Datum: 01.09.2022
Absender: mail@upstream-newsletter.de
Betreff: So ungleich ist Sucht
Upstream #17

Wie abhängig sind wir und wann ist’s eine Sucht?

So ungleich ist Sucht

Hallo!

In dieser und den folgenden drei Ausgaben geht es um Sucht. Ganz am Anfang unserer Recherche haben wir die Community auf Instagram gefragt, wonach sie süchtig ist. Einige Antworten kamen mit einem Augenzwinkern, etwa “Stricken” oder “Schokolade”. Es haben sich aber auch Menschen bei uns gemeldet, die von ernsthaften Süchten berichten.

Womit wir schon bei der ersten Frage sind: Wann ist eine Sucht ernsthaft? Ab wann werden Spaß und Genuss zu einem Problem oder einer Krankheit? Darüber geben wir einen Überblick.

Außerdem zeigen wir, wie Suchtproblematiken in unserer Gesellschaft verteilt sind: Wer ist süchtig? Wonach? Und schließlich schauen wir uns an, wie Sucht begegnet wird. Spoiler: In dem Fall, den wir betrachten, nicht ausreichend.

Wir wünschen dir viel Spaß beim Lesen! Wenn es dir geht wie uns und neue Antworten gleich die nächsten Fragen aufwerfen, dann teile uns doch mit, was du über das Thema Sucht erfahren möchtest. Dafür kannst du einfach auf diese Mail antworten.

Liebe Grüße
Sören und Maren

Takeaways

Das erwartet dich in dieser Ausgabe

  • Begriff erklärt: Was unterscheidet eine Sucht von unproblematischem Konsum oder Verhalten?
  • Schlaglichter: Verstehe anhand aktueller Daten, wie (und wie ungleich) Sucht- und Konsumproblematiken verteilt sind.
  • Hilfe suchen, wo andere Urlaub machen: Maren schaut nach Mecklenburg-Vorpommern. Dort gibt es bundesweit mit die meisten Suchterkrankungen und Todesfälle durch Alkohol – aber nur wenig Unterstützung.
  • Aktuelles: Wir blicken noch einmal auf Rassismus und Gewichtsdiskriminierung. Außerdem geht es um Pflege, solidarische Gastronomie und Drogen auf Tiktok.

In dieser Ausgabe geht es um Suchterkrankungen, Suchtverhalten und Suchtmittel. Vor allem Alkohol wird thematisiert, wir sprechen aber auch über andere Substanzen. Wenn du dich damit nicht gut fühlst, lies diesen Newsletter lieber nicht oder nicht alleine. Wenn du Unterstützung benötigst, um mit einer Suchtproblematik umzugehen, findest du sie zum Beispiel hier:

Begriff erklärt
Eine Dose mit Zuckerwürfeln auf pinkem Hintergrund. Rechts steht: Wann wird aus Genuss eine Sucht?ee

Wann wird “unbedenklich” zu “süchtig”?

Manche Dinge bereiten uns so viel Freude, dass wir immer wieder in ihren Genuss kommen wollen. Vielleicht ist es das Stricken, Bücher oder das Computerspiel, von dem wir nicht loskommen. Oder wir erzählen unseren Freund*innen, wir seien “voll süchtig nach dieser Tüte Mäusespeck”. Eine Sucht im medizinischen Sinne besteht hier allerdings nicht.

Nehmen wir Substanzen zu uns, die uns zwar schaden, aber auch Genuss bereiten, bedeutet das nicht automatisch, dass wir “krank” sind. Ein Kneipenabend, eine ausgelassene Partynacht oder eine Zigarette zum Kaffee mögen zwar nicht gesund sein, aber eine Krankheit oder Störung sind sie auch nicht. Welches Verhalten und Erleben medizinisch als Störung definiert ist, legt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Klassifikation ICD-11 fest. Darin heißt es:

“Diese Störungen sind in der Regel mit Stress oder Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verbunden.”

Kurz: Wir leiden darunter oder können unser Leben weniger gut meistern. Die WHO unterscheidet dabei zwischen Störungen durch Substanzgebrauch und Verhaltenssüchten. Vor allem die Definition der Verhaltenssüchte betont, dass ein Verhalten, das eigentlich einen Belohnungseffekt hat, ab einem gewissen Punkt Leiden verursache oder persönliche Funktionen beeinträgchtige.

