Datum: 29.09.2022
Absender: mail@upstream-newsletter.de
Betreff: Glücksspielsucht: Ich will doch nur spielen
Upstream #18

Kommst du mit in die “Spielo”?

Glücksspielsucht: Ich will doch nur spielen

Servus!

Schön, dass du reinliest. Falls du Upstream noch nicht kennst, hier recherchieren Maren Wilczek und ich gemeinsam, wie Ungleichheit krank macht. Aktuell schreiben wir eine Reihe zum Thema Sucht. Dafür hat sich Maren bereits angeschaut, was Sucht eigentlich ist, wie Suchtverhalten in der Gesellschaft verteilt ist und wie schwer es sein kann, Hilfe zu finden. In dieser Ausgabe schaue ich mir eine Sucht an, die aus der Reihe tanzt: Spielsucht.

Als ich in den 2010ern die Oberstufe besuche, ziehen die coolen Jungs meiner Stufe los in die Spielhallen. Ihre Geschichten sind mein erster Kontakt zum Zocken. Im Imbiss, wo es meist für eine der After Hours hingeht, damit der Alkohol im Magen etwas zu tun bekommt, stehen zwei Automaten. Die abstrusesten Mythen kursieren. Ein Mitschüler will an einem Abend mehrere hundert Euro Gewinn gemacht haben. Das ist eine Menge Geld für mich.

Spielen macht Spaß, kann Langeweile vertreiben, führt manche Menschen jedoch in die Sucht. Wie kommt das? Und wie können wir als Gesellschaft damit umgehen? Das habe ich mir für diese Ausgabe angeschaut und mit Sascha Heilig gesprochen, der selbst spielsüchtig ist. Lass uns gemeinsam eintauchen.

Dein Sören

P.S.: Maren und ich stecken viel Zeit und Energie in Upstream und möchten das auch weiterhin tun. Wenn dir gefällt, was wir hier machen, erzähle gerne Kolleg*innen von uns oder leite diese Mail an Menschen weiter, die Upstream spannend finden könnten. Natürlich freuen wir uns auch über Fragen oder Kritik! → mail@upstream-newsletter.de

Takeaways

Das erwartet dich in dieser Ausgabe

  • Interview: Sascha Heilig ist spielsüchtig. Was bedeutet das für sein Leben? Und was fordert er von der Politik?
  • Schlaglichter: Wann wird Glücksspiel problematisch, ist Glücksspielsucht eine Syndemie und wie wirksam ist eine Selbstsperre von Spieler*innen?
  • Aktuelles: Diesmal damit, wie Geflüchtete algorithmisch durchleuchtet werden, mit Rassismus im Rettungsdienst und der Frage, warum die Normalisierung von Alkohol so nervt.

In dieser Ausgabe geht es um Spielsucht. Hier findest du Anlaufstellen und Hilfe für Betroffene und Angehörige:

  • Unter der kostenfreien Nummer 0800 137 27 00 bietet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Telefonberatung an.
  • Du suchst Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen oder Kliniken? Die Seite spielsucht-therapie.de hat eine Übersicht zusammengestellt.
  • Auch die Interessengemeinschaft “Anonyme Spieler” stellt auf ihrer Internetseite eine Übersicht an Selbsthilfegruppen bereit.

In dieser Ausgabe und im Interview werden ebenfalls Suizid und Suizidgedanken angesprochen. Falls es dir aktuell nicht gut geht, findest du Hilfe unter der kostenfreien Nummer der Telefonseelsorge: 0800 1110111

Interview
Portrait von Sascha Heilig. Recht davon der Text: Interview. “Wenn ich könnte, würde ich Glücksspiel verbieten” Sascha Heilig, Autor von “Mein Leben mit der Sucht”

“Wenn ich könnte, würde ich Glücksspiel verbieten”

Sascha Heilig ist 35 Jahre alt und hat vor 17 Jahren das erste Mal gespielt. Mittlerweile hat er zwei Therapien hinter sich und bezeichnet sich als “spielfrei”. Wir wollten von ihm wissen, wie das Glücksspiel sein Leben verändert hat und was er sich von der Politik wünscht.

