Corona: Die Pandemie ist vorbei! Ja? Nein, doch nicht. | Upstream
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Takeaways

Das erwartet Sie in dieser Ausgabe

  • Begriff erklärt: Wir erklären, warum der Syndemie-Begriff hilft eine neue Perspektive auf COVID-19 zu entwickeln.
  • Interview: Wir sprechen mit Claudia Hövener vom Robert Koch-Institut über Risikofaktoren, Schutz und Ungleichheit in der Pandemie.
  • Schlaglichter: Drei Studien zeigen, welche ungleichen Risiken die Gefahr einer COVID-19-Erkrankung erhöhen.

Wollen Sie wirklich noch einen Text über COVID-19 lesen?

Die Pandemie ist vorbei! Ja? Nein, doch nicht.

Wir haben an dieser Ausgabe gezweifelt. Doch dann stießen wir auf immer mehr Berichtenswertes, was uns die Pandemiemüdigkeit vertrieben hat. Zudem steigen die Fallzahlen, was uns zeigt, dass wir auch geimpft und beim Eisessen im Sonnenschein immer noch mit Corona leben.

Die WHO äußerte erst kürzlich Bedenken, dass die Pandemie fälschlicherweise als “coming to an end” dargestellt würde. Dabei sei sie das beileibe nicht. Wir prüfen das und versuchen einen neuen Blick auf das Themenfeld Corona zu werfen.

Falls Sie Upstream zum ersten Mal lesen: Hier schreiben Sören Engels, Anne Wagner und Maren Wilczek, Journalismus- und Medizinstudierende der Universität Halle. Schön, dass sie mitlesen!

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Begriff erklärt

Teasergrafik mit zentralem Text: (klein) Begriff erklärt. (groß) Syndemie. Die rot gefärbte Silbe Syn überdeckt dabei die durchgestrichene Silbe Pan.

Warum die Pandemie auch eine Syndemie ist

Was denken Sie, wie oft haben Sie im vergangen Jahr das Wort Pandemie gehört, gelesen oder selbst gesagt? Allein in dieser Ausgabe kommt es elf mal vor. Der Begriff Syndemie begegnet uns dagegen viel seltener. Dabei treffe er gut auf das aktuelle Geschehen zu, argumentieren Wissenschaftler*innen und Mediziner*innen.

Mehr als nur das Infektionsgeschehen

Während die Pandemie die weltweite Verbreitung einer Infektionskrankheit beschreibt, umfasst die Syndemie das gemeinsame Auftreten von mindestens zwei Krankheiten, die sich innerhalb bestimmter sozialer Kontextfaktoren anhäufen. Dieses Zusammenspiel hat wiederum negative Auswirkungen auf die betroffenen Bevölkerungsgruppen und verschärft Gesundheitsprobleme.

Vor allem der Medizinanthropologe Merill Singer, der in den 1990er Jahren AIDS-Erkrankungen in Zusammenhang mit anderen Krankheiten, Drogenabhängigkeit und sozialen Faktoren erforscht hat, hat den Begriff der Syndemie geprägt. Ihm zufolge sei es für Prognose, Behandlung und Gesundheitspolitik wichtig, das Zusammenspiel von Krankheiten und sozialen Determinanten zu verstehen.

COVID-19 als Syndemie verstehen

Bei COVID-19 wirken eine Infektionskrankheit, Vorerkrankungen und soziale Determinanten zusammen. Der Begriff Syndemie sei zutreffend, argumentiert Richard Horton, Chefredakteur des Lancet – und das Verständnis wichtig, um angemessen auf das Virus und die weltweit ungleichen Gesundheitsrisiken reagieren zu können.

Clare Herrick, Professorin für Geographie und Global Health am King’s College London, kritisiert in einem Artikel, dass oft vergessen werde, dass viele der Risikofaktoren einer COVID-19-Erkrankung nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern aus politischen und gesellschaftlichen Bedingungen heraus entstanden sind. “Covid-19 als Syndemie zu verstehen heißt vielmehr, die sozioökonomischen Determinanten der Pandemie und ihrer Folgen anzuerkennen”, sagt Dieter Müller von medico. In diesem Interview erklärt er, weshalb Impfstoffe alleine nicht reichen, um das Corona-Virus zu besiegen.

Was denken Sie?

Eine Leserin, die Ihre Forschung mit uns geteilt hat, hat uns dazu gebracht, den Begriff der Syndemie genauer zu beleuchten. Solche Hinweise, Tipps, Anregungen und Diskussion sind wichtig, damit Upstream ein lesenswerter Newsletter ist. Bringen auch Sie sich gerne ein! Wir freuen uns über Antworten auf diese E-Mail oder Gespräche auf Twitter.

