Datum: 22.09.2021
Absender: mail@upstream-newsletter.de
Betreff: Laut, voll, schnell: So stresst uns die Stadt
Upstream #6

Neurourbanistik: Was ist das und was bringt das? Willkommen zur sechsten Ausgabe von Upstream.

Wie Stadtstress unserer Gesundheit schadet

Städte können stressen – müssen sie aber nicht. Wie die Stadt sich auf das Erleben, Wahrnehmen und Fühlen auswirkt, damit beschäftigt sich die Neurourbanistik.

Auf Twitter und in Ausgabe 5 haben wir aufgerufen uns zu schreiben, wie Städte Sie stressen. Ihre Antworten zeigen, wie vielseitig das Thema ist: Verkehrssituationen, die ständige Aufmerksamkeit erfordern, Mietverhältnisse, die Sorgen bereiten, sowie große Entfernungen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz können beispielsweise Stress bereiten.

Bei uns hat leider die Recherche für diese Ausgabe für Stress gesorgt, denn alle Interviewpartner*innen, die wir angefragt haben, sind vor Redaktionsschluss noch in der Sommerpause gewesen. Darum finden Sie in dieser Ausgabe keine Gespräche. Wir hoffen, Ihnen dennoch spannende Einblicke in die Neurourbanistik geben zu können.

Ihre,
Maren Wilczek, Anne Wagner und Sören Engels

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Takeaways

Das erwartet Sie in dieser Ausgabe

  • Begriff erklärt: Was ist überhaupt Neurourbanistik?
  • Wissenschaftsexpress: Das PAKARA-Modell erklärt, wie sich Stadtarchitektur auf die Gesundheit auswirkt.
  • Studiensteckbrief: Was passiert im Gehirn eines älteren Menschen bei einem Spaziergang durch die Stadt?
  • Praxistauglich: Diese Initiativen begegnen dem Stress in der Stadt.
Begriff erklärt

Neurourbanistik schaut in die Köpfe von Stadtbewohner*innen

Die Straßenreinigung brummt am Morgen durch Ihr Viertel, die Hitze steht auf den glühenden Asphaltwüsten im Hochsommer, Menschen drängen dicht an Ihnen vorbei durch die Innenstadt. Während bei den einen die beschriebenen Szenen eher Stress auslösen, empfinden andere die Szenerie als stimulierend. Fest steht: Das Stadtleben ist eng mit unserem Wohlbefinden verknüpft. Diese wechselseitigen Verknüpfungen zu entschlüsseln, das hat sich eine relativ junge Disziplin auf die Fahne geschrieben: die Neurourbanistik.

Wie dicht muss es sein, damit es zu eng ist?

Insbesondere große Städte wachsen in Deutschland Jahr für Jahr. Dichte ist einer der Gründe für die Effizienz und den Erfolg von Städten gegenüber dem Land. Wenn Dichte allerdings zur Enge wird, belastet dies die allermeisten Menschen. Das Problem kennen wir aus dem Tierreich. Dort führt beispielsweise bei Legehennen eine nicht artgerechte Haltung dazu, dass sich die Tiere gegenseitig Federn auspicken.

Für gewöhnlich empfinden wir Menschen eine Armlänge zwischen uns als Wohlfühlabstand. Jeder Mensch empfindet jedoch ganz unterschiedlich, ob die Dichte unangenehm ist. Dabei spielt auch die individuelle kulturelle Prägung eine wichtige Rolle. Wird der persönliche Raum verletzt, sendet unser Gehirn, genauer gesagt, die Amygdala, Alarmsignale. Das “Crowding-Stress-Syndrom” beschreibt bei uns Menschen die Folgen von Dichte: Wir ziehen uns zurück, verlieren die Lust aufeinander und unsere Immunabwehr schwächelt.

Schematische Grafik: Unterscheidung von Öffentlichem Raum, Sozialem Raum, Persönlichem Raum und Intimraum. Stimmt Ihr Wohlfühlabstand mit den angegebenen Abständen überein?

Wenn Einsamkeit zur Isolation wird

Neben der sozialen Dichte beschäftigt sich die Neurourbanistik unter anderem auch mit Einsamkeit. Dabei ist Einsamkeit gar nicht so leicht zu fassen, weil sie einen sehr subjektiven Zustand beschreibt. Eine Person, die zurückgezogen lebt, fühlt sich womöglich weniger einsam, wenn sie das Alleinsein bevorzugt, als eine Person, die in der Großstadt lebt und mit etlichen Personen befreundet ist.