Wie sehr bestimmt der Stoff das Leben?

Die Liste der Störungen durch Substanzmissbrauch ist lang. Alkohol steht ganz oben, gefolgt von Cannabis, Opioiden und weiteren Drogen. Damit eine Person als abhängig gilt, müssen laut ICD-11 mindestens zwei von drei Kriterien über mindestens ein Jahr hinweg erfüllt sein:

  • Kontrollverlust: Man hat nicht mehr unter Kontrolle, wann, wie und wie viel man konsumiert. Das kann auch damit einhergehen, dass man ein starkes Verlangen spürt, eine Substanz zu konsumieren.
  • Körperliche Folgen: Der Körper hat eine Toleranz aufgebaut, wegen der man immer mehr konsumieren muss. Hört man auf, die Substanz zu sich zu nehmen, bekommt man Entzugserscheinungen.
  • Stellenwert: Die Substanz und ihr Konsum nehmen einen immer wichtigeren Platz im Leben ein. Man vernachlässigt andere Lebensbereiche und nimmt hin, dass zum Beispiel in der Familie oder im Job Probleme entstehen.

Die Diagnose könne aber auch gestellt werden, wenn die Substanz über einen Monat oder länger annähernd täglich konsumiert wird.

Ist dir aufgefallen, dass die WHO in ihrem Diagnosekatalog von “Abhängigkeit” von Substanzen spricht, nicht von “Sucht”? Viele benutzen beide Worte synonym. Dabei gibt es einen kleinen Unterschied: Abhängigkeit bezieht sich auf die körperlichen und psychischen Symptome, während Sucht das gesamte Verhalten umfasst. Es geht also nicht nur darum, ob man eine Substanz braucht, sondern auch, wie man an sie herankommt und wie man sie konsumiert.

Gesundheitsgefahren ohne Sucht

Auch, wenn jemand nicht süchtig ist, können Verhaltensweisen oder Substanzgebrauch ein Gesundheitsrisiko sein. Die WHO verwendet dafür das Wort “gefährlich”. Der Gebrauch von Alkohol, Nikotin oder anderen Substanzen ist demnach gefährlich, wenn man sie so oft oder in so großen Mengen konsumiert, dass es medizinische Aufmerksamkeit erfordert. Das sei auch der Fall, wenn der Konsum mit weiterem Risikoverhalten einhergeht.

Computerspielen wird der WHO zufolge gefährlich, wenn man so oft oder so lange spielt, dass man andere Aktivitäten vernachlässigt und negative Folgen in Kauf nimmt. Ähnliches gelte für Glücksspiel und Wetten. Solche Konsum- und Verhaltensweisen würden zwar möglicherweise (noch) nicht die Kriterien einer Störung erfüllen, aber trotzdem Hilfe von Expert*innen erfordern.

Schlaglichter
Ungleichheit und Sucht

Sucht ist weit verbreitet – und ungleich verteilt

Wer wonach süchtig ist, ist nicht ganz leicht zu erheben, denn:

  • Sucht ist stigmatisiert. Nicht jede*r Betroffene erzählt in einer Befragung davon.
  • Die Suchthilfe kann nur von den Fällen berichten, die sie kennt.
  • Statistiken der Polizei sagen oft mehr über gemeldete Delikte und Strafverfolgung aus als über Sucht.

Darum schauen wir an dieser Stelle nur auf Daten aus der Bevölkerung und von Hilfsangeboten. Sie kommen der Lage vermutlich am nächsten. Und wir werfen einen Blick darauf, wie Armut und insbesondere Hartz-IV Konsum und Sucht beeinflussen.

Was konsumieren die Deutschen?

Der Epidemiologische Suchtsurvey ist eine repräsentative Erhebung unter deutschen Erwachsenen über den Konsum legaler und illegaler Substanzen. Im Jahr 2021 haben rund 9.000 Personen zwischen 18 und 64 Jahren teilgenommen. Sie sind zwischen Mai und September schriftlich, per Telefon und online zu ihrem Konsum von Tabak, Alkohol, illegalen Drogen und Medikamenten befragt worden. Das haben sie geantwortet:

Tabak: Mehr als jede*r Vierte raucht

Mehr als ein Viertel der Befragten hat geraucht. Die meisten von ihnen gaben an, Zigaretten, Zigarillos, Zigarren oder Pfeife zu rauchen (22,7 Prozent). Unter den Zigarettenraucher*innen konsumierte demnach jede*r Fünfte täglich mehr als 20 Zigaretten. Weitere 13,7 Prozent gaben an, täglich mindestens eine Zigarette zu rauchen. Als problematisch sei der Konsum von acht Prozent der Befragten eingestuft worden.