Interview

Teaser für das Interview mit Claudia Hövener über Covid-19 und Soziale Determinanten. Oben rechts: Im Interview. Claudia Hövener. Unten rechts: Gesundheitswissenschaftlerin. Robert Koch-Institut, Berlin Links: Potrait von Claudia Hövener.

Ungleichheit gibt es auch ohne Virus

COVID-19 trifft nicht alle Menschen gleich. Dass Risikofaktoren die Gefahr von Erkrankungen erhöhen, ist für Claudia Hövener nichts Neues. Die Gesundheitswissenschaftlerin leitet das Fachgebiet Soziale Determinanten am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin und ist für die Studie Corona Monitoring lokal verantwortlich. Seit Mai 2020 erheben sie und ihre Kolleg*innen Daten zu Seroprävalenz an vier Orten in Deutschland: Kupferzell in Baden-Württemberg, Bad Feilnbach und Straubing in Bayern und Berlin-Mitte. Wir haben mit ihr über Ungleichheit (nicht nur) in der Pandemie gesprochen.

Frau Hövener, was sind Risikofaktoren einer Corona-Infektion?

Claudia Hövener: Risikofaktoren beeinflussen zum einen die Schwere der Erkrankung. Wenn ich eine Vorerkrankung habe, dann ist das Risiko größer, dass ich einen schweren Krankheitsverlauf erleiden werde. Zum anderen geht es um die direkte Exposition: Arbeite ich in der Pflege oder im öffentlichen Nahverkehr? Oder war ich auf dem Kirchenkonzert in Kupferzell? Des Weiteren gibt es strukturelle Risikofaktoren, beispielsweise Armut. Das kann zum Beispiel am Wohnumfeld liegen, an prekärer Beschäftigung, oder am Mangel der Möglichkeiten, sich individuell zu schützen. Gerade in der zweiten Welle haben wir gesehen, dass ärmere Menschen häufiger betroffen waren.

Konnten Sie diese strukturellen Risikofaktoren auch vor Ort feststellen?

Hövener: Im Corona-Monitoring lokal kaum. Wenn wir aber nicht auf Individualdaten, sondern auf Regionaldaten schauen, dann sehen wir, dass deprivierte Landkreise eine höhere Inzidenz und eine höhere Mortalität haben.

Spielen die beobachteten Risikofaktoren auch außerhalb der Pandemie eine Rolle?

Hövener: Ja. Einer der eindrücklichsten Befunde ist, dass Menschen in Armut, mit einem geringeren Sozialstatus, bis zu zehn Jahre kürzer leben als Menschen in der höchsten Statusgruppe. Menschen mit einem geringeren Sozialstatus sind häufiger von chronischen Erkrankungen wie Herzerkrankung, Diabetes, COPD oder von Depressionen betroffen. Das ist ein intersektionales Thema, das nicht nur die Gesundheit betrifft, sondern alle Lebensbereiche, zum Beispiel die Arbeitswelt, Stadtentwicklung oder Wohnraum. Deswegen ist es nicht so einfach, das Thema zu adressieren. Da brauchen wir die Unterstützung verschiedener Akteur*innen.

An die Medizin adressiert: Welche Handlungsmöglichkeiten sehen Sie für beispielsweise Ärzt*innen und Pflegende?

Hövener: Ich glaube, es braucht eine gewisse Sensibilität auf allen Ebenen. Es ist wichtig, die Community und die Betroffenen selbst einzubinden, um zu verstehen, was sie wirklich brauchen. Es geht nicht darum, die Menschen als Opfer zu sehen, sondern Empathie zu haben, dass es für sie schwer ist, sich aus ihrer sozialen Lage zu befreien. Als Gesellschaft haben wir eine Verantwortung, sie zu befähigen und ihnen zu helfen. Ärzt*innen und Pflegende haben die Möglichkeit, an Angebote zu verweisen, die es vor Ort gibt, zum Beispiel Sozialarbeit oder Angebote in den Quartieren. Krankenhäuser sind ja oft lokal vernetzt. Da lässt sich viel tun, um Angebote zu schaffen.

→ Das Interview mit Claudia Hövener wurde für den Newsletter gekürzt. Welche Risiko- und Schutzfaktoren die Gesundheitsforschenden des RKI feststellen konnten und was das für die Praxis bedeutet, erfahren Sie in der Langfassung.