>>> Shortcut: Im Newsletter liest du die gekürzte Form des Interviews. Du möchtest alle Fragen und Antworten lesen? Dann springe hier zur Website.

Upstream: Wie kam es zu deiner ersten Berührung mit Glücksspiel?

Sascha Heilig: Als ich 18 Jahre alt war, habe ich in Köln in einer Diskothek gearbeitet. Damals habe ich in Bergisch Gladbach gewohnt. Kein Führerschein, kein Auto. Also war ich immer auf die Bahn angewiesen. Nach einer Schicht in der Disco hatte ich noch knapp zwei Stunden Zeit, bis der nächste Zug nach Hause fuhr. Zum Überbrücken ging ich in ein Café, das rund um die Uhr offen war. Ein älterer Mann fluchte und hackte auf den Automaten ein. Kurze Zeit später stieß er einen lauten Jubelschrei aus. Das ganze Lokal gratulierte ihm. Ich hatte immer noch rund anderthalb Stunden Zeit. Also habe ich in meiner Tasche gegraben und zwei Euro gefunden. Ich hab mir dann gedacht, wirfst du halt mal diese zwei Euro in den Automaten. Vielleicht hast du Glück, vielleicht keins.

An diesem Abend warst du ja noch nicht automatisch spielsüchtig. Wie ging es weiter?

Sascha Heilig: Ich habe die zwei Euro in den Automaten geworfen und innerhalb kürzester Zeit 700 Euro gewonnen, also 698 Euro. Auf dem Weg zur Sparkasse habe ich erstmals festgestellt, wie viele Spielhallen sich in meinem Umfeld befinden. Ich habe dann 650 Euro eingezahlt und 50 Euro behalten, um eine größere Spielhalle auszuprobieren. Als ich in die Spielhalle kam, war alles kundenfreundlich. Ich wurde herzlichst begrüßt und bekam gleich Kaffee. Damals gab’s noch kostenlose Zigaretten und Essen umsonst. Alles, was du tun musstest, war dein Geld in die Automaten zu werfen. Das habe ich fortan getan. Am Anfang noch sporadisch, aber dann wurde daraus eine Routine. In der Spitze saß ich dreizehn Stunden in der Spielhalle. Ich bin nur noch arbeiten gegangen, um Geld zum Spielen zu haben. Es ist krass, in welcher kurzen Zeit ich die Realität zu Geld verloren habe.

Deine Freund*innen und Bekannten wussten zu der Zeit gar nicht, dass du spielst?

Sascha Heilig: Überhaupt nicht. Auch mein Arbeitgeber nicht. Bei dem habe ich mir ja Vorschuss geholt. Irgendwann hat er auch mal gefragt, warum ich das mache. Das passe doch auch rechnerisch nicht. Aber selbst da habe ich mir irgendwelche Begründungen einfallen lassen. Irgendwann kommst du in die Schleife rein, dass du Rechnungen mal nicht mehr bezahlen kannst, Miete nicht mehr bezahlen kannst, Strom nicht mehr bezahlen kannst, kein Geld mehr da ist. Dann bin ich relativ schnell in die kriminelle Schiene rein, weil ich ja Geld brauchte, um zu spielen.

Was hat dir dabei geholfen, den Schritt der stationären Therapie zu gehen?

Sascha Heilig: Geholfen hat mir die Androhung, dass ich in Haft muss. Noch heute ist meine größte Angst, ins Gefängnis zu müssen. Ich war in über hundert Fällen angeklagt wegen Betruges, gewerblichen Betruges und Urkundenfälschung. Ich bin dann zur Caritas gegangen und habe über sie die stationäre Therapie beantragt. Das ist ja relativ viel Papierkram, den es da zu bewältigen gibt.

Welche Rolle spielt der Begriff Verantwortung für dich?

