffekt.

Wer in Armut aufwächst, ist auch kränker. Das ist der Kausationseffekt. Er betrifft besonders Kinder. Schon 2006 wurde in der KiGGS-Studie nachgewiesen, dass Kinder, die in Armut aufwachsen, häufiger Infektionskrankheiten haben, mehr Zahnprobleme, mehr Unfälle, mehr Angststörungen und mehr Depressionen.

Darum: Armut macht krank und Krankheit macht arm.

Jede*r Sechste in Deutschland ist arm oder armutsgefährdet. Wie kommt das?

Trabert: Die Armutsquote liegt schon seit Jahrzehnten über 15 Prozent und hat aktuell zugenommen. Von Einkommensarmut sind vor allem kinderreiche Familien, Alleinerziehende – in aller Regel Frauen –, Erwerbslose und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit betroffen. Es ist ein Skandal, dass der Familienstand zu Armut führt. Das ist ein gesellschaftliches Versagen, dass unser Sozial- und Gesundheitssystem eben nicht alle Menschen auffängt.

Warum ist das öffentlich kein Thema?

Trabert: Armut und Gesundheit sind schon ein Thema, zum Beispiel in der nationalen Armutskonferenz, einem Zusammenschluss von Betroffeneninitiativen, Wohlfahrtsverbänden und anderen Organisationen. Auch in der Bevölkerung kommt das Thema immer mehr an. Aber in der politischen Diskussion und bei den Entscheidungsträgern wird sich kaum damit befasst. Vielleicht, weil arme Menschen keine Lobby haben. Oder vielleicht braucht diese kapitalistische Demokratie auch ein Abschreckungsszenario: Wenn du nicht leistungsfähig bist und dich den neoliberalen Regeln nicht unterwirfst, wirst du in die Armut abgeschoben.

Wie hat sich die Agenda 2010, also die Einführung von Hartz-IV, auf die Situation ausgewirkt?

Trabert: Für einen Teil der Menschen war die Agenda 2010 gut, aber viele Menschen wurden und werden durch Hartz-IV an den gesellschaftlichen Rand und in die Armut gedrängt. Mit dem Hartz-IV-Satz können sie gerade so noch leben, können an dieser Gesellschaft aber nicht mehr wirklich teilhaben. Die Lebensmittelpreise sind jetzt in Pandemiezeitengestiegen, aber der Hartz-IV-Satz steigt nicht. Im Hartz-IV-Satz gibt es im Monat etwa 17,60 Euro für Gesundheit. Das ist eine systemische, strukturelle Benachteiligung der Menschen. Wenn es dann heißt “Wir dürfen das nicht erhöhen, weil es dann zu nah am Lohn vieler Erwerbstätiger wäre”, dann bedeutet das doch, dass der Mindestlohn höher sein muss und nicht, dass der Hartz-IV-Satz zu hoch ist.

Wie sehen Sie den politischen und gesellschaftlichen Diskurs über Armut?

Trabert: Es wird suggeriert, die Menschen seien in einer sozialen Hängematte. Hinter diesem Duktus “Fordern und Fördern” steht immer: Die Menschen wollen ja nicht. Das stimmt einfach nicht. In jeder gesellschaftlichen Gruppe gibt es Menschen, die faul sind, auch bei zum Beispiel Ärzten und Juristen. Studien haben eindeutig bestätigt, dass etwa zwei Drittel der Empfänger von sozialen Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Hartz-IV, arbeiten oder in Rente sind. wie wichtig Arbeit für Menschen ist, insbesondere für Männer. Dieser Mythos, dass die Menschen nicht arbeiten wollten, ist eine Lüge.

Auch in der Sprache sehe ich immer wieder, wie das gesellschaftliche Problem individualisiert wird, mit Begriffen wie “sozial schwach”, “bildungsfern” bis “illegal”. Menschen sind nicht sozial schwach. Wenn, dann sind sie einkommensschwach. Es sind sozial benachteiligte Menschen.

Der Armut und Gesundheit e.V.

Gerhard Trabert hat 1997 den Armut und Gesundheit e.V. gegründet und ist seitdem Vorsitzender des Vereins, der sich rund um das Themenfeld engagiert. Angefangen hat die Arbeit mit einem fahrbaren Sprechzimmer, in dem wohnungslose Menschen medizinisch versorgt werden. In Mainz wurde außerdem eine Poliklinik aufgebaut, mit einer Clearingstelle, die mittlerweile vom Land Rheinland-Pfalz finanziert wird, und einem Krankenzimmer. Ziel der Projekte ist neben der Versorgung, die Patient*innen in das Gesundheitssystem zu reintegrieren.