Alkohol: Wer trinkt, trinkt oft zu viel

Rund 70 Prozent der Befragten gab an, innerhalb des letzten Monats Alkohol getrunken zu haben. Jede*r Dritte von ihnen hat in dieser Zeit bei mindestens einer Gelegenheit fünf oder mehr alkoholische Getränke zu sich genommen. Das ist in der Erhebung als Rauschtrinken definiert. Problematischer Konsum, der mit einem spezifischen Test erhoben wurde und auf Abhängigkeit hindeutet, ist bei mehr als einem Sechstel aller Befragten festgestellt worden.

Illegale Drogen: Mehrheit konsumierte Cannabis

Gut zehn Prozent der Befragten haben innerhalb des letzten Jahres mindestens eine illegale Droge konsumiert. Mit Abstand am häufigsten (8,8 Prozent) handelte es sich um Cannabis. Drogen wie Amphetamin, Ecstasy, Kokain oder Crack wurden im einstelligen Prozentbereich oder seltener angegeben.

Medikamente: Schmerzmittel am häufigsten

Gut die Hälfte der Befragten hat dem Survey zufolge innerhalb des letzten Monats mindestens ein Medikament zu sich genommen, rund jede*r fünfte täglich. Am häufigsten sind demnach freiverkäufliche Schmerzmittel eingenommen worden. Ein problematischer Medikamentenkonsum wurde bei 5,7 Prozent der Befragten festgestellt.

Wer sucht sich Hilfe – und wofür?

Die Statistik der professionellen Suchthilfe wird jedes Jahr vom Institut für Therapieforschung erstellt und veröffentlicht. Im Jahr 2020 sind Daten aus 854 ambulanten und 135 stationären Einrichtungen der Suchthilfe in die Statistik eingeflossen.

Eine ambulante Betreuung haben demnach rund 190.000 Menschen begonnen und etwa 170.000 abgeschlossen. Eine stationäre Betreuung haben rund 26.000 Personen begonnen, etwa 29.000 haben sie abgeschlossen (die Zahl ist größer, weil rund 7.500 Klient*innen aus dem Jahr 2019 übernommen worden waren).

Die häufigste Hauptdiagnose in beiden Bereichen waren alkoholbezogene Störungen. Im ambulanten Bereich machten sie etwa die Hälfte aus, stationär mehr als 60 Prozent. Die zweitgrößte Gruppe waren Störungen mit Cannabinoiden, gefolgt von opioidbezogenen Störungen. Sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Suchthilfe waren unter den Klient*innen mehr als dreimal so viele Männer wie Frauen.

Du findest die Tabelle mit den Daten der professionellen Suchthilfe auch auf Datawrapper.

Sucht trifft nicht alle Menschen gleich

Die Zahlen der Suchthilfe zeigen, dass anscheinend deutlich mehr Männer von Suchterkrankungen betroffen sind als Frauen. Zudem war der Anteil der Arbeitslosen relativ hoch: In der ambulanten Versorgung etwa 30 Prozent, in der stationären fast 50 Prozent. Mehr als ein Drittel derjenigen, die stationäre Hilfe in Anspruch nahmen, erhielten Hartz-IV.

Der Suchtforscher Dieter Henkel hat 2016 untersucht, wie sich Suchterkrankungen bei Hartz-IV-Empfänger*innen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen unterscheiden. Dafür hat er Daten aus Gesundheits- und Suchtsurveys innerhalb der Bevölkerung ausgewertet. Das hat Henkel herausgefunden:

  • Alkoholkonsum war unter Hartz-IV-Empfänger*innen sehr unterschiedlich verteilt. Studien zeigten sowohl überdurchschnittlich hohe Quoten von Menschen, die keinen Alkohol trinken, als auch von Personen, die alkoholabhängig sind oder problematische Konsummuster haben.
  • Der Konsum illegaler Drogen war den Daten zufolge unter Hartz-IV-Empfänger*innen weiter verbreitet als unter Arbeitslosengeld-I-Empfänger*innen und Erwerbstätigen.
  • Hartz-IV-Empfänger*innen hatten im Vergleich zu anderen erhobenen Bevölkerungsgruppen die höchste Raucherquote. Bei Männern zeigte sich demnach sogar ein Armutsgradient: Je höher der Armutsanteil, desto höher die Prävalenzrate des Rauchens.
  • Ein problematischer Konsum von Medikamenten wie Beruhigungsmitteln ist bei Hartz-IV-Empfänger*innen deutlich häufiger diagnostiziert worden als bei ALG-I-Empfänger*innen und Erwerbstätigen.
  • Zwischen Armut, Arbeitslosigkeit und pathologischem Glücksspiel besteht den Studien zufolge ein signifikant enger Zusammenhang.

Henkel schlussfolgert, dass gezielte Prävention und Forschung hinsichtlich Suchtproblemen bei Hartz-IV-Empfänger*innen nötig seien. Vor allem aber müssten die Menschen Möglichkeiten haben, um die Armut zu überwinden.

Selbstversuch
Zitat von Birgit Grämke: Alkohol ist die Sucht Nummer Eins. — Birgit Grämke, Landeskooridinierungsstelle für Suchtthemen in Mecklenburg-Vorpommern

Hilfe suchen, wo andere Urlaub machen

Sucht und problematischer Konsum sind nicht nur innerhalb der Bevölkerung, sondern auch regional ungleich verteilt. Das ist mir, Maren, schnell aufgefallen, als ich angefangen habe, zum Thema Alkohol zu recherchieren. Sehe ich mir Karten an, schaue ich zuerst dorthin, wo ich lebe: nach Sachsen. Mein zweiter Blick geht dorthin, wo ich aufgewachsen bin: nach Mecklenburg-Vorpommern. Deshalb habe ich mir angeschaut, wie leicht beziehungsweise schwer es Alkoholsüchtigen fällt, in ländlichen Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern Unterstützung zu finden.

Laut einem Bericht der Barmer-Krankenkasse für das Jahr 2020 ist der Anteil der Alkoholsüchtigen in Mecklenburg-Vorpommern mit 21 je 1.000 Personen der zweithöchste in Deutschland nach Bremen (22 je 1.000). In den Vorjahren sah es kaum anders aus. Ein ähnliches Bild zeigt der Alkoholatlas aus dem Jahr 2017 für die Todesfälle durch Alkohol: Mecklenburg-Vorpommern hatte im bundesweiten Vergleich mit etwa 60 Männern und 16 Frauen pro 100.000 Einwohner*innen eine der höchsten Quoten.

Du findest die von uns erstellte interaktive Grafik, basierend auf Daten der Barmer-Krankenkasse, auch bei Datawrapper

Bei diesen Zahlen sollte es doch Projekte geben, die sich darum kümmern. Ich fange an, das Netz zu durchforsten – erfolglos. Das Spannendste ist ein Bericht des Tagesspiegels über das Dorf Serrahn, wo Alkoholsüchtige schon in der DDR respektvolle Unterstützung gefunden haben und sie noch heute bekommen. Abgesehen davon begegnen mir anstelle der zielgerichteten Prävention und Hilfen, auf die ich gehofft hatte, die immer gleichen Links zu Beratungsstellen.

Wo würde ich Hilfe finden?

Auch gut, denke ich, dann schaue ich dort. Was wäre, wenn ich in Mecklenburg-Vorpommern leben und Hilfe benötigen würde? Im Verzeichnis für Hilfsangebote bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen gebe ich als Suchkriterien meine frühere Postleitzahl ein, die 18233, dass ich im Umkreis von 100 Kilometern suche, aber gerne in M-V bleiben möchte und dass ich zum Thema Alkohol nach jeder Art von Hilfe Ausschau halte.

Das Ergebnis sind 28 Angebote, von denen die zwei nächsten in Wismar sind. Das ist gut 25 Kilometer entfernt. Angebot Nummer drei: Die Evangelische Suchtberatung in Bad Doberan, rund 20 Kilometer weit weg. Es folgen 25 weitere Angebote in 30 bis 90 Kilometer Entfernung. Manche davon sind Rehakliniken oder betreutes Wohnen, also eher nichts für ein Erstgespräch. Fast alle Beratungsstellen haben einen kirchlichen Träger. Dagegen habe ich nichts, aber es wundert mich. Schließlich sind laut Daten der Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche mehr als 80 Prozent der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern keine Kirchenmitglieder.