Sascha Heilig: Ich will mich nicht als Opfer meiner Krankheit darstellen. Das bin ich nicht. Keiner hat mich gezwungen, diese zwei Euro in den Automaten zu werfen oder auf Werbung für das Onlinecasino zu klicken. Es ist zwar eine Krankheit, aber letztendlich habe ich mich selbst für gewisse Dinge entschieden. Auch die Betrugsdelikte habe ich selbst begangen und vielen Menschen Schaden zugefügt. Nicht zuletzt habe ich meiner Frau fast ihre komplette Existenz genommen. Ich kann verstehen, dass Menschen mich für das verurteilen, was ich getan habe. Aber irgendwann muss es dann gut sein. Mittlerweile führe ich zwei Unternehmen: eine Marketingagentur und das Unternehmen “Spielfrei.Werden & Bleiben”, mit dem ich das Thema Suchtprävention fördere. Auch hier trage ich Verantwortung.

In den letzten Jahrzehnten ist auch Glücksspiel zunehmend legalisiert worden. Was bedeutet das für die individuelle Verantwortung von Spieler*innen, wenn der Staat es immer leichter macht zu zocken?

Sascha Heilig: Der Glücksspielstaatsvertrag gibt gewisse Richtlinien. Aber wenn er nicht kontrolliert wird, ist das ein Problem. Ich kenne viele Personen, die noch spielen. Die berichten, dass sie immer noch 100 Euro pro Drehung setzen können, obwohl der Glücksspielstaatsvertrag regelt, dass es maximal zwei Euro sein sollen. Was nützt er uns dann? Letztendlich bedeutet die Legalisierung vom Zocken Steuereinnahmen. Aber Geld sollte nicht über der Gesundheit von Menschen stehen.

Was wünschst du dir konkret von Politiker*innen?

Sascha Heilig: Wenn man einen Glücksspielvertrag macht, dann sollte man für effektive Kontrollmechanismen sorgen. Gerade das Thema YouTube, Streamer, Twitch sollte fokussiert werden. Die Streams ermöglichen es einem, sich ständig damit zu konfrontieren, wie leicht es angeblich ist zu gewinnen. Das hat mich auch angespornt weiter zu machen und zu schauen, ob es einen Trick gibt. Ich wünsche mir, dass das unterbunden wird. Gerade ist das Thema Sportwetten groß. Es gibt mittlerweile ein Bündnis gegen Sportwetten, die Bandenwerbung in den Stadien werden eingeschränkt. Ich habe das Gefühl, das Thema Onlinecasino geht gerade unter.

Twitch hat letzte Woche bekannt gegeben, ab Mitte Oktober bestimmte Glücksspiel-Streams zu untersagen. Wie bewertest du das?

Sascha Heilig: Die Umsetzung wird zeigen, wie gut das funktioniert. Häufig gibt es Grauzonen, die auch genutzt werden. Onlinestreamer wechseln dann eben die Plattform oder das Glücksspiel. Bemerkenswert finde ich, wie viele Kinder und Jugendliche unter den Usern sind und so viel zu früh an Glücksspiel herangeführt werden. Die sollten damit gar nicht erst in Berührung kommen. Jetzt werden aber erstmal die zunehmenden finanziellen Existenzängste dafür sorgen, dass die Glücksspielrate explodiert. Wenn man nicht mehr weiß, wie man seine Rechnungen bezahlen soll, ist die Versuchung groß, sich am Glücksspiel zu probieren. Das Schlimmste ist, wenn du beim ersten Mal einen hohen Gewinn erzielst. Das habe ich selbst erlebt. Dann ist die Abwärtsspirale fast vorprogrammiert.

Es gibt verschiedene Präventionsansätze. Häufig steht die Eigenverantwortung von Spieler*innen im Fokus. Was hältst du davon?

Sascha Heilig: Aufklärungsarbeit ist gut, aber sie muss richtig umgesetzt werden. Wenn irgendwo ein Plakat hängt, das darauf hinweist, dass Glücksspiel süchtig machen kann, hält das doch niemanden ab. Es braucht abschreckende Beispiele und echte Geschichten in der Öffentlichkeit. Wenn ich in eine Schulklasse gehe, um meine Geschichte zu erzählen, ist es fast immer mucksmäuschenstill.