Der Einsamkeitsforscher John T. Cacioppo vergleicht den Zustand von Einsamkeit mit dem Gefühl von Hunger, Durst oder Schmerzen. Der Körper der betreffenden Person schicke ein biologisches Alarmsignal mit dem Ziel, den aktuellen Zustand zu verändern und so das Überleben zu sichern. Demgegenüber steht die soziale Isolation. Sie beschreibt den objektiven Mangel an engen sozialen Kontakten und das Fehlen von Teilhabe an der Gesellschaft. Beide Phänomene haben nachweislich einen negativen Effekt auf die Gesundheit und erhöhen die Sterblichkeit.

Die Lücke zwischen Wissenschaft und Politik

Dabei sind bestimmte Gruppen besonders von sozialer Isolation betroffen. Viele Migrant*innen beispielsweise trifft eine ganz besondere Form von Isolation: der soziale Ausschluss. In dem Buch Stress and the City beschreibt Mazda Adli den sozialen Ausschluss “als Folge mangelnder Integration, etwa wenn in der aufnehmenden Gesellschaft Fremdenangst herrscht und das Misstrauen Zuzüglern oder Ausländern gegenüber groß ist.”

Dass Einsamkeit und soziale Isolation Folgen für unsere Gesundheit haben, ist mittlerweile Allgemeinwissen. In Großbritannien gibt es deswegen bereits seit 2018 ein Einsamkeitsministerium. In Deutschland sieht man darin hingegen keine Notwendigkeit.

Ziel der Neurourbanistik ist, das Wissen über die öffentliche mentale Gesundheit interdisziplinär mit der Stadtplanung zu verbinden. Das finden wir einen spannenden Health-in-all-Policies-Ansatz. Aber ob es für die politische Umsetzung ein eigenes Ministerium bedarf? Was meinen Sie? Antworten Sie uns gerne per Mail auf den Newsletter.

In Deutschland wird die Neurourbanistik vor allem vom gleichnamigen Interdisziplinären Forum Neurourbanistik e.V. unter der Leitung von Mazda Adli vorangebracht. Vor zwei Jahren veröffentlichte der Verein die sogenannte Charta der Neurourbanistik. Gerne hätten wir mit einer Person aus dem Verein gesprochen. Das war allerdings bis zum Redaktionsschluss nicht möglich.

Wissenschaftsexpress
Teasergrafik für den Text über das PAKARA-Modell. [...]

Das PAKARA-Modell: So wirkt die Stadt auf unsere Gesundheit

Auch wenn die Neurowissenschaften immer bessere Methoden entwickeln: Im Alltag können wir einander nicht ins Gehirn gucken. Das PAKARA-Modell ist ein Ansatz, der das fürs erste auch nicht erfordert. In unseren Augen kann es gut zum Verständnis dafür beitragen, wie städtische Umgebung die Psyche und die Gesundheit beeinflusst. Die Architekturpsychologinnen Tanja Vollmer, Gemma Koppen und Katharina Kohler haben das an der TU München entwickelte Modell im Juni 2020 im Bundesgesundheitsblatt vorgestellt.

Was heißt “PAKARA”?

Das PAKARA-Modell beschreibt Umwelteinflüsse, die direkt auf die Gesundheit einwirken. Im Modell der sozialen Determinanten der Gesundheit liegen sie nah beim Individuum. Architektonische Interventionen können drei Funktionen haben, die namensgebend für das Modell sind:

  • PA: Präventive Architektur (vorbeugend)
  • KA: Kurative Architektur (heilend)
  • RA: Rehabilitative Architektur (stabilisierend)

Vollmer, Koppen und Kohler gehen von drei “zentralen gesundheitsdefinierenden Grundbedürfnissen” aus, die individuell ausgeprägt sind: Stimulation, Identifikation und Privatheit. Stadtarchitektur kann diese Bedürfnisse nicht nur erfüllen oder nicht, sondern sie auch übersättigen.

Stimulation

Die Autorinnen machen fünf Faktoren für Stimulation aus: Kontaktpflege, Aktivität, Wahrnehmung, Lern- und Hilfsbereitschaft. Werden diese erfüllt und angeregt, wirke das positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden. Eine Übererfüllung, beispielsweise eine sehr große Menge sozialer Kontakte, oder Architektur, die zwar originell und spannend ist, aber permanent große Orientierungsleistung fordert, kann Stress bedeuten.

