Datum: 21.10.2021
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Betreff: Stigma: Verzerrte Bilder im Kopf
Upstream #7

Lassen Sie uns über mentale Gesundheit reden!

Warum wir unsere Einstellung zu psychischer Erkrankung überdenken müssen

Welche Bilder kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an mentale Gesundheit denken? Durchsucht man Bilddatenbanken danach, findet man zahlreiche Fotos von Menschen, die alleine irgendwo sitzen, traurig gucken und sich auffällig oft an den Kopf fassen, daneben Abbildungen großer Mengen von Pillen, zwischendrin aufmunternde Sprüche.

Einen anekdotischen Beleg dafür, wie klischeebehaftet unser Bild von mentaler Gesundheit und psychischer Krankheit ist, haben wir also schon mal. Jetzt wollen wir genauer hinsehen: Unter welchen sozialen Bedingungen entstehen psychische Erkrankungen? In was für einer Gesellschaft werden sie bewältigt? Kann unsere Sichtweise auf Krankheit zu besserer Gesundheit beitragen?

Ihre Maren Wilczek, Anne Wagner und Sören Engels

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Takeaways

Das erwartet Sie in dieser Ausgabe

  • Praxistauglich: Die Woche der Seelischen Gesundheit bekämpft seit 15 Jahren Stigmatisierung. Wir sprechen mit Arno Deister darüber, warum Reden hilft.
  • Begriff erklärt: Stigma, was ist das eigentlich?
  • Schlaglichter: Wie unfair sind psychische Erkrankungen?

Ihnen geht es aktuell nicht gut? Hier finden Sie Hilfe:

Praxistauglich
Teaser für den Praxistauglich-Text über die Woche der Seelischen Gesundheit

“Reden hilft”: Eine Woche zur Seelischen Gesundheit

Was sagt Ihnen das Datum 10. Oktober? Wenn Sie sofort an den Welttag der Seelischen Gesundheit gedacht haben, gehören Sie vermutlich zu denjenigen, die sich bereits genauer mit mentaler Gesundheit beschäftigen. Rund um den Welttag organisiert das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit deutschlandweit zahlreiche Veranstaltungen, um auf die Thematik aufmerksam zu machen.

Ein Ort, an dem Betroffene, Angehörige und Professionelle zusammenkommen

Im Interview erzählt uns der Vorsitzende des Aktionsbündnisses, Arno Deister, was die Woche der Seelischen Gesundheit so besonders macht: der enge Austausch von Betroffenen, Angehörigen und Professionellen. Die meisten Veranstaltungen seien so organisiert: trialogisch. Das sei wichtig, “denn wenn man verstehen will, was psychische Erkrankungen sind, ist es extrem hilfreich mit jemandem zu reden, der*die eigene Erfahrungen damit hat.”

Häufig sei es schwierig, betroffene Menschen zu erreichen, weil zu wenig Kommunikation stattfinde, so Deister. Die Hürde liege zumeist darin, dass Menschen, die keine solche Erkrankung haben, oft gar nicht wissen, wie sie mit Menschen mit psychischen Erkrankungen umgehen sollen oder können.

Aber wie Stigmatisierung entgegentreten?

Menschen, die im medizinischen oder sozialen Bereich tätig sind, könnten Hürden im vielfältigen Sinne abbauen. Arno Deister vergleicht die Situation mit der von Menschen mit körperlichen Behinderungen: “Für jemanden, der*die mit dem Rollstuhl fährt, ist es vielleicht die Bordsteinabsenkung. Bei psychischen Erkrankungen gilt es, die Hürden in der Kommunikation abzubauen.” Das gelinge, wenn man aufeinander zugehe und einander ernst nehme.

Um das aufeinander Zugehen zu erleichtern, hat das Aktionsbündnis zusätzlich die Initiative Grüne Schleife gestartet. Mit der Grünen Schleife solle einerseits Solidarität mit Menschen mit psychischen Erkrankungen ausgedrückt werden. Andererseits komme man so ins Gespräch. Und Reden helfe.

“Lernen Sie Menschen kennen mit psychischen Erkrankungen”, empfiehlt Arno Deister. Warum das dabei helfen kann, eigene Vorurteile zu überwinden, lesen Sie im Interview.

Begriff erklärt
Teaser für den Text über Stigmatisierungen

Stigmatisierung: Warum Schubladendenken schadet

Unser Gehirn arbeitet mit Kategorien. Das kann es einfacher machen, Situationen einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Oft ist die Welt aber zu komplex, um alles in Schubladen zu packen und mit Etiketten zu versehen. Und: Labels, die wir bewusst oder unbewusst vergeben, können schaden. Ein gravierendes Beispiel ist die Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen.

Mehr als ein Klischee

Durch das Label “psychisch krank” werden Menschen eine Reihe negativer Eigenschaften zugeschrieben – auch dann, wenn diese in der Realität nicht auf sie zutreffen. Diese Zuschreibungen sind nicht “bloß” Stereotype oder Vorbehalte. Sie gehen mit realer Diskriminierung einher.

