Datum: 25.11.2021
Absender: mail@upstream-newsletter.de
Betreff: Flüchten, ankommen, verzweifeln: Psychische Gesundheit von Geflüchteten
Upstream #8

Flucht – und dann?

Geflüchtete in psychischen Notlagen brauchen bessere Unterstützung

Wir müssten die Bilder des Leids an der Grenze zwischen Polen und Belarus aushalten, sagte vor kurzem Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. Das ist schwer, denn es sind Menschen zu sehen, die in eisiger Kälte und Elend ausharren oder mit Gewalt zurückgedrängt werden. Zu hören sind dabei immer neue Berichte von Toten.

Was für uns zumeist Bilder und Berichte sind, ist für die Menschen vor Ort Realität. Und nicht nur zwischen Polen und Belarus, auch anderswo an Europas Außengrenzen sterben Menschen. Wer es bis nach Deutschland schafft, hat nicht selten eine gefährliche Flucht hinter sich. Hinzu kommen traumatisierende Erlebnisse im Herkunftsland und die Sorge um Familie und Freund*innen. Wer es nach Deutschland schafft, landet aber oft auch erstmal in einer Erstaufnahmeeinrichtung. Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung haben Geflüchtete im Asylverfahren nicht. Darum haben wir gefragt, wer Menschen nach einer Flucht in seelischen Notlagen und bei psychischen Erkrankungen hilft und nach Ideen gesucht, um die Situation zu verbessern.

Vorab haben wir noch eine Frage an Sie, die uns schon eine Weile beschäftigt. In unseren bisherigen Ausgaben – und auch in dieser – sprechen wir uns mit förmlichem “Sie” an. In E-Mails mit einzelnen Leser*innen und auf Twitter wechselt die Anrede meist zum “Du”. Ja, wie denn nun? Das denken Sie sich möglicherweise auch manchmal. Was ist Ihnen denn lieber: “Du” oder “Sie”? Stimmen Sie bitte ab – wenn Sie möchten, auch anonym – und lassen Sie uns gerne auch per E-Mail Ihre Gedanken dazu wissen.

Bis dahin förmliche, aber nicht weniger herzliche Grüße,

Ihre Maren Wilczek, Anne Wagner und Sören Engels

Warum Ungleichheit krank macht – diese Frage geht uns alle an. Leiten Sie diesen Newsletter gerne an Ihre Freund*innen, Kolleg*innen oder Kommiliton*innen weiter! Hier können Sie Upstream abonnieren.
Takeaways

Das erwartet Sie in dieser Ausgabe

  • Interview: Geflüchtete im Asylverfahren können nicht einfach so eine Psychotherapie in Anspruch nehmen. Vivian Kalfa erklärt, wie groß die Versorgungslücke ist – und wie das Psychosoziale Zentrum für Migrantinnen und Migranten Sachsen-Anhalt versucht, sie zu schließen.
  • Schlaglichter: Seelische Gesundheit stärken – eine Aufgabe für die Gesellschaft
  • Praxistauglich: Diese drei Projekte beraten, empowern und kämpfen dafür, dass die Situation von Geflüchteten und Migrant*innen in Deutschland besser wird.

Ihnen geht es aktuell nicht gut? Hier finden Sie Hilfe:

Interview
Teaser für das Interview mit Vivian Kalfa

“Behandeln Sie die Menschen so, wie alle anderen auch”

Psychische Erkrankungen unterscheiden nicht nach Pass und Asylverfahren. Doch geflüchtete Menschen, deren Aufenthaltsstatus nicht gesichert ist, haben in Deutschland keinen Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung. Traumafolgestörungen, Depressionen, Angsterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen bleiben so unbehandelt. Wie schwierig es ist, die Menschen zu beraten, zu begleiten und nach einem erfolgreichen Asylverfahren in die Regelversorgung zu übermitteln, berichtet Vivian Kalfa vom Psychosozialen Zentrum für Migrantinnen und Migranten (PSZ) in Sachsen-Anhalt.

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Arbeit von der mit Menschen ohne Fluchterfahrung?

