Alt werden ist in Europa ein Privileg
Ein neuer Report zeigt: Gesunde Lebenszeit ist in Europa ungleich verteilt. Damit es dabei nicht bleibt, erklären die Wissenschaftler*innen hinter dem Bericht, wie es am schnellsten gelingen kann, das zu verändern.
Takeaways
Darum geht es in dieser Ausgabe
- Grafik des Monats: So ungleich ist Gesundheit in Europa
- Thema:Soziale Ungleichheit verschärft ungleiche Gesundheit – aber es gibt Auswege
- Was du außerdem wissen solltest: Diesmal mit einem besonders genauen Blick auf die geplante Bürgergeld-Reform
Hallo!
Schön wär’s, wenn gleiche Chancen auf Gesundheit das Ziel politischer Entscheidungen wären. Was das bewirken könnte, hat Sören in der letzten Ausgabe erklärt – aber auch, warum Politiker*innen das Wohlbefinden aller aus dem Fokus verlieren können.
In dieser Ausgabe siehst du, was aus dieser Politik folgt: Gesunde Lebenszeit ist in Europa ungleich verteilt. Benachteiligte Menschen erwarten ein bis zu acht Jahre kürzeres Leben und haben bis zu 18 gesunde Lebensjahre weniger. Das zeigt der Report “Social inequalities in health in the EU”, der Ende September erschienen ist.
Die Wissenschaftler*innen hinter dem Bericht erklären, wie es gelingen kann, diese Lücke zu schließen. Ein Punkt der langen Liste an Möglichkeiten: ein gesichertes Mindesteinkommen. Genau das wird in Deutschland mit der geplanten Bürgergeld-Reform immer weiter aufgeweicht – auch das schauen wir uns an.
Eine gute Zeit beim Lesen wünscht
Maren
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Grafik des Monats
So ungleich ist Gesundheit in Europa
Wer länger bei Upstream dabei ist, kennt diese Karte. Sie zeigt die aktuellen Daten des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat), zum Anteil der Bevölkerung (über 16 Jahren) in den EU-Staaten, der von sich selbst sagt: Meine Gesundheit ist gut oder sehr gut.
Seit wir uns die Karte vor drei Jahren angeschaut haben, hat sich wenig verändert: Ob Menschen sich gesund fühlen oder nicht, hängt stark davon ab, wo sie leben.
Die positive Nachricht hier könnte sein, dass im Schnitt zwei von drei EU-Bürger*innen ihre Gesundheit mindestens als gut einschätzen. In einigen Ländern, etwa Kroatien, Rumänien und Portugal, ist der Anteil seit 2021 gewachsen. In vielen anderen, allen voran Schweden (-6,1 Prozent), ist er seitdem allerdings geschrumpft. Woran das liegt, zeigt ein aktueller Report:
Thema
Soziale Ungleichheit verschärft ungleiche Gesundheit
Menschen in der Europäischen Union sind gesünder als früher. Sie leben so lange wie nie: im Schnitt 81 Jahre. Doch der Durchschnitt ist nicht die Realität für alle.
Damit beginnt der Report “Social inequalities in health in the EU”, den das interdisziplinäre Forschungszentrum “Centre for Health Equity Analytics” und das Non-Profit-Netzwerk “EuroHealthNet” Ende September veröffentlicht haben. Der Bericht zeigt die ungleichen Gesundheitschancen, die sozioökonomische Ungleichheit, durch die sie entstehen, und was die EU und ihre Mitgliedstaaten tun können, um etwas zu ändern.
Der Befund: ungleiche Gesundheit
Die Wissenschaftler*innen haben Daten aus dem 2023/2024 erhobenen European Social Survey (ESS) analysiert und mit denen der Erhebung zehn Jahre zuvor verglichen. Basis ist, wie EU-Bürger*innen ihre generelle und psychische Gesundheit selbst einschätzen.