Wir wollen an dieser Stelle keine stigmatisierenden Vorurteile wiederholen. Vermutlich kennen Sie viele davon ohnehin aus Ihrem sozialen Leben, eigener Erfahrung oder aus den Medien.

Einige der zugeschriebenen Eigenschaften rechtfertigen indirekt, die betroffenen Personen auszugrenzen oder brandmarken sie sogar als komplett inakzeptabel. Aufgrund des Stigmas werden Betroffene beispielsweise von anderen gemieden oder erleben Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Arbeitsplatz.

Stigmatisierte Menschen leiden doppelt

Psychisch kranke Menschen sind durch Ausgrenzung, Diskriminierung und Scham mehrfach belastet. Auch Selbst-Stigmatisierung spielt dabei eine Rolle. Schon vor 50 Jahren hat eine Studie gezeigt, dass Menschen Interaktion als schwieriger empfinden, sich weniger wertgeschätzt fühlen und ängstlicher und angespannter wirken, wenn sie glauben, dass ihr Gegenüber von ihrer psychischen Erkrankung weiß.

Selbst-Stigmatisierung kann außerdem dazu führen, dass psychisch Erkrankte keine Hilfe in Anspruch nehmen oder nur sehr spät und zögerlich Behandlung und Unterstützung suchen.

Muss man das so hinnehmen?

Gesellschaftliche Annahmen wandeln sich mit der Zeit. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2017 zeigt, dass das öffentliche Bild von psychiatrischer Behandlung sich in den letzten Jahrzehnten durchaus verbessert hat. Stigmatisierung bleibt dennoch ein reales und ernstzunehmendes Problem.

Eine Möglichkeit, ihr entgegenzuwirken, ist, die binäre Unterscheidung zwischen “psychisch kranken” und “psychisch gesunden” Menschen aufzuweichen. Wenn wir hier von “psychischer Erkrankung” und “mentaler Gesundheit” schreiben, kann das klingen, als wären sie gegensätzliche Zustände. Tatsächlich ist aber eine der Grundannahmen der klinischen Psychologie, dass es keine distinkte Unterscheidung, sondern fließende Übergänge gibt. Eine in diesem Jahr erschienene Metaanalyse weist darauf hin, dass diese Annahme der Kontinuität mit einem niedrigeren Stigma einhergeht.

Was denken Sie?

Uns fallen sofort Beispiele ein, wie die Gesellschaft und Medien zu Stigmatisierung beitragen – ebenso wie Situationen, in denen wir selbst zu sehr auf die Vorurteile in unseren Köpfen gehört haben. Haben Sie schon einmal erlebt, wie es ist stigmatisiert zu werden? Oder sich selbst dabei ertappt, zum Beispiel Menschen mit Depressionen in Schubladen zu stecken? Wie sind Sie dem begegnet? Wir würden uns freuen, von Ihren Erfahrungen zu hören. Antworten Sie uns auf diese E-Mail!

Schlaglichter
Teasergrafik mit Aufschrift Schlaglichter und symbolhafter Darstellung von Papern

Wie unfair sind psychische Erkrankungen?

Wir haben Studien gewälzt und nach Antworten gesucht.

Natürlich: Corona

Das Corona-Virus hat laut Francesco Bernardini, Luigi Attademo, Merrill Rotter und Michael Compton auf tragische Weise den Einfluss sozialer Determinanten auch auf die mentale Gesundheit gezeigt. Die Pandemie stelle neue Gegebenheiten her, beispielsweise durch den Verlust des Arbeitsplatzes und finanzielle Unsicherheit. Wie stark diese Folgen Menschen treffen, hänge allerdings auch von Determinanten ab, die bereits vor Corona bestanden haben. Die Risiken für die mentale Gesundheit können sich laut den Autoren gegenseitig verstärken, sind ungleich verteilt und werden auch in Zukunft bestehen. Um dem zu begegnen, sollten das öffentliche Gesundheitswesen und psychiatrische Vereinigungen weltweit zusammenarbeiten.

Mehr über Ungleichheit in der COVID-19-Pandemie erfahren Sie in der vierten Ausgabe von Upstream.

Probleme an der Wurzel lösen

Verschiedene Aufsätze und Kommentare betonen, wie wichtig es sei, die aus der COVID-19-Pandemie resultierenden Probleme upstream anzugehen. Anant Jani schreibt etwa im Journal of the Royal Society of Medicine: “Viele verlieren ihr Leben, aber noch viel mehr verlieren ihren Lebensunterhalt.” Seit Dekaden weisen Public Health-Wissenschaftler*innen politische Entscheidungsträger*innen auf die Bedeutung von Sozialen Determinanten der Gesundheit, wie Wohnen oder Bildung, hin. Laut Jani gibt es Parallelen zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Finanzkrise.