Identifikation

Fühlen Sie sich mit dem Ort verbunden, an dem Sie leben? Eine hohe Identifikation bedeutet laut den Autorinnen auch höhere Lebensqualität und -zufriedenheit und eine stärkere Verbindung zur Nachbarschaft. Ist diese Verbindung nicht da, könne das soziale Engagement sinken, während Gleichgültigkeit und Aggression steigen. Zu viel des Guten schlage jedoch ins Gegenteil um: Übersteigerte Identifikation kann zur Ausgrenzung derjenigen führen, die nicht zur wahrgenommenen Gemeinschaft gehören.

Privatheit

Ob Spielplatz oder Parkbank, in der Stadt müssen wir Räume häufig mit anderen Menschen teilen. Hier entstehe ein Konflikt zwischen Privatheit und Freiraum, so die Autorinnen, der besonders für “konfliktmeidende Menschen [...] psychisch belastend” sein kann. Wenn es an Privatheit fehlt, mangele es auch an Rückzugsraum und Kontrolle. Zu viel Privatheit führe dagegen zu Anonymität und sozialer Isolation.

Was meinen Sie?

Natürlich können wir Modelle wie dieses im Newsletter nur verknappt darstellen. Den vollständigen Artikel finden Sie im Bundesgesundheitsblatt. Uns hat das Modell einen verständlichen Zugang zum Thema eröffnet, den wir auch persönlich gut nachvollziehen können. Wie geht es Ihnen? Was halten Sie von dem Modell? Kennen Sie eigene oder empirische Beobachtungen zu diesem Thema? Antworten Sie uns gerne per E-Mail.

Studiensteckbrief
Grafik mit zentralem Screenshot des Papers 'The impact of walking in different urban environments on brain activity in older people'

Gestresst und verunsichert im Alter?

Publikation: Cities & Health
Autor*innen: Ein internationales Forscherinnenteam um Chris Neale
Gegenstand: Welchen Einfluss hat das Durchqueren unterschiedlicher urbaner Räume auf die Gehirnaktivität alter Menschen?
Methode: Die 95 Studienteilnehmenden zwischen 65 und 92 Jahren spazierten in Edinburgh durch unterschiedliche urbane Räume: belebt, beruhigt und begrünt. Dabei wurde mit einem mobilen Elektroenzephalogramm (EEG) die Alpha- und Beta-Aktivität ihres Gehirns gemessen.
Zeitraum: Die Studie wurde im Juni 2019 veröffentlicht.
Hintergrund: Vereinfacht gesprochen, ist erhöhte Alpha-Aktivität des Gehirns mit Entspannung, Beta-Aktivität dagegen mit Aufmerksamkeit und Wachsamkeit bis hin zu Stress verbunden. In vorangegangenen Studien konnte mit Simulationen und bei jungen Menschen nachgewiesen werden, dass die Umgebung die Gehirnaktivität beeinflusst. Diese Studie untersucht die Effekte in der realen Umwelt und bei alten Menschen.
Ergebnis: Bei Spaziergängen in ruhiger und grüner Umgebung wiesen die Proband
innen eine geringe Beta-Hirnaktivität auf als in belebten Straßen. Die erhöhte Alpha-Aktivität, die die Forschenden bei begrünter und beruhigter Umwelt vermutet haben, konnten sie nicht nachweisen.
Gut zu wissen: Spaziergänge verbinden körperliche Aktivität mit Entspannung und können Aufmerksamkeitskapazität wiederherstellen, die für andere Aktivitäten gebraucht wird und die mit zunehmendem Alter sinkt. Trubelige Städte können jedoch stärker fordern als entspannen. Das könne dazu führen, dass alte Menschen sich unsicherer in ihrer Umgebung bewegen oder weniger am Leben in der Stadt teilhaben, so die Forschenden. Angesichts von Bevölkerungsprognosen, die vorhersagen, dass 2050 ein Drittel der Menschen in Europa über 60 Jahre alt sein wird, sei der Fokus auf alte Menschen besonders relevant.

Praxistauglich
Teaser für ...