Ähnlich wie laut Eurostat-Daten schätzt etwa jede*r Dritte die eigene Gesundheit als mittelmäßig bis sehr schlecht ein. Das sind laut Report knapp zwei Prozent weniger als noch 2013/14. Allerdings sind starke Unterschiede zwischen den Ländern zu sehen: Während in Irland und der Schweiz weniger als jede*r Fünfte die eigene Gesundheit für mittelmäßig bis schlecht hält, ist der Anteil in Portugal und Litauen mehr als doppelt so hoch.
Von schlechter mentaler Gesundheit berichtet demnach im Schnitt jede*r Achte – in Portugal und Litauen allerdings jede*r Vierte. Die Gesundheit variiert zudem nach Bildung und Beruf: Je niedriger der Abschluss beziehungsweise Status der Berufsgruppe, desto schlechter die Gesundheit.
Die Ursache: soziale Ungleichheit
Die Wissenschaftler*innen weisen auf unterschiedliche Entwicklungen gesundheitlicher und sozialer Ungleichheit hin: In nur zwei Ländern – Slowenien und Polen – ist die Bevölkerung im Schnitt gesünder als noch zehn Jahre zuvor. Und ob jemand gesund ist oder nicht, hängt weniger vom Bildungsgrad ab. In anderen Ländern, darunter auch Deutschland, sei die Gesundheit der gesamten Bevölkerung im Schnitt besser, aber die Bildungsungleichheit größer geworden. Im schlechtesten Fall – den Daten zufolge in Belgien, Norwegen und Litauen – hat sich die Gesundheit im Schnitt verschlechtert, während die Ungleichheit größer geworden ist.
Dass sich in einigen Ländern die Gesundheit allgemein verbessert hat, begründen die Wissenschaftler*innen damit, dass:
- Arbeitsplätze sicherer geworden sind,
- Menschen weniger Alkohol trinken und weniger rauchen
- etwas mehr Menschen Sport machen.
Dass die gesundheitliche Schere trotzdem auseinander geht, begründen die Wissenschaftler*innen damit, dass
- in vielen EU-Ländern immer mehr Menschen Probleme haben, eine gute Wohnung zu finden,
- mehr Menschen unbezahlte Care-Arbeit leisten,
- in jedem zweiten EU-Land mehr Menschen Konflikte in der Kindheit erleben,
- Menschen sich im Schnitt ungesünder ernähren und weniger Obst und Gemüse essen,
- immer mehr Menschen Probleme haben, einen Arzttermin zu bekommen,
- weniger Menschen zu Allgemeinärzt*innen gehen, aber mehr zu Fachärzt*innen,
- weniger Menschen die Versorgung bekommen, die sie benötigen.
Die Lösungen: ganzheitlich und auf mehreren Ebenen
Die Schlüsse, zu denen die Wissenschaftler*innen kommen, sind nicht neu: Um soziale und gesundheitliche Ungleichheit zu reduzieren, sind ganzheitliche Ansätze nötig. Nicht nur Gesundheit müsse im Fokus stehen, sondern mehrere Sektoren, etwa soziale Einrichtungen, Bildung, Wohnpolitik, Arbeit oder Wirtschaft. Der Gesundheitssektor könne aber eine steuernde und unterstützende Rolle einnehmen.
Solche Ansätze gibt es auf nationaler Ebene, indem Politiker*innen:
- anstreben, das Wohlbefinden der gesamten Bevölkerung zu verbessern, wie etwa in Finnland mit dem “National Action Plan for The Economy of Wellbeing”.
- Maßnahmen für die gesamte Bevölkerung entwickeln, die größeren Einfluss auf sozial benachteiligte Gruppen haben. Beispiel hierfür ist die Zuckersteuer, die Polen eingeführt hat und die Menschen mit geringem Einkommen am stärksten trifft.
- vulnerable Gruppen in den Fokus nehmen, wie etwa in einem griechischen Gesundheitsprogramm, das sich direkt an Romnja gerichtet hat.