Ruth Shim und Michael Compton werden im Journal of Lifelong Learning in Psychiatry konkreter. Sie fordern von Menschen im Gesundheitswesen, aus ihrer traditionellen klinischen Rolle auszutreten, um Soziale Determinanten mentaler Gesundheit sowohl über Politik als auch über die Veränderung sozialer Normen zu adressieren. Wer die politische Landschaft betrete, sei insbesondere jetzt, in einer Zeit der die Gesellschaft gespalten ist, mit Herausforderungen konfrontiert. Aber auch gerade deshalb sei jetzt die richtige Zeit dafür.

Was tun, wenn niemand Hilfe sucht?

Nur 26 Prozent der Menschen mit Angststörungen in Deutschland haben sich Hilfe gesucht, so das Ergebnis der Studie Help-Seeking Behavior and Treatment Barriers in Anxiety Disorders. Sie hat die Daten von 650 Personen aus einer Stichprobe des Mental Health Moduls der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland untersucht. Demnach zogen 40 Prozent der Betroffenen überhaupt keine Hilfe in Erwägung. Unter denjenigen, die Hilfe gesucht haben, berichteten 31 Prozent von Hürden. Dazu zählte, dass man selbst verantwortlich dafür sei, sich Hilfe zu suchen, sowie der Glaube, die Behandlung sei ineffektiv, nicht verfügbar oder zu stigmatisierend.

Aktuelles

Was Sie sonst noch wissen sollten

  • Haben Sie Politiker*innen schon mal über ihre Depressionen reden hören? Martin Gommel spricht mit drei Politiker*innen über Belastbarkeit, die Angst ersetzt zu werden und fehlende Unterstützung.
  • Jedes Jahr infizieren sich laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehr als 200 Millionen Menschen mit Malaria, 400.000 von ihnen sterben daran. Jetzt empfiehlt die WHO erstmals einen Impfstoff dagegen. Felix Wellisch analysiert in der Zeit, welchen Erfolg die Impfung verspricht.
  • Ein Geflüchteter, der mit acht anderen in einer Unterkunft in Stade gelebt hat, ist in einer psychischen Notlage von der Polizei erschossen worden. Seine Mitbewohner haben erst Tage später Betreuung und eine neue Unterkunft bekommen. Michael Trammer berichtet in der taz.
Ausblick

Diese Ausgabe ist Start einer Reihe, die sich der mentalen Gesundheit widmet. Im kommenden Newsletter schauen wir genauer hin, wie es geflüchteten Menschen geht: In was für einem Umfeld verarbeiten sie die Flucht? Welche Grundlage haben sie, um ihr Leben selbstbestimmt und gesund zu gestalten? Welche Unterstützung erhalten sie bei psychischen Problemen?

Uns interessiert, was Sie interessiert. Daher möchten wir Sie bitten uns Fragen zu stellen. Was haben Sie sich schon immer über mentale Gesundheit gefragt? Auch wenn Sie eigene Erfahrungen gemacht haben, freuen wir uns von Ihnen zu hören. Schreiben Sie uns einfach eine E-Mail oder antworten Sie auf diese.

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen

  • Angermeyer, M.C., van der Auwera, S., Carta, M.G. and Schomerus, G. (2017): Public attitudes towards psychiatry and psychiatric treatment at the beginning of the 21st century: a systematic review and meta-analysis of population surveys. World Psychiatry, 16: 50-61. https://doi.org/10.1002/wps.20383
  • Bernardini, F., Attademo, L., Rotter, M., Compton, M. T. (2021): Social Determinants of Mental Health As Mediators and Moderators of the Mental Health Impacts of the COVID-19 Pandemic. Psychiatric Services 2021 72:5, 598-601. doi.org/10.1176/appi.ps.202000393
  • Gerrig, Richard J., Zimbardo, Philip G. (2008): Psychologie. München: Pearson Studium.
  • Jani A. (2020): Preparing for COVID-19’s aftermath: simple steps to address social determinants of health. Journal of the Royal Society of Medicine. 2020;113(6):205-207. doi:10.1177/0141076820921655
  • Peter, L., Schindler, S., Sander, C., Schmidt, S., Muehlan, H., McLaren, T., Tomczyk, S., Speerforck, S., Schomerus, G. (2021): Continuum beliefs and mental illness stigma: A systematic review and meta-analysis of correlation and intervention studies. Psychological Medicine, 51(5), 716-726. doi:10.1017/S0033291721000854
  • Schulze, L. N., Klinger-König, J., Stolzenburg, S., Wiese, J., Speerforck, S., Van der Auwera-Palitschka, S., Völzke, H., Grabe, H. J., Schomerus, G. (2020): Shame, self-identification with having a mental illness, and willingness to seek help in northeast Germany. Psychiatry Res. 2020 Jan 27;285:112819. doi:10.1016/j.psychres.2020.112819

Zusätzliches Material:

Schlagworte:

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