→ Wenn Sie sich genauer mit dem Zusammenhang von Armut und Gesundheit beschäftigen wollen, ist unsere zweite Ausgabe, zur Frage warum arme Menschen früher sterben, ein guter Einstieg.

Schlaglichter

Grafik mit Dachzeile “Schlaglichter” und Überschrift “COVID-19 und soziale Ungleichheit

Wer leidet besonders unter Corona?

Dieser Abschnitt ist etwas für diejenigen unter unseren Leser*innen, die sich intensiver mit den Folgen von Ungleichheit und COVID-19 beschäftigen wollen. Wir haben Studien gesichtet und möchten Ihnen drei davon vorstellen.

Jede zweite Person hat ein erhöhtes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf getragen

Welche Faktoren erhöhen das Risiko, dass eine COVID-19-Erkrankung schwer verläuft? Das Robert Koch-Institut hat im Februar 2021 eine Auswertung der Geda 2019/2020-EHIS-Studie veröffentlicht. Ergebnis der telefonischen Befragung von 23.001 in Deutschland wohnhaften Menschen über 15 Jahren zwischen erster und zweiter Welle: 51,9 % haben ein Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf.

Das Risiko ist regional und entsprechend der Bildung ungleich verteilt. In den neuen Bundesländern und im Saarland ist der Anteil der Risikogruppe höher als beispielsweise in Bayern. Rund 70 % der Personen mit geringer Bildung gehören der Risikogruppe an, bei den Menschen mit hoher Bildung sind es nur 40 %. Relevante Vorerkrankungen wie Herzinsuffizienz, Demenz oder Krebserkrankungen wurden nicht berücksichtigt.

Marginalisierte Communities sterben häufiger aufgrund von COVID-19 (England)

Schwarze Menschen und People of Color haben ein höheres Risiko, an COVID-19 zu sterben. Das zeigt eine im Juli 2020 veröffentlichte Untersuchung zu Risikofaktoren in der Allgemeinbevölkerung und deren Assoziation mit einem Tod durch COVID-19 in der Nature. Williamson et al. analysierten dafür in einer Kohortenstudie Gesundheitsdaten auf Basis von ca. 24 Mio. elektronischen Patient*innenakten des britischen Gesundheitsdienstes NHS im Zeitraum vom 1. Februar bis zum 6. Mai 2020. Nur ein kleiner Teil dieses erhöhten Risikos lässt sich auf medizinische Gründe oder soziale Benachteiligung zurückführen.

Die Autor*innen plädieren für weitere Erhebungen, die auch andere Faktoren wie beispielsweise Beschäftigung, Zugang zu persönlicher Schutzausrüstung, Anzahl der im Haushalt lebenden Personen berücksichtigen. So könne man soziale Risikofaktoren identifizieren, an denen man mit wirksamen Maßnahmen zum Schutz dieser vulnerablen Gruppen ansetzen könnte.

Die Studie besticht vor allem durch die große Studienpopulation, wodurch Demografie, Medikation und Komorbiditäten sehr genau erfasst werden konnten. Allerdings fehlen Daten zu BMI, Vorerkrankungen und Gesundheitsverhalten, wie beispielsweise Rauchen.

Langzeit-Arbeitslose müssen häufiger wegen COVID-19 ins Krankenhaus

Auf Basis der Krankenkassendaten von 1,28 Mio. Versicherten in Deutschland haben Wahrendorf et al. den Einfluss von Arbeitslosigkeit auf COVID-19-bedingte Krankenhausaufenthalte im Zeitraum zwischen dem 1. Januar und 18. Juni 2020 untersucht. Im Vergleich zu Menschen mit regulärer Erwerbstätigkeit haben Langzeitarbeitslose ein 1,94-fach erhöhtes Risiko für einen COVID-19-Krankenhausaufenthalt. Auch bei Bezieher*innen von Arbeitslosengeld 1 (1,29) und Personen, die im Niedriglohnsektor tätig sind (1,33) ist das Risiko erhöht gewesen.

Mögliche Erklärungsansätze für diese sozialen Ungleichheiten: Arbeitsumfeld, Möglichkeit zu Heimarbeit, Wohnverhältnisse, Risikofaktoren und Vorerkrankungen sowie der ungleiche Zugang zu Gesundheitsversorgung. Die verwendeten Daten stammen jedoch ausschließlich von der AOK Rheinland/Hamburg, weshalb sie keine eindeutigen Rückschlüsse auf die gesamtdeutsche Bevölkerung zulassen. Privatversicherte, Studierende, Rentner*innen und nicht erwerbstätige Personen mit erwerbstätigem Lebenspartner wurden ebenfalls nicht berücksichtigt. Auch der große Anteil an ambulant behandelten COVID-19-Infektionen war nicht Teil der Studie.