Wir stellen vor: Drei Initiativen für gesündere Städte

  • Pop-up in der Innenstadt: Die Stadt Ludwigsburg plant eine krisenfeste Zukunft. Mit einem Zuschlag im Rahmen des Projektaufrufs “Post-Corona-Stadt” der Nationalen Stadtentwicklungspolitik wurde beispielsweise ein Parkplatz temporär mit Rollrasen begrünt und als Begegnungsraum konzipiert. Weitere Orte für Kommunikation, Sport und Kultur sollen entstehen und für mentalen Ausgleich sorgen.
  • Macht Ihnen Fahrradfahren in der Stadt Spaß? Oder empfinden Sie dabei Stress? Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) erhebt seit 2005 die Zufriedenheit von Radfahrenden. Im vergangenen Jahr haben nur 19 Städte eine bessere Notenbewertung als 3 erhalten. Wie gut Ihre Stadt da steht, verrät diese interaktive Karte.
  • Fassadenbegrünung kann das Stadtklima verbessern und für Erholung sorgen. Und sie kann mehr sein als nur Efeuranken. Der Botaniker Patrick Blanc lässt weltweit vertikale Gärten entstehen. Schöne Aussichten – aber warum nur an Hochglanzfassaden?
Aktuelles

Was Sie sonst noch wissen sollten

  • Nicht nur Menschen leiden unter Stress in der Stadt. Auch Bäume sind zunehmend Stressfaktoren ausgesetzt. Das zeigt das Projekt Stadtgrün 2021.
  • Während wir in Deutschland über die vierte Welle als Welle der Ungeimpften sprechen, scheinen wir zu vergessen, dass es einen großen Teil der Weltbevölkerung gibt, die im Gegensatz zu europäischen Bürger*innen kaum Zugang zu Impfstoff hat. Im Newsletter Geneva Health Files analysiert Priti Patnaik (auf Englisch) Deutschlands Opposition gegenüber der Freigabe von Patenten auf den Impfstoff.
  • Am 26. September ist Bundestagswahl. Trotz Pandemie und Pflegestreik stand das Thema Gesundheit im Wahlkampf selten im Vordergrund. Mit dem Pfleg-O-Mat des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe können Sie prüfen, ob die Wahlprogramme zu Ihren Vorstellungen von guter Pflege passen.
Ausblick

Welche Themen finden Sie wichtig für Upstream? Seit unserer ersten Ausgabe stellen wir Ihnen diese Frage immer wieder. Eine der häufigsten Antworten: psychische Krankheiten und die Bedingungen, in denen sie entstehen, aber auch bewältigt werden können. In Ausgabe 7 widmen wir uns endlich diesem Thema. Haben Sie Hinweise, was wir beachten sollten? Kennen Sie Ansätze, Forschung oder Initiativen, die Sie mit den anderen Upstream-Leser*innen teilen möchten? Dann freuen wir uns über eine E-Mail von Ihnen.

Selbstverständlich können Sie uns auch gerne schreiben, wenn Sie Feedback oder neue Themenideen für uns haben oder einfach nur ins Gespräch kommen möchten.

Spätestens am 21. Oktober lesen Sie wieder von uns!

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen

  • Adli, M., Berger, M., Brakemeier, E.-L., Engel, L., Fingerhut, J., Gomez-Carrillo, A., … Stollmann, J. (2017). Neurourbanism: towards a new discipline. The Lancet Psychiatry, 4(3), 183–185. doi:10.1016/s2215-0366(16)30371-6
  • Adli, Mazda (2017): Stress and the City. Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind. München
  • Brichetti, K., Mechsner, F. (2019): Heilsame Architektur. Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen. Bielefeld. transcript Verlag.
  • Cacioppo, J. T., Cacioppo, S., & Boomsma, D. I. (2014). Evolutionary mechanisms for loneliness. Cognition & emotion, 28(1), 3–21. https://doi.org/10.1080/02699931.2013.837379
  • Forum Neurourbanistik e.V. 2020. Charta der Neurourbanistik. <https://neurourbanistik.de/charta-der-neurourbanistik/>. (zuletzt abgerufen am 22.09.2021)
  • Kennedy, D. P., Gläscher, J., Tyszka, J. M., & Adolphs, R. (2009). Personal space regulation by the human amygdala. Nature neuroscience, 12(10), 1226–1227. https://doi.org/10.1038/nn.2381
  • Neale, C., Aspinall, P., Roe, J., Tilley, S., Mavros, P., Cinderby, S.: The impact of walking in different urban environments on brain activity in older people. In: Cities & Health, 4:1, 94-106. https://doi.org/10.1080/23748834.2019.1619893
  • Vollmer, T. C., Koppen, G., Kohler, K. (2020): Wie Stadtarchitektur die Gesundheit beeinflusst: das PAKARA-Modell. In: Bundesgesundheitsblatt 2020, 63:972-978. https://doi.org/10.1007/s00103-020-03188-7

Bildcredits

Für das Praxistauglich-Mashup haben wir Bilder von benjamin stollenberg | fotografie und LWG Bayern verwendet.

Schlagworte:

Lass uns gemeinsam den gesundheitlichen Auswir­kungen von Ungleichheit auf den Grund gehen.

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