Was ist aus deiner Perspektive noch notwendig?

Sascha Heilig: Wenn ich könnte, würde ich Glücksspiel komplett verbieten. Klar bringt es Steuergelder, aber diese Steuergelder sind Geld mit dem Leid von Menschen – nicht nur der Spieler. Ich bin 35 Jahre alt, ich werde mein ganzes Leben lang mit dieser Sucht leben. Ich habe jeden Monat den Druck, dass ich meine Schulden bezahle. Jeden Tag den Druck, dass ich keinen Rückfall bekomme. Zeitweise sind die Depressionen noch präsent. Ich bin ja froh, dass die Werbespots für Glücksspiele tagsüber nicht mehr im Fernsehen laufen, aber nach 22 Uhr laufen sie trotzdem. Die Krankheit Spielsucht ist eine mit den höchsten Suizidraten. Ich werde häufig gefragt, ob man ohne Hilfe von Glückspielsucht wegkommen kann – und ja, es gibt Menschen, die können das – aber die allermeisten brauchen Unterstützung, wenn sie erstmal in diesem Strudel sind.

>>> Es lohnt sich, das vollständige Interview zu lesen, denn Sascha hat einiges zu erzählen. Hier erfährst du, wie Sascha mit verschiedenen Rückfällen umgegangen ist, welche Rolle sein soziales Umfeld gespielt hat, wie Stigmatisierung sein Leben beeinflusst und welche Wette er bei “Wetten, dass …” gewinnen würde.

Schlaglichter
Schlaglichter: Glücksspiel als Sucht, Spieler*innensperren und Syndemie. Im Hintergrund spiel eine Person an einem Spielautomaten

Glücksspiel als Sucht, Spieler*innensperren und Syndemie

Wer die letzten Jahre Fußballspiele im Fernsehen verfolgt hat, ist Zeug*in geworden, wie die Glücksspielindustrie mit zahlreichen Bandenwerbungen für Sportwetten ihr Wasser und Brot zunehmend normalisierte. Forschende haben diesen Prozess unter dem Stichwort “Gamblifizierung” beobachtet. Über die Normalisierung im Sport hinaus stellen sie dabei fest, dass bestimmte Spielmechanismen, wie Einsätze, Zufallsprinzipien und Gewinne, auch in weitere Bereiche des Lebens streuen.

Das Zocken, Wetten und Daddeln ist, trotz Einbrüchen im Verlauf der Corona-Pandemie, in den letzten Jahrzehnten zur regelrechten Industrie gewachsen – und der Staat verdient mit. Im Jahr 2020 betrugen die Einnahmen laut Epidemiologischen Suchtsurvey 5,34 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Für die Nachfolge des 9-Euro-Tickets möchte Bundesfinanzminister Christian Lindner jährlich rund 1,5 Milliarden Euro beisteuern.

Glücksspiel: Jackpot für den Staat. Vergleich von zwei Balken: der erste in rot zeigt 5,34 Mrd. Euro Einnahmen durch Glücksspiel, der zweite stellt 1,5 Mrd. Euro Ausgaben für die geplante Nachfolge des 9-Euro-Tickets dar.
Vergleich der Einnahmen des Staates durch Glücksspiel im Jahr 2020 mit den geplanten Ausgaben für die Nachfolge des 9-Euro-Tickets, Quelle: Epidemiologischer Suchtsurvey 2021

So verwundert es nicht, dass laut Glücksspielsurvey 2019 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) mehr als sieben von zehn Personen (75,3 %) angaben, mindestens einmal in ihrem Leben gespielt zu haben. Aktuelle Zahlen aus dem Epidemiologischen Suchtsurvey 2021 zeigen: Drei von zehn Personen (29,7%) gaben an, sich in den letzten zwölf Monaten an einem Glücksspiel beteiligt zu haben. Doch Glücksspiel an sich ist für die meisten Menschen zunächst erstmal unproblematisch. Erst wenn es das Leben beeinträchtigt, wird es zum Problem.