Die EU kann darüber hinaus:
- nur begrenzt handeln, weil Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialpolitik Sache der Mitgliedstaaten sind.
- besonders über die Arbeitsmarktpolitik Einfluss nehmen, etwa durch Richtlinien für Arbeitszeiten, Mindestlöhne, Gesundheits- und Sicherheitsstandards.
- durch Handelspolitik Einfluss auf den Konsum von Alkohol, Tabak und ungesunden Lebensmitteln nehmen.
- gemeinsame Standards setzen und mit Initiativen und Geldern Anreize setzen.
Ganz konkret empfehlen die Wissenschaftler*innen:
- Menschen ein angemessenes Mindesteinkommen und Löhne zu garantieren.
- Arbeitsbedingungen zu verbessern.
- Kommerzielle Determinanten der Gesundheit zu regulieren.
- Neue Ursachen für chronische Erkrankungen anzugehen, wie fehlenden Wohnraum.
- Menschen Zugang zu gesunden Lebensmitteln zu ermöglichen.
- Gesundheitssysteme gerecht zu gestalten und Prävention zu stärken.
- Behandlung und Prävention im Bereich der psychischen Gesundheit zu stärken.
Mich interessiert, was du über die Empfehlungen aus dem Report denkst: Über welchen politischen Hebel lässt sich aus deiner Sicht am meisten bewegen? Kennst du Projekte, Maßnahmen oder Initiativen, die dazu beitragen, allen Menschen ein langes, gesundes Leben zu ermöglichen? Antworte einfach auf diese Mail . Oder gib uns einen Hinweis, was wir als nächstes recherchieren sollen .
Medientipps
Was du außerdem wissen solltest
Aus dem Bürgergeld wird die Grundsicherung – und mit dem neuen Namen kommen neue Möglichkeiten, die Leistungen zu kürzen. Das sehen die Pläne der Bundesregierung unter anderem vor. Für Empfänger*innen bedeutet das: Wer zum zweiten Mal nicht zum Termin beim Jobcenter kommt, bekommt 30 Prozent weniger Geld. Beim dritten verpassten Termin gibt es nichts mehr.
Angesichts der aktuellen politischen Debatte liegt der Schwerpunkt unserer Medientipps auf Bürgergeld und Grundsicherung.
Sind die Pläne für Sanktionen bei der Grundsicherung verfassungswidrig?
10.10.2025, Benjamin Buchholz/Hinz&Kunzt, 3 Minuten
“Bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist” – so beschreibt die SPD-Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas die Pläne, nach denen die geplante Grundsicherung gestrichen werden kann. Ein “kalkulierter Verfassungsbruch”, meint der Verein “Sanktionsfrei”.
“Es ist ein Skandal, dass Millionen Menschen nicht einmal das Nötigste haben”
17.10.2025, Tina Groll/Zeit (€), 6 Minuten
Der Regelbedarf für Bürgergeldempfänger*innen lag 2023 fast 500 € unter der Armutsgrenze in Deutschland. Was das bedeutet, zeigt eine aktuelle Studie des Paritätischen Gesamtverbands: Fast jede*r Fünfte hat kein zweites, gut erhaltenes Paar Schuhe. Restaurantbesuche, Freizeitaktivitäten, die Geld kosten oder unerwartete Ausgaben sind für die meisten Bürgergeldempfänger*innen nicht möglich.
Grundsicherung: Ein Boost für die Wohnungslosigkeit
21.10.2025, Sarah Yolanda Koss/nd, 2 Minuten
Mit der geplanten Grundsicherung – und vor allem den Möglichkeiten, das Geld zu kürzen – droht noch mehr Menschen Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Davor warnen mehrere Sozialverbände und die Gewerkschaft Verdi. Die Pläne sehen vor, dass Empfänger*innen auch die Kosten für die Wohnung gestrichen werden können. Das bedeute nicht nur, dass sie ihre Wohnung verlieren können, sondern auch, dass sie es noch schwerer haben, überhaupt eine zu finden.