Zum einen sind die Themen andere: Schlimme Erlebnisse im Herkunftsland oder auf der Flucht, Angst um die Familie, die im Herkunftsland oder in Camps in Griechenland festsitzt. Zum anderen sind unsere Möglichkeiten viel geringer. Deutsche Patient*innen könnten wir leicht an geeignete Stellen weitervermitteln. Das ist für geflüchtete Menschen, je nach Aufenthaltsstatus, nicht möglich.

Was ist, wenn jemand stationäre Behandlung benötigt?

Wenn ein*e Klient*in sich nicht von Suizidalität distanzieren kann, weisen wir sie*ihn akut ein. Bei geplanten Einweisungen gibt es aber Hürden. Ein*e Psychiater*in muss einen Einweisungsschein erstellen und das Sozialamt muss dem zustimmen. Dann muss man eine Klinik finden. Es gibt zwar ein paar spezialisierte Kliniken, an die wir versuchen, unsere Klient*innen zu vermitteln. Aber bei vielen Kliniken haben wir nicht den Eindruck, dass ihnen geholfen ist, wenn sie dorthin kommen.

Warum können die Kliniken nicht helfen?

In Psychiatrien finden viele Therapien in Gruppen statt. Dadurch sind die Klient*innen isoliert, denn die meisten Kliniken arbeiten nicht mit Sprachmittler*innen. Es gibt Menschen, die Angst haben, nicht zu wissen was passiert, oder von ihrer Familie getrennt zu sein. Einige waren auch schon mal stationär und sagen: Auf gar keinen Fall, ich möchte das nie wieder erleben.

Gelingt es Ihnen, Klient*innen in das reguläre Versorgungssystem übermitteln, sobald deren Aufenthaltsstatus gesichert ist?

Wir versuchen es, haben aber eigentlich keine Kapazitäten dafür. Das ist unbefriedigend, denn wir wissen, dass sie nicht in der Regelversorgung ankommen. Oft werden sie weggeschickt, mit einer Therapeut*innenliste und einer Anleitung, wie sie einen Termin für eine Sprechstunde machen können. Wenn jemand einen Psychotherapieplatz in Magdeburg, Halle oder Merseburg findet, können wir Dolmetscher*innen vermitteln. Das geht aber nur vor Ort. Und die Psychotherapeut*innen müssen offen dafür sein. Oft läuft das sehr schleppend.

Viele Mediziner*innen und Psycholog*innen haben in ihrem Alltag wenig Kontakt zu Geflüchteten. Wie können sie sie trotzdem unterstützen?

Vor allen Dingen sollten sie Geflüchtete so behandeln, wie sie jeden anderen Menschen auch behandeln würden. Die Rassismuserfahrungen, die unsere Klient*innen schildern, sind erschreckend. Für uns ist es jedes Mal eine große Freude und Entlastung, wenn jemand bei Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen landet, bei denen man das Gefühl hat, sie kümmern sich.

Wir wollten noch viel mehr von Vivian Kalfa wissen: Wie genau funktioniert Sprachmittlung in der Psychotherapie? Welche Unterstützung bekommen die Unterstützer*innen, um mit den Themen rund um Flucht umzugehen? Die Antworten lesen Sie in der Langfassung dieses Interviews.

Schlaglichter
Teasergrafik mit Aufschrift Schlaglichter und symbolhafter Darstellung von zwei Papern

Seelische Gesundheit stärken – eine Aufgabe für die Gesellschaft

Wir haben Studien gewälzt, damit Sie es nicht müssen.

Volle Konzentration auf die Ressourcen

In einem Beitrag für die Zeitschrift Z’Flucht untersucht Lea-Marie Gehrlein die Bedeutung einer ressourcenorientierten Perspektive für die Situation von unbegleiteten Minderjährigen in der Phase nach der Flucht. Die Kinder und Jugendlichen sind nicht nur in einer besonders prägenden Phase von ihren Eltern getrennt, sondern sowohl während als auch nach der Flucht zahlreichen Stressoren ausgesetzt.