Laut der Deutschen Suchthilfestatistik 2020 ist die Einzeldiagnose “Pathologisches Glücksspiel” 2020 mehr als 7.000 mal gestellt worden. Die der Hauptdiagnosen lag mit 6.289 leicht darunter. Die BZgA schätzte 2020 die Anzahl pathologischer Glücksspieler*innen in Deutschland auf rund 200.000.

Mit diesen fünf Merkmalen wird Glücksspiel problematisch

Bevor die WHO 2022 mit dem neuen ICD-11 pathologisches Glücksspielen erstmals als eine Verhaltenssucht eingeordnet hat, galt es lange als Störung. Für eine Diagnose als leichtgradige Störung müssen nach DSM-5 in den letzten zwölf Monaten vier bis fünf der folgenden Merkmale zutreffen:

  • starkes Eingenommensein vom Glücksspielen
  • Steigerung des Einsatzes, um den gewünschten Kick zu erreichen
  • Gescheiterte Versuche, das Glücksspiel einzuschränken oder damit aufzuhören
  • Unruhe oder Gereiztheit beim Versuch, das Glücksspielen einzuschränken
  • Glücksspielen als Flucht vor Problemen beziehungsweise negativen Gefühlen
  • den Verlusten durch erneutes Glücksspielen hinterher jagen
  • Vertuschen der Glücksspielproblematik gegenüber nahen Bezugspersonen durch Lügen
  • Wichtige Beziehungen oder der Arbeitsplatz wurden wegen des Spielens gefährdet oder verloren
  • sich darauf verlassen, dass andere Geld bereitstellen

Für eine Einordnung als mittlere Störung müssen demnach sechs bis sieben dieser Punkte erfüllt sein.

Spielsucht verläuft in drei Phasen

Der Weg vom unbedarften Glücksspiel zum pathologischen ist für alle Spieler*innen individuell. Trotzdem beobachten Forschende Muster. Spieler*innenkarriere nennen sie das und haben dafür ein Modell entwickelt. Das Modell nach Custer sieht so aus:

Gekennzeichnet ist der Verlauf von drei Phasen von links oben nach rechts unten. Der ersten Phase der Gewinnphase sind die Begriffe ‘gelegentliches Spielen’, ‘häufiger Gewinn’, ‘höhere Geldeinsätze’, ‘alleine Spielen’, ‘unrealistischer Optimismus’ zugeordnet. Der zweiten Phase der Verlustphase sind die Begriffe ‘Vernachlässigung von Familie und Freund*innen’, ‘ausschließliches Denken an Glücksspiel’, ‘Verheimlichungen, Lügen’, ‘unpünktliche Schuldentilgung’, ‘Prahlen mit Gewinnen’ zugeordnet. Der dritten Phase der Verzweiflungsphase sind die Begriffe ‘psychischer Zusammenbruch’, ‘Hoffnungslosigkeit’, ‘Suizidgedanken’, ‘Scheidung’, ‘Alkohol’, ‘Inhaftierung’ zugeordnet.
Vereinfachte Darstellung des Modell der Spieler*innenkarriere nach Custer 1987

In der Gewinnphase, dem positiven Anfangsstadium der Sucht, sammeln die Spieler*innen demnach ihre ersten Erfahrungen mit dem Glücksspiel. Erste Gewinne steigern das Selbstwertgefühl und die Risikobereitschaft.

Das gesteigerte Risiko mündet in der Verlustphase. Das Spielen wird zur Routine, was dazu führt, dass die Spieler*innen Freund*innen und Familie vernachlässigen. Das intensive Glücksspiel wird durch Lügen verschleiert. Geld hat zunehmend nur noch die Bedeutung als Einsatz und aufgenommene Schulden werden immer unpünktlicher zurückgezahlt.

Den Tiefpunkt der Sucht markiert die Verzweiflungsphase. Spieler*innen verlieren nun ihrem eigenen Empfinden nach die Kontrolle. Zentrales Ziel wird es, Geld zum Spielen zu beschaffen – egal wie. Die Persönlichkeit verändert sich, der psychische Zustand wird schlechter und Begleiterkrankungen können auftreten.