Die Karte zeigt das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Fünf Punkte sind markiert: zentral das Postleitzahlengebiet 18233, links davon Wismar (25km) und Schwerin (55km), rechts davon Bad Doberan (20km) und Rostock (35km). Die Entfernungen geben den Abstand zum Postleitzahlengebiet 18233 an.
Die naheliegendsten Suchtberatungsstellen sind nicht wirklich nahe gelegen.

Die LAKOST koordiniert Suchthilfe in Mecklenburg-Vorpommern

Aber ich lebe nicht mehr im Postleitzahlgebiet 18233, sondern in Leipzig. Darum verabrede ich mich mit Birgit Grämke zum Telefonieren. Sie ist stellvertretende Geschäftsführerin der Landeskoordinierungsstelle für Suchtthemen MV, kurz LAKOST, dort für die Suchtberatungsstellen und den Suchthilfebericht zuständig und kennt die Lage im Land. Alkohol, das sei die Sucht Nummer eins in Mecklenburg-Vorpommern, sagt Grämke. Von den rund 10.000 Menschen, die jedes Jahr eine der 25 Suchtberatungsstellen aufsuchen, kämen mehr als 6.000 wegen Alkohol. Im vergangenen Jahr seien es mehr als 6.500 gewesen.

Grämke bestätigt meine Einschätzung: Zwar seien die Hauptstellen der Suchtberatung gut im Land verteilt, aber eben vor allem in den Städten. Kleinere Orte seien zum Teil weit davon entfernt. “Für viele heißt das: Wenn ich um 10 Uhr einen Termin in der Suchtberatung habe, muss ich um 8 Uhr mit dem Bus losfahren. Dann gibt es aber nur einen Bus zurück und der fährt um 17 Uhr”, erklärt Grämke. Ob jemand dann zur Beratung gehe, sei fraglich, schließlich kämen auch noch die Fahrtkosten dazu. Und digitale Beratung? “Da haben wir das nächste Problem, dass wir Orte haben, die können noch nicht mal einen Film auf Youtube angucken, weil die Internetverbindung so schlecht ist.”

Dass die meisten Beratungsstellen kirchliche Träger haben, sei dagegen kein Problem: “In der Suchtberatung spielt der kirchliche Glaube gar keine Rolle.” Das dürfe er auch nicht, denn die Beratung müsse offen für alle sein. Sei sie das nicht, müsste die LAKOST bei entsprechenden Hinweisen eingreifen.

“Kampf gegen Windmühlen”

Ein wichtiges Thema neben der Beratung ist laut Birgit Grämke die Präventionsarbeit. Gerade an Schulen seien solche Angebote gefragt. Ganz verhindern könne man natürlich nicht, dass Jugendliche Alkohol trinken, “aber es geht auch darum, ihnen beizubringen, dass man den Krankenwagen ruft, wenn es jemandem schlecht geht.” Das komme gut an und ermögliche den jungen Menschen zudem, mit den Berater*innen zu sprechen, falls es bei ihnen oder in ihrem Umfeld Suchtprobleme gibt.

Doch auch der Präventionsbereich ist Grämke zufolge unterbesetzt. “Die Nachfrage kann gar nicht bedient werden, denn die Suchtberatungsstellen müssen ja auch noch Suchtberatung machen”, sagt sie. Eigentlich sei in jeder Stadt und jedem Kreis eine volle Stelle nötig, die sich nur um Prävention kümmern müsste.

Angesichts dieser vielen fehlenden Stellen blicke man bei der LAKOST eher besorgt auf eine mögliche Legalisierung von Cannabis: “Prävention ist im Moment, wie gegen Windmühlen zu kämpfen. Wir schaffen es ja schon bei Alkohol nicht. Wenn man das flächendeckend und mit Manpower machen würde, wäre viel mehr möglich.” Dafür brauche es allerdings Gelder und Strukturen.