→ Sie wollen mehr über die aktuelle Studienlage erfahren? Dann empfehlen wir Ihnen den Artikel COVID-19 und soziale Ungleichheit von Anja Knöchelmann und Matthias Richter, der im März 2021 in der Zeitschrift Public Health Forum erschienen ist.

Aktuelles

Das sollten Sie noch wissen

  • “Die einzige Lösung: Weltweit impfen. Alle.” – Der Molekularbiologe Ulrich Elling erklärt im Interview mit der Wiener Zeitung, wie das Virus Sars-CoV-2 mit all seinen Mutationen besiegt werden kann.
  • In unserer letzten Ausgabe haben wir uns mit dem Einfluss des Klimawandels auf die Gesundheit beschäftigt. Seitdem haben wir mehrere Hitzetage und Unwetter selbst erlebt und über unsere Bildschirme beobachtet. Und dennoch scheint der Klimawandel im Alltag oft wie ein fernes Problem. Was uns vor unserer Haustür erwartet, zeigt diese Visualisierung von Klimawandelrisiken auf Kreisebene. Ein Open Data-Projekt von Sebastian Meier und Fabian Dinklage.
  • Hochwasser: Zwölf Menschen sind im Erdgeschoss einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung in Sinzig ums Leben gekommen, weil sie nicht evakuiert wurden. Der Spiegel berichtet. Weshalb behinderte Menschen durch den Klimawandel besonders gefährdet sind, wie sie besser geschützt werden und sich selbst politisch einbringen können, hat Andrea Schöne für Die Neue Norm recherchiert.
  • In Hochwasserregionen werden Spenden benötigt. Eine Liste mit Organisationen, die Hilfe leisten, finden Sie beispielsweise beim Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen.

Ausblick

Upstream entsteht in Halle und Leipzig. Sticheleien, welche Stadt die bessere ist, gehören bei uns praktisch zum guten Ton. In der kommenden Ausgabe beschäftigen wir uns mit der Frage, was eine lebenswerte und gesunde Stadt überhaupt ausmacht.

Kennen Sie Mittel oder Initiativen, die das Wohlbefinden von Stadtbewohner*innen verbessern? Haben Sie im Stadtleben besondere Beobachtungen oder Erfahrungen gemacht? Möchten Sie wissenschaftliche Arbeiten mit uns teilen? Dann schreiben Sie uns gerne eine Nachricht.

Wissen ist Diskurs

Ein wichtiger Teil der Arbeit an diesem Newsletter ist, neben der Recherche und dem Schreiben, die Kommunikation mit Ihnen, unseren Leser*innen. Seit der ersten Ausgabe erhalten wir von Ihnen immer wieder wichtige Anregungen, Hinweise zu interessanten Publikationen und Themenwünsche. Wir versuchen, diese mindestens langfristig zu berücksichtigen. Wenn Sie mit uns in Kontakt treten möchten, freuen wir uns über Nachrichten per E-Mail oder auf Twitter.

Außerdem hat uns der Hinweis erreicht, dass Upstream mittlerweile so etwas wie eine Monatszeitschrift ist, die sich kaum in einem Rutsch durchlesen lässt. Uns ist selbst aufgefallen, dass der Newsletter mit jeder Ausgabe länger geworden ist. Wie finden Sie das? Lesen Sie überhaupt noch bis hier unten? Haben Sie Ideen, wie unsere Inhalte einfacher zu lesen sein könnten? Schreiben Sie uns Ihre Antwort gerne per E-Mail!

Auch in dieser Ausgabe möchten wir uns herzlich bei Ihnen bedanken: Dafür, dass Sie uns als Leser*innen treu bleiben und uns weiterempfehlen und auch dafür, dass so viele von Ihnen sich gemeinsam mit uns Gedanken machen, wie Upstream noch besser werden kann. Wir freuen uns, dass unser Newsletter auf eine so unterstützende und interessierte Community trifft.

Bis zur nächsten Ausgabe!

Anhang

Transparenz

Rund um medizinische Themen sind Transparenz und Vertrauen wichtig. Darum stellen wir am Ende jeder Ausgabe unsere Quellen vollständig dar. Auf der Website ist unser journalistisches Selbstverständnis festgehalten.

Quellen