Fast jede dritte Bürgergeld-Sanktion trifft ein Kind
23.10.2025, Jasmin Kalarickal/taz, 2 Minuten
Schon jetzt kann das Bürgergeld gekürzt werden, wenn Empfänger*innen aus Sicht des Jobcenters ihre Pflichten verletzten und nicht ausreichend mitwirken, eine Arbeit zu bekommen. Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen: Bei jeder dritten Sanktion sind Kinder davon betroffen.
Einheit – aber nicht für die Gesundheit
03.10.2025, Annika Schultz/SPIEGEL (€), 5 Minuten
“Wendekinder” haben die DDR nicht oder nur wenige Jahre lang bewusst mitbekommen, haben ähnliche Biografien wie ihre westdeutschen Altersgenoss*innen. Doch der Umbruch hat bis heute negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit – und sogar auf Blutdruck- oder Blutfettwerte, die letztlich das Sterberisiko erhöhen können. Die Sozialforscherin Lara Bister erklärt im Interview, woran das liegt.
Wenn im Pflegeheim am Essen gespart wird
02.11.2025, Matthias Pöls/MDR, 5 Minuten
In vielen Pflegeheimen hat das Essen keine gute Qualität – vor allem, was Nährstoffe angeht, aber auch Hilfe und Gemeinschaft bei den Mahlzeiten bleiben auf der Strecke. Für die Bewohner*innen kann das zu Mangelernährungen führen. Das zeigen eine aktuelle Studie und zahlreiche Beschwerden beim BIVA-Pflegeschutzbund. Wie groß das Problem und wie gravierend die Folgen sind, ist allerdings ungewiss, denn die Datenlage ist dünn.
Ein Jahr unterwegs mit einer Jugendgang - Warum werden sie kriminell?
13.10.2025, Y-Kollektiv/YouTube, 40 Minuten
Seit den rassistischen Äußerungen des Bundeskanzlers Friedrich Merz zu Problemen “im Stadtbild”, die mit Abschiebungen zu lösen seien und die er lieber erklären wollte, als sich zu entschuldigen, ist das “Stadtbild” ein geflügeltes Wort. János Kereszti wagt für das Y-Kollektiv einen differenzierteren Blick, spricht mit einer sogenannten Jugendgang, dem Bremer Innensenator und der ambulanten Suchthilfe über strukturelle Probleme, die in die Kriminalität führen und darüber, was helfen kann, den Kreislauf zu durchbrechen.
Polizeigewalt: Kein Freund und Helfer – Lorenz und die Einzelfälle
02.10.2025, Hubertus Koch/YouTube, 57 Minuten
Polizeigewalt ist immer wieder tödlich. In der crowdgefundeten Dokumentation “Lorenz und die Einzelfälle” sucht Hubertus Koch nach strukturellen Gemeinsamkeiten tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze: Ermittlungen verliefen zögerlich, Berichte würden willkürlich verfasst, die polizeiliche Ausbildung für psychische Krisensituationen sei unzureichend und rassistische Haltungen und Denkmuster verbreitet. Am Mittwoch wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Oldenburg gegen den Polizisten im Fall Lorenz eine Anklage wegen “fahrlässiger Tötung” erhebt.
Is the patient black? Check this box for yes
14.10.2025, Anissa Durham/The Markup, 9 Minuten
Medizinische Algorithmen haben in den USA Schwarzen Patient*innen erschwert, eine Nierentransplantation zu bekommen. Während sie länger warteten als weiße Patient*innen, starben einige während der Dialyse oder ihr Körper schwächelte, so dass sie die Nierentransplantation nicht überlebten.
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Anhang
Transparenz
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Quellen
EuroHealthNet & Centre for Health Equity Analytics (CHAIN) (2025): Social inequalities in health in the EU: Are countries closing the health gap? Brussels, 25 September 2025.