Komorbidität: Ist Glücksspiel eine Syndemie?

Syndemie? Da war doch was. Bei Corona, argumentierten Forschende im Lancet, ließe sich eine Komorbidität syndemischen Ausmaßes erkennen. Der Begriff Syndemie wurde durch den Medizinanthropologen Merrill Singer geprägt und beschreibt das gemeinsame Auftreten von zwei oder mehr Krankheiten, die sich innerhalb bestimmter Kontextfaktoren häufen.

Im 2018 veröffentlichten Paper “Widening the net: A syndemic approach to responsible gambling” plädieren die beiden Forschenden Lia Nower und Kyle Caler für eine syndemische Perspektive auf die Glücksspielsucht. Sie argumentieren, dass in der Public Health Forschung anerkannt sei, dass Süchte und psychische und physische Gesundheitszustände oft gleichzeitig mit anderen Störungen auftreten. Deswegen sollten die sozialen und umweltbezogenen Faktoren, die die negativen Effekte einer Krankheit verstärken, stärker berücksichtigt werden.

In dem Paper schlagen die Forschenden darum vor, beispielsweise in der Krankenhausaufnahme oder in Drogen- und Alkoholberatungsstellen routinemäßig nach problemhaften Spielverhalten zu screenen. Kinder von Problemspieler*innen sollten durch Routinescreenings im Kindeswohlsystem besser aufgefangen werden. Ziel müsse sein, Erkenntnisse der Glücksspielforschung in klare Richtlinien für Praktiker*innen in “syndemischen Problemvierteln” zu übersetzen. Das schütze Spieler*innen und ihre Familien.

Legalize it, auch beim Glücksspiel?

Seit dem 1. Juli 2021 gilt in Deutschland der neue Glücksspielstaatsvertrag. Damit gibt es bundesweit einheitliche rechtliche Strukturen. Zuvor war Online-Glücksspiel eine Grauzone und eigentlich nur in Schleswig-Holstein erlaubt.

In einem aktuellen Positionspapier fordern Glücksspielforschende und Interessenvertreter*innen, den neuen Glücksspielstaatsvertrag evidenzbasiert kritisch zu hinterfragen und zu bewerten. Sie schreiben, wissenschaftliche (Evaluations-)Befunde seien bisher kaum hinzugezogen worden. Das habe zur Folge, dass ein Großteil der Inhalte des Glücksspielstaatsvertrages 2021 auf Meinungen und Haltungen sowie anbieterseitigen oder parteipolitischen Interessen basiert und eben nicht auf unabhängigen Forschungserkenntnissen.

Mit dem Glücksspielstaatsvertrag wurde auch das Spieler*innensperrsystem OASIS initiiert. Es gibt Spieler*innen die Möglichkeit, sich nicht mehr nur in einzelnen Spielhallen oder landesweit zu sperren, sondern sich in ein bundesweites Sperrsystem eintragen zu lassen.

In der Studie “A Systematic Review of Land Based Self Exclusion Programs” haben Forschende rund um Roxana Kotter systematisch untersucht, wer von einem Selbstausschluss Gebrauch macht. Dabei nahmen sie demographische Faktoren, Spielverhalten und die psychische Gesundheit aus 19 internationalen Studien in den Blick und stellten fest:

  • Das Durchschnittsalter von Spieler*innen, die sich sperren ließen, variierte zwischen 38 und 52 Jahren.
  • In elf Datensätzen zeigt sich ein Überhang von Sperren männlicher Spieler. Daten aus Europa waren jedoch inkonsistent hinsichtlich der Geschlechterverteilung.
  • Die Abstinenzrate von Spieler*innen, die sich selbst ausschlossen, variierte zwischen 25 und 46 Prozent.
  • Ein breites Spektrum, zwischen 29 und 92 Prozent, gab an, ihr Spielverhalten nach Ablauf der Sperre reduziert zu haben. Maximal 12 Prozent berichteten von erhöhtem Spielverhalten.
  • Zwischen 8 und 59 Prozent gaben an, die Sperre gebrochen zu haben. Dabei zeigten die meisten Studien eine Sperrbruchrate von rund 30 Prozent.
Aktuelles