Aktuelles

Was du sonst noch wissen musst

  • In Ausgabe 16 haben wir mit Maria González Leal über Gewichtsdiskriminierung und Rassismus gesprochen. Das Thema wird in der deutschsprachigen fettaktivistischen Community zu wenig beachtet, sagt Mary. Wir berichten über die Kritik an der Weight Stigma Conference, dass dort zu wenige BIPoC zu Wort gekommen sind.
  • Im Interview mit Mary haben wir einen Fehler gemacht und ihr Statement eigenmächtig gekürzt wiedergegeben. Was genau passiert ist, liest du hier.
  • In der familiären Pflege pflegen überwiegend Frauen ihre Eltern. In der Literatur heißt es, das “Töchterpflegepotential” nehme ab. Doch was sind wir unseren Eltern schuldig, wenn sie zum Pflegefall werden? Für Y-Kollektiv begleitet die Reporterin Lena Oldach Sandra bei der Pflege ihrer dementen Mutter.
  • “Das ist nicht nur Essen, das ist fast eine Bewegung”, sagt ein Besucher der Ada-Kantine in Frankfurt über die solidarische Gastronomie. In der taz-Reportage von Jonas Wagner erfährst du mehr über die Ada.
  • Auf TikTok präsentieren Minderjährige sich im Drogenrausch und tauschen nicht nur Erfahrungen mit Substanzen, sondern auch Kontakte zu Dealer*innen aus – alles ganz öffentlich. Isabell Beer und Désirée Fehringer haben für Strg_F in der Szene recherchiert. Wenn du lieber liest: In diesem Twitterthread berichtet Isabell Beer von den Ergebnissen der Recherche.
  • Der Offene Freizeittreff in Leipzig-Sellerhausen musste schließen, nachdem es dort zu Gewalt gekommen war. Nun fehlt den Jugendlichen, die an der Eskalation beteiligt waren, ein Rückzugsort. Maika Schmitt berichtet im Stadtmagazin kreuzer über den Kreislauf aus Benachteiligung und Gewalt.
  • Autismus bleibt bei Frauen bis ins Erwachsenenalter oft unerkannt. Für die Süddeutsche Zeitung sprechen Viola Koegst und Moritz Fehrle mit Forscher*innen und Betroffenen. Auch wir haben in unserer “Mental Health Literacy”-Ausgabe über atypische Symptompräsentation bei Depressionen geschrieben.
Ausblick

Schön, dass du dabei bist. Das war der Auftakt unserer Reihe zum Thema Sucht. Sollten dir beim Lesen Fragen aufgekommen sein, die wir uns unbedingt mal genauer anschauen sollten, dann schreib uns gerne eine E-Mail an mail@upstream-newsletter.de.

In der nächsten Ausgabe schauen wir uns Spielsucht genauer an. Was ist das Besondere an dieser Form von Sucht? Welche Rahmenbedingungen gibt es? Wie hängt Spielsucht mit Armut zusammen und was gibt Grund zur Hoffnung?

Neben unserer Arbeit an der nächsten Ausgabe, arbeiten wir weiterhin daran, unsere Website zu redesignen, damit du dich besser zurechtfinden kannst. Wenn du dir vorstellen kannst, die neue Seite für uns zu testen, melde dich doch gerne bei uns!

Wir wünschen dir noch ein paar schöne Spätsommertage!

Maren und Sören

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen

  • Henkel, D. (2016): Ein Überblick über empirische Daten zur Prävalenz des Substanzkonsums, des problematischen Glücksspiels und suchtförmiger Essstörungen bei Hartz-IV-Beziehenden. Suchttherapie, 17(3), 106–114. https://doi.org/10.1055/s-0042-109384
  • Niekrens, S. (2012): Definition und Differenzierung der Sucht. In: Sucht im Alter. Soziologische Studien, vol 40. Centaurus Verlag & Media, Herbolzheim. https://doi.org/10.1007/978-3-86226-898-6_5
  • Rauschert, C., Möckl, J., Seitz, N. N., Wilms, N., Olderbak, S., Kraus L. (2021): The use of psychoactive substances in Germany—findings from the Epidemiological Survey of Substance Abuse 2021. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 527–34. https://doi.org/10.3238/arztebl.m2022.0244
  • Schwarzkopf, L., Künzel, J., Murawski, M., Specht, S. (2022): Jahresstatistik 2020 der proifessionellen Suchthilfe. Hrsg.: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (2022). Lengerich. Pabst Science Publishers.

Zusätzliches Material:

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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