Die Prävalenzschätzungen für posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen fallen bei unbegleiteten Geflüchteten deutlich höher aus, als bei Kindern- und Jugendlichen, die in Deutschland geboren wurden. Gehrlein schreibt, es gebe empirische Hinweise, dass zumindest einem Teil der Kinder und Jugendlichen langfristig gelingt, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und sie sich in den Aufnahmeländern psychisch erholen können. Eine erfolgreiche Praxis müsse daher nicht nur die Risiken minimieren, sondern auch die Resilienz stärken. Dafür gelte es, neue Ressourcen, wie zum Beispiel Bildungsabschlüsse, aufzubauen und Ressourcenverluste, beispielsweise durch emotional verbundene Mentor*innen, zu kompensieren.

Dabei schlägt Gehrlein ein Modell vor, das zwischen verschiedenen Ressourcen unterscheidet: personalen (z.B. Copingstrategien), materiellen, sozialen, kulturellen (z.B. Sprache) und strukturellen (z.B. Ansprüche durch das Asylrecht). Beim Aufbau neuer Ressourcen sei wichtig, dass diese mit den persönlichen Zielen und Bedürfnissen der minderjährigen Geflüchteten überein stimmen und nicht nur aus Sicht der Aufnahmegesellschaft bedeutsam oder wünschenswert sind. Eine diskriminierende Aufnahmegesellschaft wirke diesem Ziel entgegen.

Willkommenskultur: Eine Haltung mit Wirkung

In der im Februar 2021 veröffentlichten Studie Die psychische Gesundheit von Geflüchteten in Deutschland untersuchen Alex Maximilian Keller und Rahim Hajji mit Hilfe einer Mediatoranalyse wie das Gefühl “willkommen zu sein” mit der psychischen Gesundheit zusammenhängt.

Doch was ist Willkommenskultur eigentlich? Die Autoren greifen dafür auf die Definition des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zurück und definieren Willkommenskultur als “aktive Hilfe und soziale Unterstützung zur Integration in gemeinschaftliche Unternehmungen und zur Vorbeugung sozialer Isolation”.

Die Studie basiert auf im Jahr 2018 erhobenen Daten von 4321 Geflüchteten, die zwischen 2013 und 2016 einen Asylantrag gestellt haben. Die Daten geben Hinweise auf einen indirekten Zusammenhang zwischen dem Gefühl “willkommen zu sein” und der psychischen Gesundheit, der über die Lebenszufriedenheit vermittelt wird. Die Autoren ziehen den Schluss, dass alle Maßnahmen, die geflüchteten Menschen das Gefühl geben in Deutschland willkommen zu sein, das Potential haben die psychische Gesundheit zu verbessern. Ihre Vorschläge: Willkommenskultur auf allen Ebenen fördern (gesellschaftlich, organisational, zwischenmenschlich und individuell), Quartiersmanagement und Integrationslotsen etablieren, die Wohnsituation durch dezentrale Unterbringung verbessern, (Aus-)Bildungschancen stärken, um gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Praxistauglich
Teasergrafik mit Aufschrift Praxistauglich und den Städtenamen Tübingen, Leipzig und Dresden

Support, Beratung und politisches Sprachrohr

Psychosoziale Zentren, die Geflüchtete psychologisch betreuen und ihnen mit Beratung zur Seite stehen, gibt es bundesweit. Sämtliche Standorte und weitere Informationen finden Sie über die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer. Wie wir im Interview mit Vivian Kalfa erfahren haben, können diese Zentren zwar hunderten Menschen pro Jahr helfen, arbeiten dabei aber auch an ihren Kapazitätsgrenzen.

An dieser Stelle stellen wir drei Initiativen mit besonderen Schwerpunkten vor. Wir haben sie ausgewählt, weil wir ihre Organisationsform und ihre politische Arbeit beispielhaft finden. Sie kennen weitere Projekte oder Gruppen, die die psychische Versorgung Geflüchteter verbessern? Erzählen Sie uns gerne per E-Mail davon!

Leipzig: Beratung für queere Geflüchtete

Laut UNO Flüchtlingshilfe werden Menschen in mehr als 70 Ländern der Welt aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert und kriminalisiert – bis hin zur Todesstrafe. In Leipzig finden queere Geflüchtete Begleitung, Beratung und Unterstützung beim Queer Refugees Network.