Was du sonst noch wissen musst

  • Das ZDF-Magazin-Royale hat sich in der Sendung vom 16. September mit den Spielmechaniken von Onlineglücksspiel beschäftigt. Jan Böhmermann zeigt, mit welchen Tricks Entwickler*innen Spieler*innen in die Sucht führen. Die Woche zuvor war das Thema der Sendung Zoonosen. Ebenfalls sehenswert.
  • Für Netzpolitik.org berichtet Anna Biselli über die Ausweitung algorithmischer Sprachauswertung von Geflüchteten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und was daran problematisch ist.
  • Um darüber nachzudenken, wie Medizin als eine Art Grenztechnologie genutzt wird, müssen wir nicht ins Ausland schauen. Manchmal lässt sich mit dem Blick auf andere allerdings klarer sehen. Christopher McMichael analysiert für Africa is a Country die Politik der Patholgisierung in Südafrika.
  • Im feministischen Onlinemagazin Our Bodies berichtet Silence Conrad von ihrer Alkoholsucht und warum die Normalisierung von Alkohol so nervt.
  • Aktuelle Berichte – wie hier bei ZEIT online – zeigen, dass die Zahl der Menschen in Deutschland, die von Armut betroffen oder bedroht sind, weiter steigt. Demnach ist mittlerweile mehr als jedes fünfte Kind armutsgefährdet. Wie Armut krank macht, zeigen wir hier. Was es für die Psyche bedeutet, in Armut aufzuwachsen, hat uns der Journalist und Autor Olivier David in diesem Interview erklärt.
  • Schulzeit, Herbstzeit, Läusezeit: Warum Kopfläuse nichts mit mangelnder Hygiene zu tun haben und wie man die lästigen Viecher wieder los wird, erklärt Marlene Riederer beim BR.
  • Die wenigsten der jungen Ärztinnen und Ärzte an der Charité in Berlin würden ihren Arbeitgeber weiterempfehlen, berichtet der Tagesspiegel. Anfang Oktober soll es demnach einen Ärzt*innenstreik geben.
  • Rassist*innen, Rechtsradikale und sogenannte Reichsbürger*innen gibt es auch beim Rettungsdienst, zeigen Recherchen von Sebastian Erb und Anne Fromm für die taz. Die Folgen: Patient*innen werden mitunter schlechter behandelt, Kolleg*innen gemobbt.
  • Unsere Kolleg*innen von MedWatch klären über gefährliche Heilsversprechen auf. Das machen sie richtig gut und frei zugänglich für alle Leser*innen. Damit das so bleiben kann, benötigen sie Unterstützung.
Ausblick

Vom 10. bis zum 20. Oktober findet wieder die Woche der Seelischen Gesundheit statt. Vergangenes Jahr führten wir mit dem Vorsitzenden des Aktionsbündnisses, Arno Deister, ein Interview und fragten unter anderem: “Was können Menschen, die im medizinischen oder sozialen Bereich tätig sind, dazu beitragen, um Stigmatisierung entgegenzuwirken?” Seine Antwort liest du hier.

Diese zweite Ausgabe stellt die Halbzeit unserer Reihe zum Thema Sucht dar. Gibt es Themen oder Fragestellungen, die wir uns noch unbedingt näher anschauen sollten? Schreib uns eine Mail.

Wusstest du, dass es bis Mitte September ganz einfach möglich war LSD im Internet zu bestellen? In unserer nächsten Ausgabe blicken wir auf die Welt der illegalen Substanzen. Warum bereiten Partydrogen beim Feiern und Tanzen Genuss? Und wo fangen sie an zu schaden? Kann es so etwas wie wohltuenden Konsum überhaupt geben? Maren steckt schon in der Recherche. Wenn es etwas gibt, das dabei nicht unter den Tisch fallen soll, lass es uns wissen.

Bis dahin grüßen euch in Umzugsstress und Herbstlaune
Sören und Maren

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen

Zusätzliches Material:

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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