Darüber hinaus betreibt der Armut und Gesundheit e.V. eine mobile Gesundheitsberatung für Kinder und Jugendliche und einen Snoezelenraum in einer Schule und unterstützt unterschiedliche Projekte im Ausland.

Was muss geschehen, damit die Arbeit des Armut und Gesundheit e.V. überflüssig wird?

Trabert: Es gibt viele Unrechtsmechanismen in unserer Gesellschaft, die Krankheiten fördern. Wir brauchen eine Grundsicherung, mit der man am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. Es braucht sozialen Wohnungsbau, Wohnungen, deren Miete finanzierbar ist. Oder auch das Thema Bildung, das hängt ja alles zusammen. Letztendlich braucht es ein Armutsbekämpfungskonzept, an dem alle Ministerien beteiligt sind und das mit Experten und Betroffenen analysiert, was geändert werden muss.

Ist der Armut und Gesundheit e.V. auch politisch aktiv?

Trabert: Der Verein ist neben seinem konkreten Handeln in verschiedenen Gremien, zum Beispiel in der Nationalen Armutskonferenz. Wir müssen jetzt helfen, aber wir müssen gleichzeitig die Strukturen verändern. Es kann nicht sein, dass in so einem reichen Land wie Deutschland ehrenamtliche Versorgung notwendig ist.

Wissen die Menschen in der medizinischen Praxis Bescheid über den Zusammenhang von Armut und Krankheit?

Trabert: Ich glaube, da ist ein großes Defizit, was Wissen und Information angeht. Viele Ärztinnen und Ärzte kommen aus der Mittel- und Oberschicht1. Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist, wenn man mit jedem Cent rechnen muss. Deswegen ist es so wichtig, schon an der Stellschraube Medizinstudium zu arbeiten, um die Sensibilität zu erhöhen. Wir müssen die Wissenslücke schließen. Das fängt unter anderem innerhalb der Ausbildungs-Curricula in den verschiedenen medizinischen Berufen an.

Wie kann diese Lücke geschlossen werden?

Trabert: Meines Erachtens muss es eine quasi Pflicht-Fortbildungsqualifikation zu dem Thema geben. Ich erlebe es immer wieder, dass Menschen aus der Klinik auf die Straße entlassen werden. Zuletzt hatte ich die Situation, da kam ein Mann mit offensichtlicher Schlüsselbeinfraktur zu mir, weil er von einem kirchlichen Krankenhaus weggeschickt wurde. Das hat ja auch was mit ärztlicher Berufsethik zu tun. Ökonomischer Druck darf bei Ärzten nicht dazu führen, dass sie offensichtlich leidende, erkrankte Menschen ablehnen, weil sie keine Versicherungskarte haben.

Es gehört originär zum ärztlichen Berufsbild, sich für sozial benachteiligte Menschen einzusetzen. Wir müssen daran arbeiten, das wieder stärker im ärztlichen Bewusstsein zu verankern.

Abgesehen von Mindeststandards der Behandlung: Wie können Ärzt*innen von Armut betroffene Menschen unterstützen?

Trabert: Es müsste mehr Vernetzung von Medizin und sozialer Beratung geben. Wenn ich als Mediziner oder Medizinerin von der Wechselwirkung von sozialem Status und Gesundheit weiß, muss ich das auch in der Anamnese, im Sinne einer bio-psycho-sozialen Betrachtungsweise des Patienten, abfragen.

Zum Teil wird man dann mit Dingen konfrontiert, für die man gar nicht der primäre Ansprechpartner ist. Da müssten stationäre Einrichtungen wie Krankenhäuser mehr mit ambulanten sozialen Beratungsstellen und Unterstützungsstellen kooperieren. Auch beim Hausarzt müssten Sozialarbeiter angestellt werden, denn für niedergelassene Ärzte ist Vernetzung noch schwieriger, Patienten interdisziplinär zu versorgen. Ich verbinde diese Berufsgruppen ja in meiner Person und sehe, wie wichtig es ist, zusammenzuarbeiten.

Das Interview wurde im März 2021 geführt, der Text wurde im Mai 2021 nochmal überarbeitet.

Fußnoten

[1] Wie – und wie problematisch – die soziale Herkunft von Ärzt*innen ist, schlüsselt Lisa Richter im Artikel Bleibender sozialer Abstand auf, der 2019 in der Zeitschrift “Gesundheit braucht Politik” des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte erschienen ist.