Seit Oktober 2021 gibt es dort außerdem das Queer Refugees Resilience Project, das gezielt bei Traumafolgestörungen hilft. „Im Rahmen unseres Projektes sollen Räume geschaffen werden, die auf eine Überwindung von Isolation, auf die Ermöglichung eines Austauschs auf Augenhöhe, auf individuelle und kollektive Stärkung sowie auf Empowerment und den Ausbau von Handlungsfähigkeit zielen“, sagt Mitarbeiterin Ena Ćumurović in einem Statement des Vereins RosaLinde Leipzig, zu dem das Projekt gehört.

Dresden: Support in der Abschiebehaftanstalt

Wenn die zuständigen Behörden glauben, dass ein ausreisepflichtiger Mensch sich einer Abschiebung entziehen könnte, kann dieser Mensch inhaftiert werden. In Dresden gibt es für diese Abschiebungshaft seit 2018 eine separate Haftanstalt. “Abschiebungshaft ist Haft ohne Straftat”, kritisiert der Sächsische Flüchtlingsrat. Studien zeigen, dass die Haftsituation krank macht, insbesondere Minderjährige sowie mittelbar oder unmittelbar betroffene Familienmitglieder.

Die Abschiebehaftkontaktgruppe bietet Menschen, die in Dresden in Abschiebehaft sind, Beistand, Beratung und Unterstützung. Darüber hinaus ist sie politisch aktiv. “Wir wollen ihre erzwungene Isolation aufbrechen, ihnen zuhören und für sie zum Sprachrohr werden, dort, wo ihre Rechtsansprüche, Interessen und Sorgen kein Gehör finden”, heißt es im Selbstverständnis der Gruppe.

Tübingen: Selbstorganisation und Empowerment

In der Tübinger Gruppe Black Visions and Voices sind Schwarze Menschen organisiert, die sich über Rassismuserfahrungen austauschen und einander bestärken. Das bedeutet mehr als “nur” Gespräche und Vernetzung: “Es ging immer um Rassismus. Und das ist immer ein politisches Thema”, erklärt Samantha, die Black Visions and Voices 2017 mitgegründet hat, im Interview mit dem Tübinger Campusmagazin Kupferblau. Die Gruppe ist divers und die Arbeit mit Geflüchteten steht nicht im Vordergrund. Die Selbstorganisation, das Empowerment und den politischen Anspruch finden wir aber ganz klar: Praxistauglich!

Aktuelles

Was Sie sonst noch wissen sollten

  • Das Jahr 2021 ist bereits jetzt als tödlichstes Jahr für trans, inter und nicht-binäre Personen in die Geschichte eingegangen: Weltweit sind zwischen Oktober 2020 und September 2021 375 ermordet worden. Beim Trans Day of Remembrance wurde ihrer gedacht, unter anderem in Berlin.
  • Unvollständige Impfpässe in Deutschland sind nichts gegen die weltweite Impflücke. Diese Datenanalyse der taz zeigt, wie ungerecht Corona-Impfstoff verteilt ist.
  • Am Mittwoch stellte die Ampelkoalition den Koalitionsvertrag vor. Was sich neben finanzieller Wertschätzung der Pflege, Streichung von Paragraph 219a, Gesundheitslots*innen, Cannabis-Legalisierung, verstärkter Prävention, aber auch einer “Rückführungsoffensive” darin findet, lesen Sie direkt im Dokument. Uns interessiert Ihre Meinung: Welche Maßnahmen im Koalitionsvertrag bedeuten für Sie den größten “Umbruch” für das Gesundheitswesen? Schreiben Sie uns an mail@upstream-newsletter.de.
Ausblick

Vor Weihnachten haben wir vor, noch ein weiteres Mal in Ihrem Postfach aufzuploppen. Da wir jedoch ungern das Jahr mit unserer geplanten Ausgabe zur Depression und Suizidalität beenden wollen, überlegen wir aktuell noch wie wir die kommende Ausgabe inhaltlich ausrichten.

Was wir allerdings schon verraten können ist, dass wir uns im kommenden Jahr neu sortieren wollen. Auch daher rührt die Frage zu Beginn der Mail, ob wir Sie Duzen dürfen. Wenn es etwas gibt, was Sie uns für unsere Überlegungen mit auf den Weg geben wollen, freuen wir uns über Ihre Mail an mail@upstream-newsletter.de.

Wir halten Sie auf dem Laufenden! Ehrenwort.

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen

Zusätzliches Material:

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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